25. Februar

… einen Katheter, bei dem es sich um ein kompliziertes Röhrchensystem handelt, das dadurch auffällig ist, dass die Röhrchen wie kleine Kuben geformt und angeordnet sind, eine an vielen Stellen geknickte durchsichtige Leitung, in die nun das dickflüssige Sperma einschießt und aber gleich zum Stocken kommt. Ich bin einigermaßen erstaunt über das Prozedere, noch mehr aber darüber, dass ich hier im Wartesaal nicht nur untersucht, sondern gleich auch behandelt werde, obwohl ich doch völlig frei von Beschwerden bin. Die Rothaarige nennt mir eine lange Reihe von Anschlusszügen, doch nach Freiburg fährt keiner mehr. Ich stelle mich am Straßenrand auf, um ein Auto zu stoppen, eine ältere Dame mit Gepäck gesellt sich dazu, winkt umstandslos ein Taxi herbei, und ich frage sofort … ich frage besorgt, ob ich allenfalls mitfahren, mich an den Kosten beteiligen könnte. Die Alte zögert, nein, sie fährt in die Gegenrichtung, und überhaupt hat der Fahrer den Wagen auf der schmalen abschüssigen Straße bereits gewendet. Bleibt bloß der Dieselgestank. Freiburg ist weit. – Liebe Krys, von solchem Schein ist bei dir alles und bist auch du selbst umsonnt, schau hin … schau an dir hinab – es ist ein zugleich erhellender und blendender Schein von vollendeter Zweideutigkeit, ein gleißendes Dunkel, das man … ein transparenter Schatten, den ich neuerdings in deinem Blick wahrnehmen kann. Aber bist du denn auch »das in die perfekte Person gekleidete Subjekt«? Und wo wäre dir, falls es so ist, zu begegnen? Die Schwierigkeit ist wohl eben jene Zweideutigkeit … ist das Uneindeutige, das du auszuleben und auszuweisen hättest. Das ist es … sie ist es, die soviel Missverstehen und Unverständnis aufkommen lässt. Dort vermute ich (vom Vater abgesehen) den Ursprung deiner depressiven Gravitation. Was für ein Imperativ! Exemplarisch und aber individuell sein zu sollen – so kategorisch wie problemoffen! – Beliebigkeit ist für mich kein Schimpfbegriff, im Gegenteil, ich beharre auf der wesentlichen Beliebigkeit der Poesie, möchte auch die Beliebigkeit meiner eigenen Gedichte beliebt machen … möchte deutlich machen, dass das beliebige Gedicht gerade nicht das gängige … gerade nicht das eingängige Gedicht ist, sondern eben das schwierige, das verschlossene, deshalb mehrdeutige oder jedenfalls uneindeutige Gedicht, das sich denn auch beliebigen Lesarten öffnen kann – »beliebig« in dem anspruchsvollen Verständnis, dass der Leser selbst es sich beliebt zu machen hat. Das ist mehr als ein Wortspiel; es bedeutet, dass das Gedicht jedem individuellen Leser, jeder Leserin zu eigen ist; dass es keine vom Autor vorgegebene Bedeutung hat und dass es deshalb auch keine festgeschriebene Lesart gibt. Nimm’s und lies und mach etwas daraus! Was du daraus machst, welchen Sinn du daraus gewinnst, ist allein deine Sache – das Gedicht gibt den Impuls dazu, es will … es soll nicht in erster Linie verstanden werden, denn in erster Linie ist’s, als Sprachding, ein ästhetischer Wahrnehmungsgegenstand. – Bis zum Gehtnichtmehr – hört! – hampelt
aaaaaüberm Trauermarsch das heiterste
aaaaaFalsett. So könnte man mit einem aufgeräumten
aaaaaScardanelli schnell noch meinen
aaaaa»der offne Tag sei Menschen hell mit Bildern«. Weiter
aaaaanichts. Nur dieser helle Tag
aaaaader offensteht für jedes Dunkel. Auch für das
aaaaader Bilder wo sie zweifeln und
aaaaaahnen. Denn jeder Glanz hat wunderbarerweise
aaaaaeinen Trauerrand und wunderbarerweise
aaaaafaselt auch in diesem Marsch
aaaaadie Klarinette. Faselt
aaaaaum das Wunder noch und noch zu beweisen.
– Was einst Stéphane Mallarmé pointiert als boutade festhielt, dass nämlich »verstanden zu werden« für einen Dichter »eine Schande« sei, war damals eine forsche Provokation und ist es heute nicht weniger, da die meisten Textsorten – vom Werbespruch bis zur Slampoetry und zur gängigen lyrischen Rede – darauf angelegt sind, sich auf der Aussageebene möglichst rasch und problemlos zu erschließen. Das Pathos des hermetischen Gedichts, wie noch Paul Celan es gepflegt hat, findet bei jüngern Autoren keinen Nachhall mehr, im Gegenteil, es wird konterkariert durch eine kolloquiale, oft in Ich-oder Wirform vorgetragene Rhetorik, die größtenteils in unmittelbarer Rückverbindung zur gesprochenen Sprache operiert, mit Jargonismen, Dialektismen, Trendwörtern, wissenschaftlicher Begrifflichkeit und privater Idiomatik. Im Unterschied zu diesem üblich gewordenen umgangssprachlichen Lyrikjargon, der sich vorzugsweise an ein Publikum von Gleichgesinnten (Friends, Fans usf.) wendet und mehrheitlich auf performative Darbietungsformen angelegt ist, entwickelt starke Dichtung eine eigene, von der Gebrauchssprache abgehobene Idiomatik, die ihren Kunstcharakter herausstellt und ihre eigene sprachliche Verfasstheit reflektiert. Doch man muss … doch ich will keineswegs so weit gehen, dass ich die sogenannte schöne Literatur auf dunkle Poesie beschränke und ihr alle übrigen Gattungen und Textsorten als bloße Mitteilungsliteratur abwertend gegenüberstelle. Jede Art von Literatur hat ihre Berechtigung und jede Art von Literatur ließe sich, mehr oder weniger stichhaltig, als Beleg dafür heranziehen, was ich hier als Plädoyer für eine Poesie um der Sprache willen vortrage – der Sprache zum Nutzen, der Sprache zuliebe. Das ist ein bewusst elitärer Ansatz, der nicht popularisierend in die Breite wirken, sondern individuelle Leser erreichen und auch individuelle Lesarten ermöglichen will. Man könnte hier … ich würde hier versuchsweise von der natürlichen Künstlichkeit des Gedichts sprechen, dies in Abgrenzung zur heute dominanten Plauder-, Meinungs- und Befindlichkeitslyrik, die aus den USA bestimmend auf die jüngere deutschsprachige, osteuropäische und russische Dichtung einwirkt. Natürliche Künstlichkeit! Schon im delphischen Spruchorakel, Vorspiel aller hermetischen Rede, scheinen Naturhaftigkeit und Künstlichkeit in eins zu fallen: Der Akt des Orakelns wird zwar gemeinhin als Inspiration von oben begriffen, ist aber zutiefst mit der Natur verbunden … ist mit dem Erdreich verbunden, das sich an bestimmten bevorzugten Stellen spaltartig auftut und betäubende Dämpfe oder Quellwasser freisetzt, um so das priesterliche Medium zu spontaner Rede anzuregen, einer zumeist dunklen Zungenrede, die nichts zu verstehen, aber viel nachzudenken, zu rätseln gibt. Sinnbildung statt Erkenntnisgewinn. – »Es wird eine schöne Zeit seyn«, hat einst Novalis notiert, »wo man nichts mehr lesen wird, als die schöne Composition.« – »Schön« und »Composition« unterstrichen. Die »schöne Composition«, mithin das Künstliche am Gedicht ist seine Faktur – die Art und Weise, wie es gebaut, komponiert, instrumentiert, inszeniert ist; mit dem Natürlichen ist natürlich nicht das Naturhafte am Gedicht als Konstrukt gemeint, vielmehr das natürlicherweise Vorhandene – sein sprachlicher Werkstoff, das, was als Baumaterial unverbunden vorgegeben ist durch das Wörterbuch, die Grammatik, den aktuellen Sprachgebrauch, die literarische Tradition. »Alle andre Bücher«, so präzisiert Novalis in seinem ›Allgemeinen Brouillon‹ mit sanfter Spitze gegen berichtende, unterhaltende, lehrhafte oder politisch engagierte Literatur – : »Alle andre Bücher sind Mittel.« Mittel zur Mitteilung von etwas anderm als der »schönen Composition«. – Nachdem das Eis weggetaut und nur der Straßendreck zurückgeblieben ist, beginnt es nun unversehens – keine Prognose hat’s angekündigt – erneut leicht zu schneien; noch schaukeln die Flocken vereinzelt nebeneinander durch die diffuse Luft, doch sie verdichten sich sichtlich, als würden sie von einem höheren Willen zusammengerauft, um all den Schmutz, der da offen herumliegt und alles verklebt, gleich wieder in untadeliger Weiße zu versenken. – Auf 3sat wird grade eine Tiersendung über den »Floh als Wunderwerk der Natur« gezeigt, mit eindrücklichen Nahaufnahmen, Experimenten, Kommentaren. Hat nicht schon Lukrez am Beispiel des Flohs über das Kleinste im Kleinen meditiert? Damals noch ohne Mikroskop, ohne fotografische Veranschaulichung, dafür mit exakter Fantasie!

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