Dagmara Kraus: Zu Inge Müllers Gedicht „Himmel und Hölle (Freunde 3)“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Inge Müllers Gedicht „Himmel und Hölle (Freunde 3)“ aus dem Inge Müller Archiv in der Akademie der Künste. 

 

 

 

 

INGE MÜLLER

Himmel und Hölle
(Freunde 3)

Himmel und Hölle auf die Straße gemalt
Das warst du
Ich sah zu
Mir war der Himmel zu klein
Mit der Wunde am Bein
Für mich hast du den Zweihimmel gemacht
Ich hab drei Küsse gezahlt.
Und alle Kinder im Haus
Lachten dich und mich und den Zweihimmel aus.

 

Zweidichten im Singual

– Inge Müllers „Freunde III“ als Metapher. –

Kain kann nicht in Abel übersetzt werden. Abel aber auch nicht in Kain. Kein Quadrat würde durch Übersetzung zum Kreis, kein Kreis zum Quadrat. Übersetzen hat Grenzen und dies gilt stärker noch für die unlängst gern universell angewandte Übersetzungsmetapher. Denn es ist keineswegs so, dass alles in etwas anderes übersetzt werden könnte, wie es oft heisst, oder überhaupt alles Übersetzung wäre, oder, frühromantisch: alle Poesie Übersetzung – eine in seiner poetologischen Dichte zwar unübertroffene, gleichwohl schier kokette Überdehnung zweier ohnehin ausgeleierter Begriffe, die man jenseits dergleichen Bonmots wohl eher eng fassen sollte, um sie zu fassen und um sie abzusetzen gegen die verwandten „Lyrik“, „Nachdichtung“ und „Übertragung“. Ob sich ein Gedicht nun in eine Metapher übersetzen ließe – eine Metapher für das Übersetzen? Ein Versuch.

HIMMEL UND HÖLLE
(Freunde 3)

Himmel und Hölle auf die Straße gemalt
Das warst du
Ich sah zu
Mir war der Himmel zu klein
Mit der Wunde am Bein
Für mich hast du den Zweihimmel gemacht
Ich hab drei Küsse gezahlt.
Und alle Kinder im Haus
Lachten dich und mich und den Zweihimmel aus.

Inge Müllers Gedicht greift ein uraltes, weltweit bekanntes Kinderhüpfspiel auf, das „Kästchenspiel“ oder „Paradiesspiel“, im deutschsprachigen Großraum auch „Tempelhüpfen“ oder „Hickelkasten“, Der „Himmel“, der in der zeitgenössischen säkularen Variante auch schlichter als „Ziel“ oder „9“ (d.h. 9. Kästchen) bezeichnet wird, bildet seinen Schlusspunkt und krönt ein heute meist kreidenes Sprung-Diagramm, das sich je nach Weltgegend unterschiedlich darstellt. Allen Versionen ist allerdings gemein, das auf ein Ziel hingehüpft wird und eben dieses wird im Gedicht durch einen Lachen auslösenden Trick umgangen oder vielmehr ,umsprungen‘ und erweitert, da verdoppelt und das Double vergrößert. An der Stelle im Gedicht, wo dem ersten Kreidehimmel der „Zweihimmel“ an die Seite gemalt, „gemacht“ wird (wie ein Gedicht eben oder die Zürnsche Liebe), verwandeln sich die Verse in eine Metapher.
Alle Übersetzung scheint mir gewissermaßen diesem „Zweihimmel“ vergleichbar, denn sie kann, wo gelungen, wie die eigenmächtige Erweiterung eines Spiels begriffen werden, wie dieses irgendwie unrechtmäßige, weil ja ursprünglich nicht vorhandene, also eigentlich nicht angelegte zusätzliche Hüpfkästchen; auch sie ein analoger Annex, ein wunderliches Simile und überraschender Überschuss am Schluss einer Kette; ein echoendes Kontinuum von etwas bereits Abgeschlossenem; ein witziger Kniff, findiges Ausweichmanöver und gastfreundlicher Parallelraum; ein notwendiger Pleonasmus; eine (aus Sicht des Wiederholten) schiefe Wiederholung, auf welche das von Gérard Genette gebrauchte Kompositum „semblablement-mais-différemment“1 zu passen scheint, zugleich herleitbar, wie nicht herzuleiten. Und diese vielleicht halbrunde, vielleicht eckige Sprechblase am Kopf des Kreiderasters ruft zum Kind: „Springe in mich!“ Handelte es sich um ein Emblem, räusperte sie sich:

Auch ich bin ein Himmel.

Wenn der erste, der eigentliche Himmel zu klein geworden ist, da nur eine Originalsprache darin Platz hat, nur ein Autor, eine Autorin, ein einziger Text – der Urtext –, ein Mitspieler oder eine Mitspielerin ihn jedoch mitspringen will, muss eine solche Erweiterung her, zumal, wie im Gedicht, der hinzukommende Spieler – in unserem Kontext also der Leser, der die Sprache des Originals nicht beherrscht – versehrt ist und, wie aus dem Vers zu schließen, vermutlich mit einer Bandage versehen, weshalb er kaum Platz finden kann in dem einzigen Himmel. Die Erweiterung ist jedoch nicht aus der Not geboren: Für den einen Spieler, für die eine Sprache, den einen Autor war ja Platz genug vorhanden; und er war sich theoretisch selbst genug. Der „Zweihimmel“ entstand vielmehr aus der Notwendigkeit, sich für einen hinzukommenden Zweiten zu öffnen; Resultat dieser Öffnung. Schließlich wollte nicht gewartet werden, dass die Wunde heile, kostbare Kindheitszeit verwartet, sondern augenblicklich gesprungen und mitgehüpft.
Der „Zweihimmel“ ist die Volte des Gedichts, unerwartet, unerwartbar. Seine Erfindung brüskiert, weil sie das Spiel in seiner regelhaften Verfasstheit spontan sprengt, weshalb er im Gedicht auch jäh Lachen auslöst – oder besser: Freude, Freude unter den Freunden, die hier titel- bzw. untertitelgebend sind.2 So bringt dieser emergente Neuhimmel die ursprüngliche Anordnung plötzlich in Unordnung; er wuchert, parasitiert auf ihr – als para-site und damit Nebenschauplatz, mimetische Alternative zum ersten. Und der bei Müller den „Zweihimmel“ malt, das verliebte ,DU‘, ist der Paraklet im Gedicht, der das Wunderkästchen, das auch ein ,Wundenkästchen‘ ist, ins Gedicht setzt. Zugleich ist er ein Aufrührer, ein sanfter, der mit seiner Gegenfigur den Sprung zur Seite einfordert: beiseite zu springen, in eine Nebensprache hinein, an einer Weggabelung, die nur für diesen einen Sprung bestimmt war.
Wie dieser in das als lyrisches Ich sprechende Mädchen verliebte Junge aus dem Berliner Hinterhof der Müllerschen Kindheit sind alle Übersetzer Zweihimmelsmaler. Gleichzeitig ähneln sie ein bisschen auch der Mitspielerin „mit der Wunde am Bein“, weil sie im Angesicht des Originals stets wie an einer Wunde laborieren: Nicht Autor des Textes zu sein, an dem sie trotzdem – und manchmal ganz wie Autoren – teilhaben wollen.3
Nie dem Einen angehören zu können, sondern immer einem Zweiten, nicht dem Identischen, sondern a priori immer einem Anderen, nicht dem Text, sondern seiner Übersetzung – oder, unter Anwendung der Müllerschen Grammatik: niemals dem ,Einshimmel‘; ein im Stillen erlittenes Drama von Übersetzern. Was beim Übersetzen besonders wehtut ist, dass man sich dieses unerreichbare, ersehnte Eine dennoch mit aller Kraft einverleiben will. Der Vielübersetzer Giacomo Leopardi verrät dies in einem Brief an seinen Freund Pietro Giordani:

Dès que je connus le beau, les poètes seuls me donnèrent un désir extrême et ardent de traduire et de faire mien ce que je lisais.4

Sich das Gelesene mittels Übersetzung anzueignen, aus ihm „seins“ zu machen, nicht bloß aus einer vagen Lust am Text, sondern aus „extremem Verlangen“, also schmerzlichem Verlangen. Wenngleich die Wunde sich selbst im Übersetzungsfall nicht geschlossen haben wird, kann sie in Gestalt übersetzerischer Nachsprache immerhin verarztet werden.
„Zweihimmel“ ist nicht gleich „Zweithimmel“. Natürlich ist hier bewusst kindliches Sprechen im Spiel und darum keine Verlässlichkeit hinsichtlich grammatikalischer Richtigkeit gegeben. Aber auf dieses „T“ kommt es an oder vielmehr auf sein Fehlen im letzten Gedichtvers. Ohne zu wissen, was Jean Paul wohl von einem „Fugen-T“ im Deutschen gehalten hätte, fällt seine Abwesenheit sogleich auf, besonders weil das Zahlwort „zwei“ intuitiv und Wortbildungsregeln zufolge gewöhnlich anders flektiert werden sollte, um ein Kompositum zu integrieren (wie etwa in „Zweitsprache“ oder „zweitplatziert“). Anders als Komposita mit der Vorsilbe „Zweit-“ verweist „Zweihimmel“ nicht auf etwas Schlechteres, meint keine Kopie, kein Imitat des ersten, wiewohl es diesem als Nachkommendes auch nicht gleichwertig sein kann. Als „Zwei-“ hat es seine eigene Berechtigung, wie alles Zweite (das ja keine Schuld trifft an der Entfaltung der Zeit, die es mit dem Zwei-Sein ,strafte‘). Müller verzichtet auf das T und macht das Falsche, den Fehler produktiv, wobei gerade aus dem Moment der (inszenierten) Naivetät die Poesie dieses Textes entsteht.
Selbst wenn wir die Kreidezeichnung nicht kennen – sofern es sie im Vorfeld des Gedichts tatsächlich gegeben hat, scheint „Zwei-“ immer etwas mehr zu sein, als nur Ableitung, die mit dem Wort „Zweithimmel“ bedeutet würde; „zwei“ – von zwi, wie in ,Zwilling‘ oder ,Zwist‘, im Gedicht Freude, Freunde. So ist der „Zweihimmel“ der ,Himmel des Himmels‘, wie der Übersetzer nach Novalis der „Dichter des Dichters“.5 Übersetzte man dieses Aperçu wiederum in Müller, d.h. Novalis in Müller, könnte man sagen: Der Übersetzer ist der „Zweidichter“ und ein übersetztes Werk dem im Gedicht auf die Straße gekritzelten Spiel gleich eine Art intelligenter Doppel- oder Januskopf – aber nicht eine (text)genetische Fehlleistung oder ein zerberussischer Höllenschreck, im Gegenteil; der als Einladung an einen Anderen entstandene Plural – Paraplural eines Textes, seine eineinhalbte Person Paraplural, sein „Singual“.
In der Wirklichkeit der Hinterhöfe, wo die Übersetzer wohnen und sowohl dem himmelnden als auch dem zweihimmelnden Blick frönen, liebt man vielleicht jemanden in der Ferne und malt sich seinen Zweihimmel daher zunächst für sich selbst; das Spiel, ein einsames Spiel. Nicht nur hat der Übersetzer im Autor meistens keinen Komplizen, aber er hat ja auch keinen Mitspieler, den er in seinem Arbeitspräsens immer verpasst. Der nämlich kommt erst viel später hinzu, und zwar wenn das Diagramm bereits der Straße, der Sprache überantwortet wurde. Dann fallen vielleicht Kinder darüber her, manche zeitgleich mit dem einen Fuß links und dem anderen Fuß rechts in „Himmel“ und „Zweihimmel“, Hölle-Erde-Himmel, Hölle-Erde-Himmel+Zweihimmel… Man wird es ihnen nicht ankreiden.
Den Inge Müllerschen ausgenommen, halten „Zweihimmel“ in der Regel bis zum nächsten Regen. Und der kommt bestimmt, dann verfließen Erde mit Himmel und Hölle. Aber die Küsse, die bleiben aus.

Dagmara Kraus, aus Michael Braun / Hans Thill (Hrsg.): Aus Mangel an Beweisen. Deutsche Lyrik 2008–2018, Wunderhorn Verlag, 2018

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