Elke Erb: Zu einem Höricht von Oskar Pastior

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu einem Höricht von Oskar Pastior aus Oskar Pastior: Höricht.

 

 

 

 

OSKAR PASTIOR

Erster Satz: Die Wut über den verlorenen Groschen manifestiert sich auf einer Sinnesebene, die keine Wut kennt. Zweiter Satz: Wir alle kennen den Musterfall des durch den Fleischwolf gedrehten Feriengastes, der, um das mit ihm betriebene Spiel nicht zu verderben, sich vorerst taub stellte, aber unsere Gänsehaut kennt solche Grenzen nicht. Dritter Satz: Hinzu kommt der Bericht über den gevierteilten bethlehemitischen Kindermord mit der Begründung, das Risiko eines einzigen Fluges sei zu groß gewesen, ein glaubwürdiger Versicherungsvorgang, zumal das Gemälde sich nachher zusammensetzt. Vierter Satz: Abgerundet wirkt auch die Straßenschlacht jenes Jahrhunderts, dem das Briqantendorf die leise Wehmut des Namens Rombola verdankt, Hammer, Amboß und Steigbügel. Coda: Ja, nun überlagern sich verschiedene Semaphoren auf einer Ebene, die kein Pardon kennt. Die Trauer über die verlorene Gänsehaut kennt keine Grenzen. Das Risiko einer einzigen Herausstellung sei zu groß, man verteile es auf das Geschlecht der Rombolas. Ein glaubwürdiger Fleischwolf, zumal das Jahrhundert sich nachher zusammensetzt.

 

Die Prise. Handfest

Ich lese ein Höricht von Oskar Pastior:

Erster Satz: Die Wut über den verlorenen Groschen manifestiert sich auf einer Sinnesebene, die keine Wut kennt. Zweiter Satz: Wir alle kennen den Musteifall des durch den Fleischwolf gedrehten Feriengastes, der, um das mit ihm betriebene Spiel nicht zu verderben, sich vorerst taub stellte, aber unsere Gänsehaut kennt solche Grenzen nicht. Dritter Satz: Hinzu kommt der Bericht über den gevierteilten bethlehemitischen Kindermord mit der Begründung, das Risiko eines einzigen Fluges sei zu groß gewesen, ein glaubwürdiger Versicherungsvorgang, zumal das Gemälde sich nachher zusammensetzt. Vierter Satz: Abgerundet wirkt auch die Straßenschlacht jenes Jahrhunderts, dem das Brigantendorf die leise Wehmut des Namens Rombola verdankt, Hammer, Amboß und Steigbügel. Coda: Ja, nun überlagern sich verschiedene Semaphoren auf einer Ebene, die kein Pardon kennt. Die Trauer über die verlorene Gänsehaut kennt keine Grenzen. Das Risiko einer einzigen Herausstellung sei zu groß, man verteile es auf das Geschlecht der Rombolas. Ein glaubwürdiger Fleischwolf, zumal das Jahrhundert sich nachher zusammensetzt.

Der Text nimmt in seiner Nachwirkung auf mich, kaum daß ich zuende gelesen habe, eine Festigkeit an, eine körperliche, geländige Faßlichkeit und sichere Kontur, die mich an den Hügelhang erinnert, der rechts vor dem Haus in die Aue führt. Genauer: Sie erinnert nicht an den Hang selbst, sondern aktiviert eine bestimmte Vorstellung, die ich von ihm hege und die, wie ich mich eben überzeugt habe, mit seiner realen Linie nicht recht übereinstimmt. Ich bin hinausgegangen, um es zu prüfen. Ich konnte die vorgestellte Linie nicht recht finden. Sie ist sehr klar, sie ist ein wenig absonderlich steil und beginnt kopfig, wie etwa von einem Hundekopf die Nackenlinie zum Rücken abfällt. Auf Wiese und Hang stehen in wadenhohem Gras und Klee unzählige kümmerliche Bärenklau-Stauden, die mit ihren schütteren weißen Dolden ungewisse, verschiedenhohe Ebenen durcheinander in die Horizontale faseln. Auch ist der Hang in der Vorstellung nahe beim Haus, real aber ein ganzes Stück weg von ihm. Irgendwo wird er diese Linie aber haben, wieso hätte sie sich sonst eingeprägt, klar und deutlich. Vielleicht war es Vorfrühling, als sie sich mir so bleibend in das Gedächtnis schnitt. Seit Jahren, Jahrzehnten hält sie sich dort als Meinung, als vermeintlich vor Augen. Vor weiteren Jahrzehnten war am Hang steinige Erde vom Straßenbau abgelagert worden, deshalb wohl dies absonderlich Stelle. Schlechte Erde war das, wurde gesagt. Gleichviel, die Erinnerung zitiert die Kontur des Hügelhangs, als sei sie real und als beweise sie etwas, was ich denke. So wie sie mir an diesem Morgen auch den Eindruck von Oskar Pastiors Text bewiesen hat. Sie hat etwas Perfektes, möchte ich hinzufügen, eine Art Bündigkeit, etwas am Ende rasch Beendetes, Endgültiges, womit sie dich abfindet oder du dich abzufinden hast.

Sie kam ohne jede Erklärung und Zutat, und ließ mich unter Oskar Pastiors Text die Worte schreiben:

Ich halte
auf diesem Cosinus zur Betrachtung
stand.

(Somit finde ich mich von dem gelesenen Text verabschiedet; denn die Linie hat den von ihm erhaltenen Eindruck okkupiert. Den weiteren Text unter dem HÖRICHT provoziert sie selbst:)

stand. Trockenheit
stellt sich ein. Der Herr schied Wasser
& Land.

(Danach wurde, wie ich noch weiß, schnell, ohne Besinnung und Wortwahl notiert:)

Land. Setze
Flieder an, werde duftend stehn.

Ich greife zum Tagebuch, um die Notiz, deren Gliederung nur die Begriffe unterscheidet, nicht Verse setzt, literarisch zu klären.

Ich halte am Hang dieses Hügels stand
zur Betrachtung der trockenen
Welle

(Wasser zu Land). Setze Flieder an,

Bis jetzt scheint alles in Ordnung. Aber nun ist Schluß. Kein Wort führt weiter, obwohl der reale eingebildete Stock des Standhaltens zauberisch deutlich vor mir steht, unten im spitzen Winkel zum Hang, auf seiner harten Linie, oben mit einem dichten Duft, welcher ständig die Grenze ins Unsichtbare übertritt.
Wie ich sehe – und: nichts.

Verlegen, weil klar ist, daß nichts geht, setze ich einige Wörter dazu:

einsam
Eigensinnsduft

[…] Setze Flieder an, Eigen
sinn eine Weile
Duft

Mich ärgert: Das Bild ist anheimelnd aufgeräumt, hält an in seiner Wirkung auf mich, der Text aber braucht Laute, ich muß sie suchen, ich muß mich gedulden (ich gedulde mich sonst nicht, weil ich das sonst nicht muß bei einem eigenen Text, die Laute bauen sich von selbst auf, ich bin nur ihr übermittelndes Medium, – also sonst ist es so, wie es soll. Bin ich der Verlegenheit naturalistischer Beschreibung ausgesetzt? Ausgerechnet infolge eines Textes von Oskar Pastior auch noch?

Widerwillig gebe ich etwas hin, so als ob ich nicht wüßte, wozu es gut sein soll, und prompt bringt es ja auch nichts, Tributzoll an das Wort: trockenen,

flocke Flieder aus, stelle ( darüber einsam, daneben stockend)
die Eigenheit Duft.

Dieses Suchen ist fast so, als wollte ich schwindeln: etwas sagen, was gar nicht ist. Es hat keinen Sinn, nur aufhören hat Sinn.

Es hat auch nichts geholfen, über das Ganze „Ausschnitt“ zu schreiben, und diesem Wort „Ausschnitt“ locker professionell die Variante „Prise“ beizugeben, die doch auf keinerlei Lautlichkeit Rücksicht nimmt. Oder etwa auf Flieder? – Flieder – Prise. Freilich: Lieber äffen, lieber Fratzen schneiden als schwindeln.

Was heißt aufhören? Aufgeben? In der Einsamkeit?
Unsinn.

Stocken auf Stock und Stein, Vergeblichkeit – das übliche Ziegenfutter beim Nachdichten. Sie lügt ja, sie hat ja gefressen, die Ziege. Ich will mir nicht eingestehen, daß ich nicht nur vor fremdem, nachzudichtendem Text, daß ich auch vor mir selbst in Schwierigkeiten gerate? Und diese zage Hoffnung wieder: Ich müsse nur nachgeben, weicher werden, den Starrsinn erweichen, dann – täten sich die Gefilde auf. Wenn es so gehen sollte, ist es nie so gegangen. Wenn es dann ging, hat es die Tugend der Nachgiebigkeit streng vermieden.

Ein glaubwürdiger Fleischwolf, zumal das Jahrhundert sich nachher zusammensetzt. (s.o.).

Starrsinnig hilflos, nach Hilfe und Klarheit dürstend, fische ich aus dem Heft eine Bestellpostkarte, über der gedruckten Adresse ist etwas Platz. Wenigstens den Befund noch einmal, bevor ich – heute – aufhöre. Etwas Platz ist Neuland, frisch gefallener Schnee etc.

Ich halte am Hang dieses Hügels stand
zur Betrachtung der starren, trockenen Welle

Dümmlich beharrend, meine ich: Jawohl, die Welle ist sowohl starr als auch trocken. So habe ich ihre Gegenwart vermehrt, verstärkt, und setze trotzig fort:

in der klaren Luft.

In der ist faul, die Welle ist nicht in der, sondern unter der Luft:

zur Betrachtung der […] Welle
unter klarer Luft

(Erfolge sind selbstverständlich, – nicht eine Spur von Erleichterung deswegen, daß ich ja jetzt das Partnerwort habe zu Duft. Der Duft will sich nicht ins Wort fügen. Da hält etwas einen aufrechten Stand zur Betrachtung, ein Stock, setzt Flieder an. Dann ist oben Duft (über der nach wie vor süperb nichts weiter als Rückenlinie des Hügels) –

es ist der Duft selber und nicht eine Wolke, der Duft selber, der steht, und nicht eine Hülle, aber ich erlaube mir im Trotz diese primitiven Mittel, schreibe sie provisorisch hin (zum Teufel – in der Not – frißt die Wurst auch ohne Brot) baue aber zuvor solide auf:

unter klarer Luft, setze Flieder an an
der Lotrechten, eine Wolke Duft

streiche die Zeile bis auf das Wort Duft, – wegen der Wolke, zu billig eingekauft, korrigiere in das gleichminderwertige

hülle mich in die Eigenheit Duft.

Tja. Es wird wieder nichts,

Aber mit einem Mal tauchen – daneben! – Spiegel auf, ein wohlig fernab liegender Aspekt: diese widerwärtig nichtigen, widerwärtig langweiligen Spiegel, die literarischen, in der Literatur begegnenden Spiegel, das ist wahr, mit ihnen habe ich nichts zu tun, was auch immer hier ist, hier vorliegt auf dem Papier, hier sind sie – erledigt, irgendwo fernab, begraben, in ihrem verdienten Grab. Gewonnen!

Nur wie bekomme ich den Gewinn in den Text? Etwas anderswo, nicht an seinem Ort, aber von ihm Ausgehandeltes? Die Frage ist offen, ein angenehm kühles, artistisches Interesse entwirft sie, während der Text, nun ohne Trotz und Unmut, seine Untauglichkeiten fortschreibt, ja als erweitere er nur die Annehmlichkeit der offenen Frage, indem er sich ihre vorläufig in Gott ruhende Unbeantwortbarkeit lediglich vorführe:

unter klarer Luft, setze Flieder an
ohne Spiegel und ende in Duft,

nein,

suche keinen Spiegel und ende in Duft,

nein,

Spiegelfreiheit, im Spiegellosen

nein,

– für den Fall aber, daß doch etwas Derartiges irgendwie ginge, wird die Überschrift festgehalten:

Aus dem Stocken, den Stock

für den Fall, daß nichts Derartiges geht, mute ich die Überschrift zu: Ohne Spiegel, schreibe aber – für morgen, um mich zu erinnern, an den Rand, zwischen das Gedruckte der Bestellkarte:

verachte die Spiegel,

und kann nun aufhören, vor einer offen unlösbaren Frage.

Der – folglich hoffnungslos unternommene – Versuch ein paar Tage später – auf einem aus einem anderen Heft gerissenen Blatt – streicht die Wörter starren und klaren:

Aus dem Stocken, dem Stock

Ich halte am Hang dieses Hügels stand

zur Betrachtung seiner trockenen Welle

unter der Luft; setze Flieder an

der Versuch weiß nicht weiter und beginnt, sich mit den Spiegeln zu beschäftigen:

Spiegelwand
den kein Spiegel fängt

unter den kein die Kringel, die die metrischen Senkungen bezeichnen, dazu die Bemerkung: Verdunkelt! (Dieses leichte Gehüpf im Text-Ton verdunkelt!)

Andere Probe:

Wo kein Spiegel ist

Ich lasse das Problem, beschäftige mich mit dem Stock:

lotrechte Stelle
die lotrechte Stange
(durchgestrichen, darüber: Weile), ende in Duft.

Stelle wie Stange steuern, ohne daß das weiter beachtet wird, lautliche Anklänge bei, wie auch schon Spiegel zu Flieder. Eben das, was ich am Anfang als Zumutung aufgefaßt habe, als die Zumutung, Laute zu suchen, zu setzen, absichtlich – freilich ist Arbeit eine Zumutung! – geschieht jetzt von selbst, wie es sich gehört, ich pariere. Darauf hätte ich nicht, aber hatte ich hoffen können.

Das Wort lotrecht brauche ich, weil ich den Flieder an der Lotrechten ansetze, an dem Stock, der betrachtet, und weil der Duft oben sein soll, wo er ist.
Jetzt wird der Text fertig, denn er nimmt ein Wort aus dem ratlosen Anfang wieder auf, den lotrechten Eigensinn.

Und die Spiegel, das Spiegeln? Der Platz der Überschrift ist noch frei:

Wie ich Spiegel vermeiden kann (kann – Gesellschaft zu an)

Zu mechanisch. Einen Grad gröber, dafür direkter:

Wie ich Spiegel nicht leiden kann.

Das ergibt, Sprung:

Wie ich Spiegeln vereiteln kann

Ich halte am Hang dieses Hügels stand
zur Betrachtung seiner trockenen Welle

unter der Luft. Setze Flieder an
den lotrechten Eigensinn, ende in Duft.

Nun ist es manifest. Und kein Wort weiter.

Zeit: 21.–31.7.97. Die hier recht lückenlos erwähnten Vorgänge wußte ich vor dem 31.7. nicht, und es ist leicht möglich, daß ich von ihnen auch in – sagen wir – fünf Jahren nicht mehr weiß, während „Petersilie, Suppenkraut / wächst in unserem Garten; / unser Lieschen ist die Braut, / soll nicht länger warten“ vermutlich überdauert, obwohl es mich nach wie vor kaum etwas angeht.

Material:

Ein Text aus Oskar Pastior: HÖRICHT, Verlegt in den Weingärten 13 bei Klaus Ramm in Lichtenberg, 1975
Eine handschriftliche Notiz unter diesem Text
Ein Abhang zur Wiese hinunter, an meinem Sommer-Ort
Ein Widerwillen gegen ein literarisches Motiv

Letzte Fassung vom 15.6.03

Elke Erb, aus Manfred Enzensperger (Hrsg.): Die Hölderlin Ameisen, DuMont, 2005

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