Edmond Jabès: Das Gedächtnis und die Hand

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Edmond Jabès: Das Gedächtnis und die Hand

Jabes/Masé-Das Gedächtnis und die Hand

UMGESTOSSENE STELE

„Schwärze und Helle der Welt
haben, als Ursprung, den selben
Mord“, sagte er.

Gleißende Tiefe,
deren Geisel die Sonne ist

 

 

 

Unterwegs zum einen Buch

Im Spätherbst 1990 hat Edmond Jabès sein handschriftliches Lebenswerk – die Gesamtheit seiner literarischen Manuskripte – der französischen Nationalbibliothek übergeben. Was er damals, mit der ihm eigenen Schlichtheit, als bescheidene „Gabe“ bezeichnete, ist inzwischen zum Nachlaß geworden, zu etwas für immer, für alle Losgelassenem, Freigegebenem, das durch keinerlei Gegengabe abgegolten werden kann, es sei denn durch jenen größten, jenen anonymen Dank, der für den Schriftsteller darin besteht, gelesen zu werden und so, postum, zu überleben im Text: als Text.
Der Autor schreibt, solange er schreibt, um sein Leben; und was er schreibt, ist sein Leben – nämlich die Wirklichkeit des Buchs, die erst im Akt des Lesens – durch den Leser – Gestalt, Bestand gewinnt und dennoch nie vollendet, fertig sein kann. Das Leben des Buchs, nicht anders als das Buch des Lebens, bleibt offen, ist nur in seinem Werden zu begreifen. „Ich entdeckte das Buch in dem Maß, wie ich es niederschrieb“, hat Jabès in einem Gespräch einst festgehalten:

– es ist gleichsam ein unablässiges Beginnen kraft der Schrift. Jedes Wort hat sein Eigenleben, und mein eigenes Leben hat Anteil am Leben der Worte. Wenn man sagt, daß das Buch uns verwerfe, ist dies unrichtig. Es verlangt von uns lediglich, daß wir es reden lassen.

Am 2. Januar 1991 ist Edmond Jabès in Paris, wo er seit 1957 – nach seiner Ausweisung aus Ägypten – als Fremder zu Hause war, im Alter von 79 Jahren gestorben; seine zahlreichen Bücher, die gerade wegen ihrer Offenheit sich zu einem Buch zusammenschließen und als solches gleichwohl unabschließbar bleiben, reden weiter, sie reden um so vernehmlicher jetzt, da der Autor das Seine gesagt hat und sie – die Bücher – nun „endlich sich selbst ausdrücken“ können. Schon immer war Jabès, beim Schreiben, davon ausgegangen, daß nicht der Autor, vielmehr die Sprache „etwas zu sagen haben“ müsse, damit das Buch entstehen, der Text lesbar, hörbar werden könne. Der Text ist also nichts Abgeleitetes, auch nichts Gemachtes; der Text ist das, was aus dem Schweigen – entgegen dem Schweigen – sich ausspricht. Für Jabès war es nicht bloß eine Schreiberfahrung, es war eine Lebenserfahrung, „daß man sich niemals besser ausdrückt als dann, wenn man schweigt, um die Schrift reden zu lassen. Immer dann, wenn man sie einem Zwang aussetzt, verrät man sie.“ Niemals – so darf man daraus vielleicht schließen – drückt der Autor sich deutlicher aus als dann, wenn er definitiv verstummt; erst nach seinem Tod (und durch ihn) kann er gegenwärtig werden in der Schrift.
Jüdisches Sprach- und Weltverständnis verbindet sich bei Jabès mit dem Selbstverständnis des Schriftstellers; dessen also, der die Schrift stellt und der im Gestell der Schrift die Bleibe findet, die ihm draußen – im Leben – fehlt. Aus dem Zeichen, dem Schriftzeichen erhebt sich die Stimme des Stummen.

Die Zeit des Juden, der das ,bereits da‘ bekräftigt, wo er seine unabwendbare Zukunft aushebt, ist bemessen nach der gelebten Zeit seines Texts… Sein Text ist lesbar nur wegen der Unlesbarkeit des göttlichen Buchs, in die er eingraviert wurde.

Die Leere, die Weiße, das Nichts – das sind die Vorstellungsräume, mit denen sich bei Jabès das Schweigen verbindet; und der Tod; und auch Gott. Aber nicht als ein Letztes – das Schweigen ist Abgrund und Quelle zugleich, wie auch Gott; und der Tod. Zwiespältiger Ort, wo das Wort laut wird, wo die Stimme als Schrift sich erhebt. Ort der Konflikte; denn dort „lehnt das Leben sich gegen den Tod auf, das Denken gegen das Ungedachte und das Buch, das geschrieben wird, gegen das Buch, das geschrieben ist.“
Das Buch? „Es gibt bei Edmond Jabès, wie bei Mallarmé, so etwas wie den Willen, zu einem einzigen Buch zu gelangen, in dem alles zusammengefaßt wäre“, hat einst Michel Leiris notiert. Doch nicht der „Wille“, schon gar nicht der Wille zum Ganzen – als Zusammenfassung – war für Jabès Beweggrund des Schreibens; er schrieb, ex negativo, an jenem einen Buch, das nur als ungeschriebenes ein ganzes sein kann, das folglich keineswegs zu einem „Gegenstand“ des Willens, auch nicht des Wissens taugt, das nicht transitiv geschrieben wird, sondern intransitiv – indem es wird – sich schreibt. Man kann das eine Buch nicht wollen, man kann nur daran glauben, kann hoffen, daß es werde, was es – schon immer – gewesen ist. „Man muß an das Buch glauben, um es zu schreiben. Die Zeit der Niederschrift ist die Zeit dieses Glaubens. – Ich glaube. Ich schreibe; glaubt aber“, fragt Jabès, „das Buch an mich?“
Nicht das Buch muß vor dem Autor, der Autor muß vor dem Buch bestehen, ihm entsprechen können. Aber solche Entsprechung läßt sich nicht herstellen; sie ergibt sich einzig dort, wo der Autor – statt jenes eine Buch zu schreiben – sich einschreibt in ein Buch, das nie zu Ende geschrieben sein wird, „weil an dem Tag, wo wir es gemacht haben würden, nichts mehr wäre… es wäre der Tod“.
Edmond Jabès ist tot; sein Werk liegt hinter ihm – vor uns liegen rund zwei Dutzend Bücher, die zu lesen (lesbar zu machen) sind: Die Zukunft des Autors gehört uns. Werden wir ihm – und ihr – gerecht?

Felix Philipp Ingold, Nachwort

 

„Das unerträgliche Bild einer Rauchwolke“

– Edmond Jabès und die Sprachen des Exils. –

Edmond Jabès stammt aus Ägypten, und er stammt aus dem Volk, das dort sein erstes langes Exil überlebte, dem jüdischen. Anders als der Diasporajude scheint der ägyptische nie die Illusion gehegt zu haben, aus dem Exil – einmal wenigstens und daher als Verheißung erinnerungsträchtig – heimgekehrt zu sein. Er hat die Wüste immer noch vor sich, ihre Steine, ihren Durst, die jähen Schnitte zwischen Tagesglut und eisiger Finsternis, übergangslos. Die Ahnung dieses Wüstenwegs, dieses immer noch zu gehenden, gibt den Texten von Jabès ihren geradezu physisch spürbaren Grund.
Aber was der Jude hatte und hat, ist seine Schrift, diese Quadratschrift, die noch die Spur davon in sich trägt, daß sie einmal in Stein gegraben war, und die gleichermaßen von den Fingern wie von den Augen entziffert werden will. Die Schrift, die auf einen, der sie liest, angewiesen ist, weil sie nur aus solchen Lettern gebaut ist, die in unserer Sprache Mitlaute heißen, das aus sich Lautende ihr also fremd ist: Schriftsprache, die immer der Ergänzung bedarf durch einen, der sie laut werden läßt, wobei dieselbe Buchstabengruppe verschieden lautet, je nach dem Sinn, den sie bezeichnet, so daß Sinn und Gegensinn, Heiliges und Profanes in einem Wort sich finden können. Und es gibt die zwei stummen Laute, das Aleph und das Ayin, die vermutlich einmal Kehl-, Gurgel- oder Preßlaute waren und wie erstickte Schreie geklungen haben müssen. Sie sind das Rätselhafteste dieser rätselhaften Sprache – selber stumm, können sie Träger jeglicher Vokalisierung sein, als wären Schreie nur erträglich in der Übersetzung, und zugleich hat der stumme Einsatz des Alphabets die spekulativen Geister der Kabbalisten dazu geführt, im Aleph die einzige Verlautbarung Gottes zu vernehmen, die bis zum Bersten mit Sinn gefüllte Leere der bloßen Aspiration. Ich spreche von der Schrift der Juden, und ich spreche zugleich von der Dichtung Edmond Jabès’. Sie ist die unendliche Übersetzung dessen, was in der schreienden Leere des Aleph enthalten ist, der Versuch, dem stummen Laut immer neu Stimme zu geben, ihn zu vokalisieren. Sie handelt von Wörtern, die auf Wörter verweisen, sie schlägt die Wörter geradezu frei, wie aus Stein, sichtbar an den Vereinzelungen auf dem Papier, um sie begreifbar zu machen in ihrer Einzigartigkeit und zugleich darin, daß sie immer der Ergänzung bedürfen durch den, der sie liest. Und die Wörter werden buchstäblich um und um gewendet, so daß noch auf die verborgensten Seiten dieser uralten Wesen, dieser Überlebenden, ein Licht fällt, bis vielleicht in letzter Konsequenz noch ihr Widerschein erscheint. Das ist die Praxis der Talmudisten und Kabbalisten.
Jabès hat immer nur an einem Buch geschrieben; auch wenn seine vielen Bücher verschiedene Namen tragen, schreitet er fort vom Buch zum Buch, wie der Titel der von ihm selbst getroffenen Auswahl aus seinem Gesamtwerk für den deutschen Leser lautet. Ein Buch, das, gleichgültig wo wir es aufschlagen, immer ad vocem spricht, zum Thema. Damit ist an die Oberfläche des Textes geholt, was die rabbinischen Ausleger jedem Satz der Tora – und seien es die langatmigen Geschlechterregister – nachsagen, daß nämlich immer nur von Einem die Rede sei, wenn man die Wörter und Buchstaben nur lang genug befrage, zerlege, umsetze.
Von den Titeln her läßt sich am siebenbändigen Zyklus des Buchs der Fragen auf die Verfahrensweise schließen. Da ist von einem Yukel die Rede, der die Inkarnation eines hebräischen Verbs sein mag, das ineins „können, vermögen“ und „ertragen“ bedeutet. Da ist von Yaël die Rede, die allein in ihrer Hütte den Todfeind ihres Volkes erschlug. Im nächsten Buch sind die Buchstaben vertauscht und ist aus Yaël Elya geworden: elle-y-a, es gibt sie: namenloser Name. Wieder ein Buch weiter wird der letzte Buchstabe zum ersten und es ergibt sich Aely: zu Eli, meinem Gott, oder für ihn. Der letzte Titel im Buch der Fragen heißt nur noch El, also Gott, der zugleich, übers französische Elle, ein weiblicher ist, oder er bezeichnet den Buchstaben L, Anfang von lettre und livre, oder er verweist auf dessen hebräische Version, das Lamed, dessen Konsonanten wiederum ein Verb sind, das „lehren“ und „lernen“ heißt, aber auch „stechen“ und „sticheln“. Solche lettristischen Spiele gehören zum Bestand der literarischen Moderne, und sie haben bei Jabès doch auch ihren Grund in den jahrhundertelangen Lese- und Auslegungspraktiken der Rabbiner, insbesondere der kabbalistischen. Einer ihrer Theorien zufolge sind die Wörter der Tora alle falsch zuammengesetzt oder falsch abgeteilt. Erst in einer unabschließbaren Kette von Transformationen und Permutationen ist es möglich, dem Einen Namen sich näherzufragen, der unter allen Lettern verborgen ist. Bei Jabès heißt es einmal: „Das Buch verbirgt sich im Buch.“ Ist aus dem Einen, El, also geworden, was er immer war: Buch?
Blicken wir auf die Seiten, so sehen uns die Namen unzähliger Rabbis an, die ebenso viele Fragen stellen in der Form chassidischer Sprüche. Das erinnert an die Seiten von Mishnah und Midrash, auf denen die Rabbis über die Jahrhunderte ihren imaginären Dauerdialog führten über die Auslegung der Schrift. Aber die Namen bei Jabès erinnern nur noch an die alten Namen, tragen nur noch deren Form. In diesen Namen haben die Schriftzeichen buchstäblich Gestalt angenommen – Reb Lamed, Reb Kob – oder Haupt- und Tätigkeitswörter bekommen eine Stimme – Reb Bosh, die Scham, Reb Sofer, der Schreiber, Reb Daher, Wort und Sache –, und wieder andere Namen geben ihr Geheimnis nicht preis, wie die Namen der Namenlosen. Was die Fragenden Seite um Seite verhandeln, was sie klären, im jiddischen Sinn des Wortes, hat aber ein anderes Zentrum als das der Tradition – vielleicht können wir es ein dezentriertes Zentrum nennen. Manchmal gibt es Ansätze zu einer Geschichte, zu der Liebesgeschichte von Yukel Sérafi und Sarah, die nur eine Leidensgeschichte sein kann. Es ist eine Geschichte, die hinter den Wörtern kurz aufscheint und wieder verlischt, weil, wie es heißt, „das Wort zwischen die Geschichte tritt“. Eine unerzählbare Geschichte, eine Geschichte aus Spuren, die sich zu keinem Bild zusammenfügen, geschrieben von einem, der manchmal, selten genug, „Ich“ sagt und hinzufügt: „ich, der von mir Abwesende“.
Die Geschichte ist unerzählbar, aber sie ist unübersehbar und unüberhörbar. Der Schlüssel zum Buch der Bücher war Gott, der Schlüssel zu dem im Buch verborgenen Buch von Edmond Jabès ist Auschwitz. Jabès nennt sich selbst, in einem Gespräch mit Marcel Cohen, einen Überlebenden, denn hätten, sagt er, Rommels Truppen in Afrika gesiegt, so wäre das Schicksal der orientalischen Juden das der europäischen gewesen. Jabès begreift Auschwitz als einen Anfang – Anfang auch im Sinne der Pervertierung des biblischen ,Im Anfang‘, „Bereshit“ –, einen Anfang, der unser gesamtes Denken und Fühlen in Frage gestellt hat, von woher es neu zu denken ist. Die Fragetechniken und Leseweisen seiner Vorväter gaben ihm dazu die Ansätze, die von keiner Antwort der Schlächter erledigt worden sind.
Edmond Jabès wurde 1912 in Kairo geboren, das er 1957 verlassen mußte. Er ging nach Paris, wo er mit Paul Celan befreundet war. Der Sepharde und der Ashkenase. Sie sprachen in einer der Sprachen des Exils, dem Französischen, hatten aber die eine gemeinsame, vorexilische Sprache und sprachen von dem, woraus sie lebten und nicht lebten. In den Erinnerungen von Edmond Jabès an Paul Celan heißt es:

Wörter: Steine, von schwermütigen Geistern auf den Marmor nichtexistierender Gräber gelegt; auf Erden ist aller Schmerz der Welt. – Wörter: sterbliche Überreste eines endlosen Schreckenstages, von dem nichts blieb als das unerträgliche Bild einer Rauchwolke…

Klaus Reichert, Neue Rundschau, Heft 2, 1990

Schreiben, erzählen

– Gespräch mit Marcel Cohen. –

Marcel Cohen: Roland Barthes hält fest, das ganze Problem des Schreibens ergebe sich daraus, daß das Wort schon immer eine bestimmte Bedeutung hat, wenn der Schriftsteller sich seiner bemächtigt. Auch Sie sagen nichts anderes, wenn Sie jenes „grundsätzlich Unvereinbare zwischen dem Menschen und seinem Wort“ hervorheben, welches Distanz schaffe, oder wenn Sie die Wörter für schreiben und erzählen zu ein und demselben Wort – jedoch mit umgestellten Buchstaben – verschränken (écrit/récit) und damit deutlich machen, daß „allem Geschriebenen ein Anteil von Erzähltem“ innewohnt. Was aber hat es mit dieser Spaltung auf sich, welcher der Schriftsteller sich doch immer wieder anheimzugeben sucht?

Edmond Jabès: Man kann nicht schreiben, ohne zuvor die Worte zum Schweigen zu bringen, die uns bewegen. Das weiße Blatt ist auferlegtes Schweigen. Auf diesem Schweigegrund wird der Text geschrieben.
Im übrigen ist auch die verbale Inflation, der wir tagtäglich ausgesetzt sind und die letztlich nurmehr gewichtslose Wörter hervorbringt, darauf angelegt, den Schriftsteller zum Schweigen zu bringen.
Einerseits also bringt der Schriftsteller, der seiner eigenen Sprache lauscht, die störenden Wörter, denen er ausgesetzt ist, zum Verstummen; andererseits sind es dieselben freiheitstrunkenen Wörter, welche ihn hinaus ins Schweigen zwingen.
Aus solch zwiefachem Schweigen wird eine umso pathetischere Sprache erwachsen, als diese die zwiefache Gefahr, die auf ihr lastet, verspürt. Das ist es, was ich als die Sprache, als „das Sprechen des Buches“ bezeichnet habe. Ein von jeglicher Sprache unberührtes Sprechen; ein Sprechen vor und nach der Sprache. Solches Sprechen ist des Schriftstellers einzige Heimsuchung.

Cohen: „Das Wort“, sagen Sie, „ist ans Wort gebunden; niemals jedoch an die Dinge.“ Wo beginnt für Sie diese Trennung zwischen Worten und Dingen?

Jabès: Ich wollte damit sagen, daß die Dinge – wie natürlich auch die Lebewesen – im Buch einem All von Vokabeln angehören: ihrem eigenen Universum, in welchem sie Raum greifen. So findet sich denn die Welt im Buch. Die Erfassung des Alls geschieht durch Wörter, und sehr rasch wird uns klar, daß diese Erfassung nichts anderes ist als unsere zunächst unbewußte, dann hingenommene Metamorphose ins Wort. Wir selber werden zu dem Wort, das dem Ding und dem Wesen Wirklichkeit verleiht. Schreiben heißt immer, sich an dieser Wirklichkeit messen, um sie bestehen zu können. Alles ist schließlich real, und kraft dessen sind wir es auch.

Cohen: Einst berichteten Sie mir, Sie hätten als Kind nicht verstehen können, weshalb man Ihnen unbedingt die Rechtschreibung beibringen wollte; Sie hätten damals nicht begriffen, wie sehr ein Buchstabe – ob einer zu viel oder einer zu wenig – sich auf die zu benennende Sache auswirken kann. Heute nun hegen Sie eine derart angestrengte, eine derart angstvolle Aufmerksamkeit gegenüber dem Wort, als stünde – in den Wörtern – die Welt auf dem Spiel. „Ein Buchstabe löst sich aus unserem Namen, und schon gibt es uns nicht mehr“, sagen Sie, wobei Sie sich der jüdischen Tradition einordnen, welche die immer wieder von Hand abgeschriebene Thora für unbrauchbar hält, wenn auch nur ein einziger Buchstabe ausgelassen oder verformt wird. Wovon geht dieses Bewußtsein aus? Welches ist sein Werdegang?

Jabès: Das Kind stellt Wörter her. Jene, die es den Erwachsenen abgelauscht hat und die ihm vertraut geworden sind, schreibt es gewöhnlich – wenn es das Alphabet kennt – so auf, wie es sie hört. Die Wörter lassen ihm sein Universum bewußt werden. Es kann sich nicht vorstellen, daß die Sprache, mit der seine Freiheit verbunden ist, voller Zwänge sein soll. Das erste von einem Kind niedergeschriebene Wort ist ein Wort des Sieges, das Wort seines Sieges. Es wird dieses Wort möglichst lange verteidigen, und wenn man es dereinst dazu anhalten wird, dieses Wort den Regeln entsprechen zu schreiben, wird es darüber zutiefst enttäuscht sein. Der Sieg des Kindes wird sich in eine Niederlage verwandelt haben. Erst viel später wird das Kind nachgeben und sich schließlich bereitfinden, die Rechtschreibung zu respektieren: es wird die Notwendigkeit erkennen, sich verständlich zu machen und gelesen werden zu können.
Gelesen werden zu können. Da liegt der Ausgangspunkt. Was aber wird lesbar? Der Text, das Wort im Text, der Text im Wort, will sagen: alle Wörter im Wort und, vermittels ihrer, der unaufhörliche Schwarm von Zweifeln und Wagnissen, von Befragungen und Bejahungen, für die der Schriftsteller einsteht, weil sie stets, in erster Linie, die seinen sind? Aufmerksamkeit gegenüber der Sprache ist Aufmerksamkeit gegenüber sich selbst. Von daher rührt die Aufmerksamkeit, die der Schriftsteller der Form der Wörter zuwendet ihrer Lautgestalt ihrer Art und Weise, andere Wörter hervorzurufen oder zu verwerfen. Immer gibt es ein insgeheim unter dem Wort lebendes Wort.
Deshalb könnte jeglicher Eingriff in die Orthographie unvorhersehbare Folgen haben. Damit sind viele Schriftsteller spielerisch umgegangen. Mein Spiel ist das nicht. Unvorsehbare Folgen in der Tat – denn nicht allein der Text wird in seiner ursprünglichen Lesbarkeit verändert, sondern auch das Wort, da es von keiner andern Vokabel mehr etwas zu erwarten hat. Es gibt wenn auch nicht immer Solidarität, so doch zumindest eine gewisse Dankbarkeit des Wortes gegenüber dem Wort und für das Wort, eine Dankbarkeit, welcher der Schriftsteller niemals zuwiderhandeln soll.
Die Kunst des Schriftstellers bestünde also darin, die Anziehungskraft des Wortes für das Wort wirksam werden zu lassen, ohne freilich in die Klischeehaftigkeit zu verfallen, von der es bedroht ist.
Aber ich möchte zurückkommen auf das, was wir mit Bezug auf das Kind gesagt haben. Das Kind glaubt Wörter zu bilden, durch die es sich restlos ausdrücken kann; vollkommene Wörter also. Seine Enttäuschung ist umso größer, als es sie in Zweifel gezogen sieht durch eben jenen Erwachsenen, dem es sie zugedacht hat. Es macht den Anschein, als unterwerfe das Kind unbewußt das Wort einer Metamorphose, indem es Vokale oder Konsonanten, von denen es bezaubert oder abgestoßen ist, hinzufügt oder fortläßt. Es stellt Wörter her, welche mit dem Bewußtsein, das es von den gleichzeitig durch Ohr und Auge erfaßten Dingen gewonnen hat, ganz und gar übereinstimmen. Teilt mit dem Kind nicht auch der Schriftsteller, wiewohl auf merklich anderen Pfaden, dasselbe Bestreben, wenn er dem Wort erneut die Fülle des Sinns zu verleihen sucht? Einen Sinn allerdings, dem gegenüber er eine sehr weitgehende Freiheit wahrt.

Cohen: Sie lieben jene Vokabeln, welche von nichts anderem künden als von der Unmöglichkeit, sich die Dinge anzueignen, wegen der „leidenschaftlichen Spiele“, auf die ihre Natur schließen läßt. Man hat den Eindruck, daß für Sie die Liebe zu den Wörtern darin besteht, ohne jede Hoffnung – in einer Art unmöglicher Rückkehr zur Einheit – dem nachzuhängen, was sie benennen.

Jabès: Sie künden lediglich von der Unmöglichkeit, sich die Dinge anzueignen, weil es die Wirklichkeit nicht gibt; weil die Wirklichkeit womöglich nur jene Abwesenheit von Wirklichkeit ist, welche die Wörter in ihrer Unfähigkeit sie dingfest zu machen, hervorheben; sie dingfest zu machen – für ein Wort würde dies etwa soviel bedeuten wie der Versuch, seine eigene Wirklichkeit zu umschreiben. Doch auch dies bleibt unmöglich, weil es ja bloß Ausdruck einer illusorischen Wirklichkeit ist, eines Abgrunds.
Was nun jene Spiele der Leidenschaft betrifft, weiche durch die Wörter ermöglicht werden, so sollte man meine Aussage in ihren Kontext zurückversetzen. Unter „leidenschaftlichen Spielen“ verstand ich keineswegs die Zufälligkeit, auf die ein solcher Ausdruck schließen ließe, vielmehr den Raum, die Wunde, aus der die Worte zu uns sprechen; den Freiraum zwischen ihnen, der sie erst eigentlich lesbar macht. Ohne einen solchen Raum gibt es kein Spiel und kann es keinen Zugang zur Lektüre geben. Dieser Raum, dieser weiße Zwischenbereich hält indes die Wörter nicht fern voneinander, im Gegenteil – er vereinigt sie.
Wie die Lebewesen, so leiden auch die Vokabeln an diesem Bruch, doch einzig durch ihn gewinnen sie Sinn und kommen zum Ausdruck. Und? Und also sind vielleicht jene „leidenschaftlichen Spiele“ nichts anderes als der Rausch der Annäherung an eine unfaßbare Wirklichkeit und zugleich die brutale Verwerfung dieser Wirklichkeit; gescheiterte Versuche, das Undenkbare festzuhalten, die Einheit wiederzufinden; gleichzeitiges Festschreiben von Hoffnung und Scheitern.
Keinerlei Zufälligkeit also in jenem Drang der Wörter zu den Wörtern wie auch in ihrer Verweigerung; keinerlei Zufälligkeit in jenen „leidenschaftlichen Spielen“, welche im Grunde den Wunsch der Wörter nach Dasein zu erkennen geben, ihren Wunsch, als Wörter vorhanden zu sein; ihre Aussicht, nicht umsonst verschwinden zu müssen.

Cohen: Jenen Raum zwischen den Wörtern gelte es, sagen Sie, zu „bezwingen“. Ist es aber nicht auch Ihr Bestreben, ihn gewissermaßen zum Klingen zu bringen, sich zu konzentrieren auf die den Wörtern überantwortete Musik, was dann wohl bedeuten würde, daß Sie in diesem Punkt einer ganz und gar klassischen Konzeption des Dichtwerks verbunden wären?

Jabès: Der Raum, den Sie erwähnen, wäre ohne den Schriftsteller unendlich. Er wäre die Leere. Die Wörter stellen sich gegebenenfalls ein, um ihn zu besiedeln und zu fragmentieren, womit sie zugleich auch ihren eigenen Raum abstecken. Der Schriftsteller kann demnach von Mal zu Mal nur über einen Teil jenes Raumes verfügen, wo die Vokabeln ihren Platz gefunden haben. Alles vollzieht sich so, als handle es sich für ihn darum, auf unbestimmte Weise ein vergessenes Buch in seiner ursprünglichen Anlage nachzuschreiben.
Jener Zwischenraum, jene Leere, jenes Schweigen ermöglicht am besten das Lauschen aufs Wort. Und zwar bis tief hinein in das, was von seinem Sinn am weitesten entfernt bleibt: sein Echo, seine Musik. Wiewohl die Musik für einzelne, unter ihnen bisweilen zu einer unvermittelten Erweiterung des Sinns wird – was aber selten ist. Oder auch zu dessen Vernichtung.

Cohen: Letztlich werden Sie von den Vokabeln abgewiesen. „Ich bin abwesend“, sagen Sie, „weil ich der Erzähler bin. Einzig die Erzählung ist wirklich da.“ Und in Yukels Buch: „Je mehr ich an dem, was ich schreibe, festhalte, desto mehr setze ich mich ab von den Quellen meiner Schriften.“ Was für eine Spur werden Sie schließlich hinterlassen? Wofür stehen die schwarzen Zeichen auf dem weißen Blatt?

Jabès: Es gibt immer ein Wort, um die Geschichte der Sprache zu erzählen. Zu sagen, es sei ein jedes Buch ein Buch der Erinnerung, verleitet zum Schluß, daß auch die Vokabeln ein Gedächtnis haben; doch das ist wohl abwegig. Wir erinnern uns um ihretwillen, und wir vermögen dies kraft der Bilder, welche sie an sich ziehen.
Wir hätten es folglich mit einem ständigen Austausch von Bildern zu tun; wobei eines auf das andere verwiese. Die ganze Arbeit des Schriftstellers besteht darin, diesen Austausch aufrechtzuerhalten. Was bleibt, ist zuletzt vielleicht bloß die unkenntliche Spur; die Rückkehr zur ursprünglichen Weiße.
Doch antworte ich damit nur teilweise auf Ihre Frage. Man muß sich dem Text gegenüber eine gewisse Passivität auferlegen. Man kann nicht gleichzeitig reden und zuhören; wo es aber um Schrift geht, wird das Hinhören wesentlich. Nicht was ausgesagt werden soll ist wichtig, sondern das, was in Wirklichkeit unter der Schreibfeder entsteht. Solche Passivität ist einem jeden Autor derart bewußt, daß sie zum eigentlichen Zentrum seiner schöpferischen Aktivität wird.
Es geht also weniger darum, den Wörtern freien Lauf zu lassen, als vielmehr darum, sie in Reichweite ihrer Möglichkeiten festzuhalten. Da liegt unsere Freiheit.

Cohen: Darauf sind ja gewiß auch – doch es ist an Ihnen, dies zu präzisieren – Ihre Spiele mit den Vokabeln zurückzuführen, die augenfällige Freiheit, die Sie sich im Umgang mit ihnen herausnehmen, die Tatsache beispielsweise, daß Sie im Wort für „Marmor“ (marbre) das Wort für „Baum“ (arbre) erkennen können oder daß Sie das Wort für „der Eine“ (l’un) durch dessen Umkehrung mit dem Wort für „keiner“ (nul) in Verbindung bringen.

Jabès: Ja, das haben Sie gut beobachtet, und ich bin Ihnen dankbar, daß Sie darauf hinweisen. Diese aus Wörtern hervorgegangenen Wörter sind nicht zuletzt Reflexe meiner Angst. Die Freiheit, die man sich ihnen gegenüber herausnimmt, eröffnet einen Abgrund: den der unbeschränkten Möglichkeiten, die uns der Umgang mit den Buchstaben erschließt, denen wir niemals etwas anderes abverlangen können als das willkürliche Zusammenstehn. Das Wort wird sich uns folglich stets entziehen.
Indessen ist, um das von Ihnen angeführte Zitat aufzunehmen, nicht zu leugnen, daß auch mein Bemühen um Verknappung zum Tragen kommt. wenn ich aus dem Wort „Marmor“ (marbre) das Wort „Baum“ (arbre) herauslese. Ich will den Begriff der Jahreszeit (saison) vermengen mit dem des Lebens, des Sterbens der Steine. So wie der Baum seine Früchte spendet, so kennt auch der Marmor die hohe Zeit und den Niedergang aller Materie. Und gleichermaßen könnte man beifügen, daß er einzig unter dem ihm entsprechenden Licht sein Höchstmaß an Intensivierung erfährt und sein Höchstmaß an emotiver Gespanntheit freisetzt: wiederum so wie unter der Sonne der Baum.
Im Grunde steht dem traditionellen Wortspiel nichts ferner als die Art und Weise, wie ich mich seiner zu bedienen pflege. Im Buch der Fragen kommt solche Wortarbeit nur vereinzelt zum Zug; demgegenüber gewinnt sie an Bedeutung in meinem letzten Band. Setzte man sie alle unmittelbar nebeneinander, so würden diese gespielten – in Spielen engagierten – Wörter rund ein Dutzend von ungefähr fünfzehnhundert Seiten füllen.
Ich frage mich übrigens, ob nicht vielmehr die Wörter mit uns spielen – so wie die Gegenstände, die Lebewesen, das All, denen wir ausgeliefert sind. Wie auch immer – diese gefahrvollen Spiele reißen uns oft sehr weit mit sich fort, in Fernen, wo es nichts Festes, keinen Halt mehr gibt.
Wir sprachen eben vom Bemühen um Verknappung. Nehmen wir dafür, wenn Sie gestatten, ein anderes Beispiel aus dem siebenten Buch der Fragen: „Soeben hat sich in meinem Geist ganz unvermittelt das Wort für ,Erdreich‘ (sol) aus dem Wort für ,Einsamkeit‘ (solitude) herausgelöst.“ „Alleinsein – bedeutet dies, wie ein Reptil am Boden zu kriechen oder der Erde die Stirn zu bieten? – Doch Erdreich (sol), zärtlicher als Stahl (acier), ruft vertraulich nach dem Verbum solacier… – Trachtet denn jedwede Einsamkeit danach, getröstet zu werden? O Volk der Einsamkeit, hat man dich, indem man dir Grund und Boden entzog, auch um den brüderlichen Trost gebracht?“
Ich war am Zielpunkt des Buchs der Fragen angelangt, als ich diesen Text schrieb. Meine Art zu schreiben hatte sich – und ich war mir dessen bewußt – von Buch zu Buch so sehr verhärtet, daß sie keinerlei Entwicklung und nicht den geringsten Lyrismus mehr zuließ. Ich hatte den Eindruck, das Wort sei gegenüber dem Satz allzu eigenmächtig geworden.
Wie also konnte nun die Rückverbindung zum ersten Buch bewerkstelligt werden? Durch die Zertrennung eines Schlüsselworts, durch die Einführung des Wortes sol und durch den Umweg über das Verbum solacier – welches im Altfranzösischen bekanntlich soviel wie „trösten“ (consoler) bedeutet – kam erneut das Jüdische Drama zum Vorschein, das Exil, die Lager, der Tod, die Einsamkeit, die Verzweiflung und die Frage. Von Kreis zu Kreis ersann sich der stets verrückte Mittelpunkt – vielleicht um sich seiner selbst zu versichern – einen fixen Ursprungspunkt.
Es versteht sich, daß solche Arbeit am Wort die Mitwirkung des Lesers erfordert; auch läßt sie eine Logik erkennen, die, in meinen Augen zumindest, keineswegs grundlos ist, denn sie ermöglicht die Wiederentdeckung und eine neue Lektüre des Wortes. Man öffnet ein Wort wie man auch ein Buch öffnet: es ist die gleiche Geste. Und dieses Auftun ist ein Aufbrechen. Wir geben uns Rechenschaft darüber, wie weitgehend der Sinn eines Wortes in der Praxis eine abgekartete Sache ist, und wie wenig verläßlich die einhellige Annahme eines Wortsinns zu sein pflegt.
Mir ging es im Hinblick auf neue Zielsetzungen außerdem darum, den Mechanismus wieder in Gang zu bringen, der uns im Wort das Wort, im Buch die Bücher entdecken läßt. „Ich geben dir das Buch zu lesen, weiches im Buch ist, und das Wort, welches im Wort ist. Danach wirst du wissen, daß es – sind sie erst einmal geschrieben – weder ein Buch gibt, das nicht für Bücher, noch ein Wort, das nicht für Wörter stünde. Denn auf solche Weise geschehen die Dinge im Tod.“
Schreiben hieße in diesem Fall, auf der Schneide des Einschnitts – des Einschnitts im Wort, des Einschnitts im Sinn – oder, besser noch, im Innersten jener Entzweiung zu bleiben, ohne die ich im übrigen niemals auch nur eine Zeile hervorgebracht hätte.
Ein anderes bezeichnendes Beispiel noch, falls man bereit ist, in diese Richtung weiter vorzudringen.
Ich schrieb: „Im Wort für ,Tag‘ (jour) steckt das Wort für ,Ur‘ (Our), die Heimat Abrahams“, doch gibt es auch, möchte ich beifügen, Beçalel, den Sohn des Uri (Ouri), Sohn des Hour, den GOTT „mit göttlicher Eingebung erfüllt hat, mit Geschicklichkeit und Urteilskraft, mit Wissen und mit Eignung für die Künste“: der inspirierte Künstler, mithin der Schöpfer.
Meine Werke überborden stellenweise von derartigen Referenzen, die ihnen möglicherweise nichts anderes als eine unvermutete zusätzliche Perspektive verleihen. Doch bilden diese Referenzen insgesamt nur einen sehr geringen Teil jener „Schattenzone“, von der wir bereits gesprochen haben.

Cohen: Es ist offensichtlich, was alles Sie von den Schachtelwörtern (mots-valise) eines Lewis Carroll trennt, aber auch von Joyce – ich denke an Finnegans Wake – sowie, uns etwas näher, von Max Jacob, über den Sie sich in einem früheren Gespräch geäußert haben. Übrigens vermute ich, daß es sich bei Ihrem Text, den Max Jacob zerrissen hat, um eine große Wortarbeit handelte.

Jabès: Ja, die Freiheit, die Max Jacob im Umgang mit der Sprache wahrte und mit der er sich von ihr gefangen nehmen ließ, verwunderte mich sehr. In der Folge dachte ich mir – und dies war es, was ich in dem Text, den er zerrissen hat, dartun wollte –, man könne fast endlos neue Bilder entstehen lassen, indem man durch den Trug der Assonanz, will sagen des Kalauers, den Satz in Unordnung bringt.
Bei Joyce ist das Verfahren natürlich weit anspruchsvoller und noch mehr verfeinert. Zu übertreffen ist es nicht. Es bestand, sehr grob gesagt, darin, eine neue Sprache zu schaffen. Meine eigene Arbeit am Wort kann nicht außerhalb von dessen Kontext stattfinden.
Wenn ich als Beispiel das Wort für „Kommentar“ (commentaire) nehme, das Ich als Comment taire? („Wie verschweigen?“) schreibe, so stelle ich mit Erstaunen fest, daß hier bereits alle meine tiefergehenden Problemansätze aufgezeigt sind. In der Tat bedeutet „kommentieren“ soviel wie einen bereits festgelegten, bereits erstarrten Sinn zum Schweigen zu bringen. Es bedeutet aber auch, die unmittelbare Auffassung, die wir vom Text haben, zum Schweigen zu bringen, um ihm die Chance zu geben, sich durch sich selber auszusprechen.
Gelegentlich habe ich das Wort für „GOTT“ (Dieu) als D’yeux („mit Augen“, „von Auge“) geschrieben, um zu verdeutlichen, wie groß die Versuchung ist, mit den Augen, von Auge nach GOTT zu forschen. Denn GOTT stellt doch, nicht wahr, die allerhöchste Anforderung an das Sehen.
Es versteht sich von selbst, daß mit all dem die Etymologie nichts zu schaffen hat, und ich sehe durchaus ein, daß ein Grammatiker sich sogar darüber lustig machen könnte. Es versteht sich ebenfalls von selbst, daß meine Lektüre gewisser Wörter ganz und gar persönlich ist und nur im Kontext dessen – ich wiederhole es – einen Sinn hat, was Ich zum Ausdruck zu bringen suche. Letztlich geht es mir vielleicht einzig darum, des ursprünglichen Sprachrausches erneut teilhaftig zu werden, jener Trunkenheit des Kindes, welches dem Wort instinktiv das entnimmt, was ihm unvergänglich zu sein scheint.

Cohen: Zuletzt müssen wir also auf Ihren Respekt vor der Sprache zurückkommen, um Ihre Konzeption beispielsweise jener von Burroughs gegenüberzustellen, für den – bei der Verwendung des cut-up – die destruktive Auseinandersetzung mit der Sprache ebenfalls eine revolutionäre Tat war.

Jabès: Für Burroughs wird Macht durch Sprache ausgeübt. Es würde also genügen, diese Sprache zu zerbrechen – den Satz zu zerschlagen –, um die solchermaßen isolierte Macht zu zerstören.
Das ist richtig. Ich kann es ganz gut verstehen. Vernichtet aber, wer die Sprache vernichtet, nicht auch sich selbst?

Zuerst erschienen in Du désert au livre. Entretiens avec Marcel Cohen, Éditions Pierre Belfond, 1980
Aus Edmond Jabès: Die Schrift der Wüste, Merve Verlag, 1989
Aus dem Französischen von Felix Philipp Ingold

Eine vorrangige Lektüre

– Gespräch mit Marcel Cohen. –

Marcel Cohen: Wir haben gesehen, wie Ihre Situation als Jude und Ihre Situation als Schriftsteller sich in Ihren Augen nach und nach vermischt haben. Könnten Sie nun die Arbeit des Schriftstellers erörtern: was versucht er uns als Lektüre anzubieten? Wenn es Ihnen recht ist, könnten wir vielleicht von Ihrer gelegentlich geäußerten Vorstellung ausgehen, daß der Schriftsteller alles von seiner Feder erwarten kann und daß er das Risiko wählt, anderenfalls würde er nicht schreiben.

Edmond Jabès: Das Risiko liegt für den Schriftsteller auf allen Ebenen, und gerade dieses Erfordernis bestimmt sein Ausmaß.
Es gibt einen bemerkenswerten Unterschied zwischen dem mündlichen und dem schriftlichen Ausdruck. Man ergreift das Wort nicht ohne eine mehr oder weniger klare Vorstellung dessen, was man sagen will. Im ersten Fall kann man nur das Vollendete, Fertige sagen. Die Rede ist begrenzt in der Zeit und im Raum. Es ist eine Erzählung ersten Grades: alles hat stattgefunden und der Ausgang ist von Anfang an bekannt.
Im zweiten Fall ist alles in Ausbildung, in Vorbereitung, und wir sind an diese Welt gefesselt, die aus Wörtern entsteht. Nicht nur ist uns unbekannt, was das Buch schließlich sein wird, sondern auch, was es objektiv auszudrücken versucht – selbst implizit, gegen uns. Dies gilt in dem Maße, wie die Wörter die Initiative haben. Das Risiko besteht darin, das Buch unendlich dem Buch zu öffnen. Diese Öffnung ist auch der Strudel, der Abgrund, und in dieser Öffnung hält sich der Schriftsteller auf.
Es gibt auch das Risiko, das die Lektüre des vollendeten Werks mit sich bringt. In Ihrer Frage spielen Sie an auf folgende Passage im letzten Buch der Fragen:

Wo kein Risiko ist, kann es kein Schreiben geben. Das Risiko ist hier aufbehalten im Punkt.

Was ist der Punkt? Im Hebräischen ist der Punkt der Vokal. Dank ihm kann das Wort gelesen und gehört werden. Fehlt der Punkt, so besteht das Risiko eines groben Widersinns. In Wirklichkeit gibt es kein Wort. Es gibt nur Konsonanten, die darauf warten, Wort zu werden.
Das Fehlen von Punkten in den großen Texten der jüdischen Tradition verlangt besondere Aufmerksamkeit des Lesers, der das Wort selbst wiederschaffen muß, was von diesem, über ein tiefes Textverständnis hinaus, eine wahrhafte Intuition erfordert.
Dabei verbindet sich der Leser dem Schöpfer, der in dem Maß, als er ins Schreiben sich vertieft, das Buch schaut. Also gibt es nicht ein Buch im Buch, sondern unzählige.
Welches Buch schreibt man also? Welches Buch liest man? Wir befinden uns hier einem neuen Risiko gegenüber, vielleicht dem größten von allen, denn wenn die Zukunft durch die Wörter geht – die Wörter sind nie unschuldig und bereiten den Übergang zur Tat in dem Sinne vor, als das Buch unseren Geist und zugleich unsere Sinne gestaltet –, um welche Zukunft handelt es sich?
Jeder Schöpfer wäre also, ohne daß er es will, verantwortlich für eine Zukunft, die er jedoch nicht zu beherrschen vermag. Und im selben Augenblick begreift man den großen Einsatz der Interpretation, des Kommentars, die den Text bis zur unheilbaren Verfälschung entstellen können, ohne daß es sich dabei in jedem Fall um Betrug handeln würde.

Cohen: Was verstehen Sie unter „Intuition des Buches“?

Jabès: Es gibt in jedem Buch eine Zone der Dunkelheit, einen undurchdringlichen Schatten, den man nicht auswerten kann und den der Leser erst nach und nach entdeckt. Er irritiert ihn, doch er spürt genau, daß hier das reale Buch ist, um das herum sich die Seiten gruppieren, die er liest. Dieses ungeschriebene Buch, in einem rätselhaft und enthüllend, entzieht sich fortlaufend. Indes erlaubt einzig die Intuition, die der Leser davon haben konnte, das Werk in seiner wahrhaftigen Dimension zu orten; dank dieser Intuition auch vermag er zu beurteilen, ob der Schriftsteller sich wirklich dem Buch. das er zu Schreiben beanspruchte, genähert oder sich eher von ihm entfernt hat.

Cohen: Mallarmé war besessen von der Vorstellung eines totalen Buches, dessen Lektüre eigentlich unerschöpflich wäre.

Jabès: Das Projekt von Mallarmé war ein zutiefst bewußtes, in seiner allgemeinen Konzeption ebenso wie in seiner genauen Organisation. Ich meinerseits frage mich, ob dieses ambitiöse Buch, das dazu bestimmt war, alle Werke zu überleben, Mallarmé selbst nicht enttäuscht hätte; ob dieses Buch nicht im Grunde ebenso ephemer war wie die andern?
Alle Bücher auf eines zurückführen, alle seine möglichen Lektüren bestimmen zu wollen, hieße das nicht, dieses einzigartige Buch von Anfang an seiner unzähligen Verlängerungen zu berauben, vor allem aber jener, die dem Autor selbst unbekannt sind? Die Verlängerung eines Buches ist dasjenige, was seinen eigenen Ansatz übersteigt, was ein weiteres Buch und der Leser aufgerufen sind zu erfüllen. Das ist das Leben des Buches. Wie vermöchte der Autor es seinem Projekt einzuverleiben?
Vor Mallarmé – und auf naturgemäß verschiedenen Wegen – hatten schon die Kabbalisten von einem absoluten Buch geträumt, das den Zufall ausschlösse; von einem vollkommen lesbaren Buch.
Das Schöpferische, entzieht es sich nicht GOTT? Das ist es, was es uns erlaubt, selbst schöpferisch zu sein und durch diese Niederlage hindurch uns wieder mit GOTT zu vereinen.
Die Vorstellung aber, die mich persönlich beschäftigt, ist bescheidener. Ich habe immer an ein Buch gedacht, das den Lebensprozeß reproduzieren würde. Zunächst verlängert es uns, dann aber ersetzt es uns. Wie kann man es sich vorstellen, daß ein Kind eines Tages Antwort erhält auf all die Fragen, die sein Vater sich stellte? Mein Gedanke war es also, daß meine Bücher entstehen und zugunsten des folgenden Buches unaufhörlich vergehen müssen. Gewiß gibt es eine Grenze, meine Möglichkeiten als Schriftsteller betreffend. Sie ist, wie ich glaube, in meinen Büchern nicht enthalten.
Ich frage mich übrigens, ob das Projekt von Mallarmé, das zuletzt brauchbares Maß des Unmeßbaren zu sein beanspruchte, nicht eigentlich die Grenzen eher verengt, die es zu sprengen versuchte. Man könnte die Bibel zum Beispiel für das genaue Gegenteil des Mallarmé-Buches ansehen, da niemand daran gedacht hat, sie in der Form zu schreiben, die wir kennen. Sie ist eine Anhäufung von Texten – von Büchern –, von denen keiner – und mit Grund – seine Bestimmung uneingeschränkt erfüllt. Die Bücher der Bibel verlängern sich gegenseitig, stoßen sich bisweilen aneinander, woraus ihre phantastische Offenheit und zweifellos ein Gutteil der Fragen zu erklären sind, die sie aufwerfen.
Das Befragen des Buchs, das im Mittelpunkt meiner Arbeit steht, hat mich dessen nachträglich bewußt werden lassen. Jeder Schriftsteller träumt davon, das Buch zu machen. Jedes Werk antwortet immer nur auf diese Sehnsucht.

Cohen: In der Tat spricht Mallarmé in einem Brief an Verlaine von einem „architektonischen und vorausgeplanten Buch und nicht von einer Sammlung von zufälligen Inspirationen, so wunderbar sie auch sein mögen, von einem Buch, von dem es nur eines geben könne. Wir sehen also, worin Sie dieser Position sich annähern und worin Sie sich von ihr entfernen. Mallarmé sprach noch von einem „unpersönlichen und objektiven, und nicht von einem Gelegenheitsbuch“. Für ihn mußte alles schlußendlich auf ein Buch hinauslaufen. Seiner Meinung nach existierte einzig die Literatur, unter Ausschluß alles andern. Treffen Sie sich wenigstens darin mit ihm?

Jabès: Die Welt läuft auf ein Buch hinaus, Ja. Und alles kommt auch vom Buch. Im ersten Band des Buchs der Fragen sage ich:

Die Welt existiert, weil das Buch existiert.

Denn um zu existieren, muß etwas benannt sein. Die Benennung geht uns voraus. Diese Benennung ist es auch zuallererst, die ich wiederzufinden suchte; Benennung, die nichts als die Bewußtwerdung dessen ist, was ist oder sein wird; die also der Sache vorausgegangen ist und die das Universum sich unterwerfen wird.
Meine Sprache ist das Französische, was jedenfalls nicht heißt, daß ich die Etymologie als unhinterfragten Ursprung der Rede meiner Bücher betrachte. Dieser Ursprung ist viel weiter entfernt. Er vermischt sich mit der Geburt von allem, was Wörter bezeugen.
Die Idee, die mich verfolgt, ist wirklich die des letzten Buches, das wir nie schreiben werden und dem gleichzukommen all unsere Bücher versuchen, ebenso wie das werdende Universum jeden Tag etwas mehr dem ungeborenen Universum sich angleicht. So wäre dieses letzte Buch das erste, aber immer unentschlüsselt. Es ist ohne Zweifel die Ahnung dieses Buches, die meinen Büchern ihre Einheit gibt, als ob die Architektur und der Sinn des Buches immer nur eine physische und metaphysische Annäherung daran wären.
Mallarmé hat auch von dem „Prunk des Nichts“ gesprochen und so daran erinnert, daß es die Leere und das Nichts sind, welche das wunderbare Gebäude verstecken, dessen Vollendung wir nur ahnen können. Das ist eine weitere Fassung des Eigentlichen, des Etymon. Wäre nicht GOTT allein dieses Etymon? Auch das wollte Mallarmé in gewisser Weise ausdrücken, wenn er behauptet:

Die Literatur, und sie allein, existiert unter Ausschluß alles andern.

Das Mysterium der SCHÖPFUNG liegt im Wort.

Cohen: Der Schriftsteller geht das Risiko ein und will das Ganze. „Er lädt“, wie Sie sagen, „zu einer vorrangigen Lektüre der Welt ein.“

Jabès: Jeder Schöpfer stellt die Welt ständig in Frage. Indem der Schriftsteller uns einlädt, sie zu lesen, schafft er eine Dringlichkeit – er drängt uns. In diesem Sinn ist der Leser privilegiert: Lesen heißt in gewisser Weise, all das in der Schwebe zu halten, was nicht diese vorrangige Annäherung – diese Vision – ist. Man könnte soweit gehen zu sagen, daß die Welt wartet, wenn wir lesen. Ebenso weiß der gläubige Jude, der einen heiligen Text liest, daß GOTT wartet.

Cohen: Was der Schriftsteller erwartet und – vielleicht – befürchtet, ist, wie Sie sagen, daß er nicht derselbe bleibt, denn er wird „den Grund“ erreicht, „den Ursprung wiedererlangt“ haben. Welchen Grund? Welchen Ursprung?

Jabès: In Wirklichkeit gibt es keinen Grund mehr, keinen Ursprung. Wie sollte es ihn auch geben, da nichts fixiert werden kann durch die Wörter und durch diese hindurch alles in immerwährender Veränderung begriffen ist?
Und dennoch gibt es die Erforschung, die wiederholt zu einem unerforschten Anderswo vorgetrieben wird, einem Grund, einem Ursprung, die hypothetisch sind und auf die jedes Schreiben hinführt. Unsere Quellen sind vor uns.

Cohen: Diese Reise, die das Schreiben ist, führt nirgendwohin. Weil es, wie Sie sagen, „einen unüberwindbaren Raum gibt zwischen dem Schriftsteller und dem Buch, den der Leser aufgerufen ist zu überbrücken. Deshalb ist der Akt des Schreibens so schmerzhaft. Er rettet den Menschen nicht, sondern überantwortet ihn dem Nichts“.

Jabès: Schreiben, heißt das nicht, zu versuchen, das Nichts auszufüllen und davon also eine sehr scharfe Wahrnehmung zu haben?
Ich selber habe das Gefühl, nur auf dem Grund eines Abgrunds zu schreiben; die Überzeugung, nirgendwohin zu gehen, als ob das Anderswo des Schreibens immer noch ein Hier wäre. Dieses Hier, in dem meine Hoffnung wohnt, wüßte mich dennoch nicht zu retten, da es ja in gewisser Weise nur das Sagen dieses Nichts ist. Also ist es das Nichts, das durch mich spricht. Schreiben wäre unmöglich, wüßte man dies nicht. Es gäbe in keinem Augenblick eine Bewußtwerdung des Objekts.

Cohen: In diesem Nachdenken über die Arbeit des Schriftstellers vertieft sich auch Ihre Konzeption des Judentums. Könnten Sie noch einmal die Parallele aufnehmen, die Sie anfangs zwischen dem Juden und dem Schriftsteller gezogen haben? Ich vermute, daß das nur aus der Unmöglichkeit heraus geschehen kann, diese beiden Voraussetzungen einzulösen.

Jabès: Es gibt einen Augenblick, wo die Frage auf die Frage stößt, die sie zerbricht. Es gibt nur noch solche Brüche einer nicht formulierbaren Frage. Schuldgefühle der Frage. Nicht zu besänftigende Qual der Antwort.

Zuerst erschienen in Du désert au livre. Entretiens avec Marcel Cohen, Éditions Pierre Belfond, 1980
Aus Edmond Jabès: Die Schrift der Wüste, Merve Verlag, 1989
Aus dem Französischen von Hans Ulrich Brunner

Das Unlesbare

– Gespräch mit Marcel Cohen. –

Marcel Cohen: Wenn wir nun versuchen, in Ihrem Werk ein wenig zurückzugehen, drängen sich gewisse Feststellungen auf. Ich möchte Sie nun darum bitten, sie mit uns ins Auge zu fassen, um sie entweder zu erweitern oder – falls nötig – abzuschwächen.
Sie haben sich immer dagegen gesträubt, daß man Ihre Arbeit auf irgendeine Theorie des Schreibens zurückführen könne. Man sieht ja auch in der Tat, daß Ihre Bücher vielmehr die fundamentale Unmöglichkeit jeglicher Theoriebildung ausdrücken. Und so ist auch zu vermuten, daß für Sie eine Theorie genau dasjenige ist, was das Schreiben auf ein Spiel zurückführt, was es sogleich wieder in der Literatur ansiedelt und ihm so jede zersetzende Kraft benimmt.

Edmond Jabès: Es ist absurd zu glauben, man könne ausgehend von einer Theorie schreiben. Schreiben heißt, tabula rasa zu machen mit dem Wissen. Ich würde noch weiter gehen und sagen: Kein Wissen, keine Gewißheit nehmen es mit dem Schreiben auf. Dennoch stützt sich die Kultur einzig auf den Bereich der Schrift. Nur weil der Schriftsteller nicht weiß, weil er sein Thema nicht beherrscht, weil er im Grund nur seinen eigenen Taumel reflektiert, können wir als Leser an seinem Werk teilnehmen, indem wir es im Licht unserer persönlichen Erfahrung befragen.
Meine Arbeit wird zum großen Teil darin bestanden haben, die Befragung des Buches in meine Bücher einzuführen.
Denn wie könnte man, von Arbeit zu Arbeit, den Kommentar akzeptieren, außer man setzt ihn seinerseits der Befragung aus. Daher kommt es auch, daß es zwar in meinen Büchern wohl einen Fortgang gibt, aber nicht wirklich Ausgang und Ankunft.

Cohen: Wir haben gesehen, daß Sie sich in Opposition zu denjenigen Versuchen sehen, welche die Sinngebung ablehnen und so zum Text gelangen wollen, indem sie den Satz und seine Organisation aufbrechen. Ihr Vorschlag wäre es im Gegenteil, die Sinngebung in der Weise wieder zu unterlaufen, daß Sie den Sinn zerstreuen.
Rosmarie Waldrop zum Beispiel hat in einem Ihnen gewidmeten Essay gezeigt, wie Sie das Spiel der Metaphern verwirren. Sie bemerkt etwa, daß Sie im Verlauf einiger Seiten ein Gespräch mit einem Weinglas vergleichen, mit einem Schiff, das die hochgehenden Wellen zerteilt, mit einem Pferd, einem Baum, einer Biene, einem Apfel, und sie stellt fest:

Wenn es immer mehr Bilder gibt, kann kein Bild mehr etwas bedeuten.

Der Begriff der ,Perversion‘, den wir dazu in Anschlag gebracht haben, gewänne so seinen vollen Sinn.

Jabès: Sie unterstellen mir eine Absicht: widersprüchlich zu sein. Ich bin nicht absichtlich widersprüchlich, sondern ich bin es naturgemäß. Insgesamt akzeptiere ich zwar meine Widersprüche, ohne die mir meine Bücher in die Lüge, ins künstlich Fabrizierte umzukippen schienen. Wenn es in meinen Büchern einen Zusammenhalt gibt, verdankt er sich nur der Kontinuität meiner Widersprüche. Dieser Widerspruch spielt gewiß auch auf der Ebene der Metapher.

Cohen: Wir haben von der ,Subversion‘ des Textes gesprochen, ohne dies aber zu vertiefen. Was heißt für Sie ,Subversion‘ in der Literatur?

Jabès: Beginnen wir mit dem Anfang: Erinnern wir uns, daß die Subversion offensichtlich das ist, was stört. In meinem Fall gibt es eine gewisse Paradoxie, von subversiven Büchern zu sprechen, da sie ja an eine sehr korrekte Verwendung der Wörter gebunden sind, an den klassischen Satz.
Sie spielen an auf die Metapher. Das ist ein gutes Beispiel für das, was ich als die meinen Büchern zugrundeliegende Haltung ansehe, jetzt, wo ich zu meinen Büchern einen gewissen Abstand haben kann. Ich habe weder versucht, den Sinn des Satzes zu zertrümmern, noch die Metapher, sondern im Gegenteil: sie zu verstärken. Nur in der Kontinuität des Textes zerstören sie sich; das Bild, der Satz und ihr Sinn, wenn sie mit einem Bild, einem Satz, einem Sinn konfrontiert werden, die ich für ebenso stark halten möchte. Den Sinn anzugreifen, indem man sich gegen den Satz auflehnt, hieße nicht, ihn zu zerstören, sondern im Gegenteil ihn dadurch zu bewahren, daß man den Weg auf einen anderen Sinn hin öffnet. Für mich ist das alles so, als ob ich mich zwei entgegengesetzten Diskursen gegenüber befände, von denen jeder dieselbe Überzeugungskraft hat. Daraus ergibt sich die Unmöglichkeit, den einen gegenüber dem andern zu privilegieren, welche die Herrschaft des Sinnes über den Satz ständig hinausschiebt. Das Ungedachte wäre vielleicht nichts anderes als die gegenseitige Aufhebung zweier widersprüchlicher und letzter Gedanken.

Cohen: Sie verlangen vom Leser, daß er sich an diesem Zusammenfluß aufhalte. Sie fordern von ihm eine sonst wenig übliche Teilhabe am Buch.

Jabès: An diesem Zusammenfluß, wo er unwiederbringlich allein bleibt. Ich habe genügend betont, daß der Schriftsteller aus seinen Büchern entlassen ist. Genau so wie der Schatten vom Licht verscheucht wird, wenngleich er ihm sein Entstehen verdankt.

Cohen: Wenn man alles, was sich gegen die Literatur aufgelehnt hat, nur um wieder in sie zurückzufallen, erwägt, so ist das, was bei Ihnen im Unterschied dazu fehlt, offensichtlich die Gehässigkeit. Man hat den Eindruck, daß für Sie das zu laute Verkünden des ,Todes der Literatur‘ nur der Beweis dafür wäre, daß sie eben nicht tot ist, und man damit nur den leeren Platz einzunehmen beansprucht.

Jabès: Ich gestehe, daß ich sehr belustigt bin über die vielen endgültigen Erklärungen, das Schreiben und die Literatur betreffend, die überall umlaufen. Jeder Autor, der eingeweiht sein will, gibt fröhlich seinen Kommentar dazu ab.
Wie kann man verständlich machen, daß Schreiben nie dies ist. Es ist immer dies und dann – etwas anderes.
Am Anfang weiß man nichts. Man weiß nur, daß irgendetwas hervorgebracht werden wird. Man weiß, daß es beginnen wird und daß man jetzt nichts dafür machen und nicht mogeln kann; daß man nur weitergehen kann, wie wenn man in einer Menschenmenge, einmal von ihr erfaßt, nur noch von ihr weitergestoßen wird.
Die Menge, das sind im vorliegenden Fall die unsichtbaren Wörter, die uns umgeben und uns in die Pflicht nehmen. Der Boden ist kein Boden, die Stadt ist keine Stadt, die Straße ist keine Straße; die Welt verlangt aus dem Vergessen herauszugelangen, in dem sie versunken lag. Und auf die Begrüßung eben dieser Welt müssen wir gefaßt sein: einer Welt, deren Grenzen die unseren und deren Horizont unser Werden wäre.
Unter dieser Voraussetzung habe ich wirklich nie einen Aufstand gemacht. Die Literatur als solche interessiert mich nicht, und die Literaturgeschichte noch weniger. So habe ich auch das Gefühl, nicht zur Literatur zu gehören, und dies nicht etwa deshalb, weil ich es nicht gewünscht hätte.
Damit ein Werk Anspruch auf das Markenzeichen ,Literatur‘ erheben kann, bedarf es – selbst wenn der Schriftsteller sich dagegen empört – einer Abstammung, die mir völlig abgeht. Ich brauche mich nicht im Aufstand zu erproben, weil meine Bücher sich selbst ausschließen. Zumindest habe ich diesen Eindruck. Übrigens glaube ich, daß keine Bezeichnung meiner Arbeit weniger angemessen ist als diejenige des Werks.

Cohen: ,In‘ der Literatur, und das mit einer gewissen Schadenfreude, versteht sich Ihr Werk – wir haben es gesehen – gleichsam als eine leere Hülle, die nichts als die Unmöglichkeif der Literatur zeigt. Das Werk kann auch nicht in Begriffen des Fortschritts gegenüber anderen Werken gefaßt werden, denn es reflektiert im Grunde nur den Taumel, eine Art Verblüffung angesichts der fundamentalen und endgültigen Unmöglichkeit gegenüber der Welt. Darin schließen Sie alle Türen und so heißt, Sie zu lesen, zuletzt: auf immer entmutigt werden zu schreiben.

Jabès: Leere Hülle: Der Ausdruck gefällt mir sehr. Meine Bücher sind auch wirklich nichts als Orte des Übergangs.
Wo ich mit Ihnen nicht einverstanden bin: daß Sie von der Unmöglichkeit zu schreiben sprechen. Man schreibt immer nur diese Unmöglichkeit. Jeder Schriftsteller, der diesen Namen verdient, weiß, daß Schreiben unmöglich ist, aber er muß über diese Unmöglichkeit hinausgehen. Ohne dieses Bewußtsein gibt es kein Risiko mehr, kein Schreiben. Schreiben wird die leichtgewichtigste, banalste Sache. Kein Schriftsteller drückt sich mit Leichtigkeit aus, und der, der zur Feder greift, ist kein Schriftsteller, wenn er nicht von der Maß-losigkeit seines Projekts heimgesucht wird.
Aber kommen wir zurück auf Ihren Ausdruck: leere Hülle. Er beschäftigt mich ganz entschieden.
Eine leere Hülle, ja, in die man die Nachricht zu schieben vergessen hätte. Das ist es, nicht wahr?
Denn es gibt nie eine Nachricht. Oder vielmehr ist die Nachricht im Grund reine Schöpfung des Empfängers. Die erwartete, ersehnte Nachricht, die er sich selber hätte schicken mögen, doch so, daß er sich dabei der Hand seines Korrespondenten bediente.
Hier vermischen sich Geben und Empfangen. Was habe ich zu geben oder zu empfangen? – Nichts mehr, wenn ich alles gegeben, alles empfangen habe. Die Befragung hat die Leere geschaffen. Es brauchte diese Leere. damit eine andere Befragung – jungfräulich, frei – das Licht erblickt.

Cohen: Dieser leeren Hülle, die letztlich Das Buch der Fragen ist, halten Sie dennoch einen Spiegel vor: die drei Bände des Buchs der Ähnlichkeiten. Wie sind Sie darauf gekommen, sich über die Ähnlichkeit Fragen zu stellen?

Jabès: Was heißt das: Ähnlichkeit? Es ist das, was in einem identisch und verschieden ist. Es ist Bekanntes, mit Unbekanntem überzogen. Das Bekannte war für mich offenbar Das Buch der Fragen. Auch das Unbekannte. Ich hatte in der Tat das Gefühl, einen Weg angelegt zu haben. Dennoch blieb alles noch von einem unerschöpflichen Buch zu entdecken. Es schien mir, daß der Grund sich unaufhörlich entziehe. Ich war einmal mehr in der Gewalt ganz widersprüchlicher Wünsche: des Wunsches, damit Das Buch der Fragen zu vollenden – als ob ein Ende wirklich möglich gewesen wäre – und des Wunsches, darin alles zu sammeln, die Mängel aufzuheben. Ich war dazu verurteilt, jede noch so unvermutete Ähnlichkeit mit dem Buch der Fragen anzunehmen, wie es uns im Leben oft geschieht, daß wir mit Ähnlichkeiten konfrontiert werden, die wir selbst hervorrufen und durch die ,das Andere‘ uns akzeptiert oder zurückstößt. Da ,das Andere‘ unzählig ist, gibt es nicht eine Ähnlichkeit, sondern eine Menge von Ähnlichkeiten auf der Suche nach der Sache.
Wie Sie wissen, endet jeder der drei Bände des Buches der Ähnlichkeiten mit einem Prozeß. Es ist dies in einem der Prozeß des Buches, des Schriftstellers, des Juden und schließlich des Richters selber, der stattfindet. Jeder Richterspruch erweist sich als ungültig, denn nur auf dem Weg der Ähnlichkeit kann man urteilen, man kann nur verurteilen, wenn man weiß, was man glaubt, wenn man Herr seiner Wahrheit ist. Wenn man sich unverwundbar weiß.
Die Richter, die ich in Szene setze, lassen sich erweichen, denn sie haben schon, ohne es sich einzugestehen, an sich zu zweifeln begonnen. Indem sie sich den Argumenten des Angeklagten aussetzen, anerkennen sie die Unmöglichkeit jeden Urteils. Von da an haben sie keinen Rechtfertigungsgrund mehr; sie haben begriffen, daß sie bisher nur aufgrund ihrer Überzeugungen verurteilt haben, aus der Sicht der größeren Zahl, und nicht im Namen einer unantastbaren Wahrheit, die der eigenen Befragung standhielte.
So sind die Wörter Jude, Buch, Schriftsteller und Richter nichts als Spiegel, die uns hingehalten werden. Spiegel jedoch, die nur den Blick reflektieren, der sie befragt. Nichts anderes.
Heißt schreiben übrigens nicht auch, danach trachten, die Ähnlichkeit zum Verschwinden zu bringen? Ebenso wie die Vollendung beim Schreiben nur die Unterdrückung der Zweiheit von Wort und Sache ist? Ärgerlich ist es, daß das Wort unvermögend ist, die Sache in ihrer Nacktheit wiederzugeben. Es zeigt uns nur das wahre oder falsche Bild, das wir uns davon machen. Daher seine Zerbrechlichkeit. Und gewiß auch die unsrige.

Cohen: Diese Position des dauernden In-die-Irre-Führens (denn das Fehlgehen ist es doch, das Sie zurückhält) ruft auch wohl Fehlinterpretationen hervor. Man bezichtigt Sie zum Beispiel des Mystizismus, und die Juden selber wissen nicht wie sie sich Ihnen nähern sollen. Von einigen mit orthodoxen Skrupeln Behafteten beiseitegedrängt, werden Sie gleichzeitig von andern beweihräuchert, die ihrerseits um eine Tradition des Befragens besorgt sind, die gerade der Orthodoxie der talmudischen Schriften entspricht.
Ich möchte Sie deshalb fragen (nicht um Sie zu verteidigen), ob Sie nicht glauben, daß es in der inneren Natur Ihres Werks liegt, widersprüchliche Leseweisen hervorzurufen, wenn man die verschiedenen Ebenen möglicher Lektüren betrachtet. Wir können nicht verhindern, daß Lesen zuallererst auch heißt, den Text auf Bekanntes zurückzuführen. Andererseits wären Ihre Bücher, die nichts anbieten. worauf man sich stützen konnte, nur ein Spiegel; und sie auf der Ebene lesen, auf der Sie sie situieren, hieße: entdecken, daß sie eigentlich unlesbar, das heißt, nicht zu vereinnahmen sind.

Jabès: Wenn meine Bücher weiterhin eine gewisse Unruhe hervorriefen, so würde mich das trösten. Ich denke nicht, daß meine Bücher ,unlesbar‘ sind. Oder auch nur dunkel. Sie werden nur unlesbar, wenn man in ihnen eine Gewißheit sucht.
Doch unter ,unlesbar‘ verstehen Sie: nicht zu vereinnahmen. Ich glaube tatsächlich, daß ihre Lesbarkeit im Fragment liegt, daß aber die Fragmente dauernd aneinanderstoßen, die Sinnbildung sich unendlich verschoben sieht. Deshalb wohl sind sie nicht zu vereinnahmen.
Oder sagen wir eher, daß sie es sein müßten, wenn man sich bemüht, sie wirklich zu lesen. Aber das Schicksal der Bücher, Sie wissen es sehr wohl, entzieht sich ihrem Autor. Wenn ich einen idealen Leser entwerfen müßte, wäre es derjenige, der durch meine Bücher hindurch seine eigenen Widersprüche annähme, seinen eigenen Taumel, und nach und nach lernen würde, nicht davor zu erschrecken. Insgesamt: eine Art zu überleben.
Der Gedanke verdankt seine Überlegenheit nur seinem Konflikt mit dem Ungedachten, wie das Leben seine Intensität und seine Ausstrahlung nur seinem Konflikt mit dem Tod verdankt.
Das beste Mittel, das uns übrigbleibt, dem Scheitern dieses doppelten Kampfes entgegenzutreten, der sich in uns abspielt, ist vielleicht, von Anfang an auf jegliche Idee eines Siegs zu verzichten.

Zuerst erschienen in Du désert au livre. Entretiens avec Marcel Cohen, Éditions Pierre Belfond, 1980
Aus Edmond Jabès: Die Schrift der Wüste, Merve Verlag, 1989
Aus dem Französischen von Hans Ulrich Brunner

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Felix Philipp Ingold: Innere Echos
Neue Zürcher Zeitung, 14.4.2012

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLfG +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA
Nachruf auf Edmond Jabès: NZZ

 

1. Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung 2005 an Felix Philipp Ingold.

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + PreisKLG +
Kalliope + Viceversa + Forschungsplattform
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口

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