Ezra Pound: Usura-Cantos XLV und LI

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ezra Pound: Usura-Cantos XLV und LI

Pound-Usura-Cantos XLV und LI

BEI USURA

Bei Usura hat keiner ein Haus von gutem Werkstein
die Quadern wohlbehauen, fugenrecht,
daß die Stirnfläche sich zum Muster gliedert
Bei Usura
hat keiner ein Paradies auf seine Kirchenwand gemalt
harpez et luz
oder die Kunde, die zur Jungfrau kommt
und Strahlenkranz, der vorkragt von der Kerbe
Bei Usura
kommt keinem Mann zu Augen Gonzaga, Kind, Kegel,
aaaaaKonkubinen,
es ist kein Bild gedacht, zu dauern, noch damit zu leben
sondern nur seinen Schnitt zu machen, rasch seinen Schnitt zu machen
bei Usura, der Sünde wider die Natur
bleibt dir dein Brot fad alleweg wie Hadern
bleibt dir dein Brot trocken Papier,
kein Weizen vom Bergacker, kein kernig Mehl,
bei Usura wird breit der Pinselstrich
bei Usura verlaufen sich die Ränder
und keiner hat Baugrund für seine Hausung.
Steinmetz gelangt nicht zum Stein
Weber nicht zu seinem Zeugbaum
BEI USURA
kommt Wolle nicht zu Markt
Schaf wirft nichts ab bei Usura
Ursura ist die Räude, Usura
macht stumpf die Nadel in der Näherin Hand
legt still der Spinnerin Rocken. Pietro Lombardo
nicht aus Usuras Kraft
Duccio nicht kraft Usura
noch Pier della Francesca; Zuan Bellin‘ nicht kraft Usura
noch ward kraft ihrer ‚La Calunnia’ gemalt.
Nicht kraft Usura Angelico oder Ambrogio Praedis,
Und keine Kirche von behaunem Stein, gezeichnet: Adamo me fecit.
Nicht kraft Usura Saint Trophime
Nicht kraft Usura Saint Hilaire
Usura setzt an den Meißel Rost
Und legt den Handwerkern das Handwerk
Nagt an des Webstuhls Werft
Kein Mensch weiß Gold zu wirken in ihr Muster;
Azur krebskrank an Usura, cramoisi wird nicht bestickt
Smaragd hat keinen Memling
Usura metzt das Kind im Mutterleib
Und wehrt des jungen Mannes Werben
Hat Schlagfluß in das Bett gebracht und liegt
zwischen der jungen Braut und ihrem Mann
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaCONTRA NATURAM
Man brachte Huren nach Eleusis hin
Und setzte Leichen zum Gelag
Auf Geheiß von Usura.

 

 

 

Voraussatz

Ezra Pound (30. Oktober 1985 – 1. November 1972), der große Dichter und geniale Wegbereiter der modernen Literatur, hat seinen lebenslangen Kampf gegen den Ausverkauf des Lebens, der Natur und der Kunst unter der Feindbenennung „Usura“, d.h. „Wucher“ geführt. Dahinter steckt nichts geringeres als die eigentliche Treibfeder unseres „unverzichtbaren“ Industriewachstums: nämlich der Kapitalverzinsungszwang Dies ist es, was uns in letzter Instanz immer tiefer in die ökologische Krise hineinreitet und die real existierenden Gesellschaftsordnungen weltweit auf einen tödlichen Konflikt programmiert hat. Pounds Polarisierung der beiden Positionen: Usura, der Geldvermehrung durch den Zins, und Eleusis, der natürlichen Vermehrung, rückt seine dichterische Aussage in der gegenwärtigen Krise somit in eine Schlüsselstellung. Zudem spricht der Zoll, den Pound für seine Blasphemien gegen das zentrale Credo der politischen Ökonomie entrichtete, die Sprache einer furchtbaren Authentizität. Wir rekapitulieren: der Käfig für den Sechzigjährigen im Militär-Straflager bei Pisa (Mai-November 1945), der andauernde Ausschluß aus der Gemeinschaft der „Wohlgesinnten“, das Versiegen seiner dichterischen Kraft (1959) und zuletzt, weitere dreizehn Jahre lang, der bittere Rückzug in das Schweigen und eine totale Lebensverweigerung. Man möchte meinen, all das stellte an uns das Ansinnnen, ernstgenommen zu werden.
Freilich werden seine Aussagen zum Thema des Wuchers für uns beeinträchtigt durch seine politische Verstrickung in das faschistische Zeitgeschehen. Aber gerade die Ambivalenz seines Standpunktes zwischen Revolution und Konterrevolution wirft die Frage auf, wieso Pound, der sich rückhaltlos für Ziele einsetzte, die den unseren so ähnlich sind, in die Irre gehen konnte. Ihre Beantwortung könnte die wichtige Funktion einer Warnung vor ideologischen Fußangeln auf dem Weg zu alternativen Lösungen haben. Indem uns Pound in seinem Lebensgedicht, den Cantos, ein so genaues Logbuch seiner Irrfahrten und seines Scheiterns vorgelegt hat, machte er dies Scheitern für uns fruchtbar, und Picassos Wort, daß die Kunst eine Lüge sei, die uns die Wahrheit besser begreifen lehrt, stellt uns gerade für den „Fall Pound“ vor besondere Aufgaben.
Wenn Pound in den Cantos und andernorts behauptet, daß die künstlerische Kraft und die wucherische Mentalität einer Periode in negativer Abhängigkeit voneinander stehen und daß er somit an der Reinheit und Schärfe des Pinselstrichs in der Malerei erkennen könne, welcher Spielraum dem Wucher gegeben wurde, dann spricht die Unschärfe seines eigenen politischen Denkens sicher Bände über unsere Gegenwart. Dennoch bleibt die großartige Einfachheit, mit der er in dem berühmten Canto XLV das Phänomen der wucherischen Wertabstraktionen auf anderthalb Seiten in den Griff bekommt, als ein Monument der gerechten Motivation, die in ihm angelegt war, bestehen.
Im Grunde seines Wesens war Pound ein Chaot, immer unterwegs auf der Suche nach irgendeiner gültigen Ordnung. Dabei probierte er nacheinander einige Ordnungen durch, verwarf sie aber letzten Endes alle. So beginnt Canto I mit der archaischen Totenbefragung in Anlehnung an den „Nékyia“-Abschnitt Homers, d.h. Pound geht hinter die historische Zeit zurück, um die immer abstrakteren Werte der westlichen Zivilisation an einer realen Deckung zu messen, und, 40 Jahre später, schließt das Gedicht mit dem Motivgeflecht der Na-khi (eines animistischen Naturvolks in Li-chiang im südwestlichen China), mit Artemis, der kretischen Herrin der wilden Tiere und der nicht domestizierten Natur, und dem megalithischen Denkmal von Stonehenge. So kehrt sich Pound am Ende gänzlich ab von den sekundären Ordnungen der Geschichte und der Zivilisation zugunsten der primären Realität: der symbiotischen Vernetzung von Mensch und Natur.
In der Umständlichkeit seiner rückläufigen und archaisierenden Orientierung liegt ein tieferer psychologischer Sinn. Pound wollte, wie er sagte, „das Wesen des Irrtums“ ausmachen, der zu den lebensfeindlichen und asozialen Strukturen unseres Zeitalters geführt hat, wollte also gewissermaßen die prätraumatische Ebene des Erlebens wiedererlangen, um zu einem neuen Anfang zu kommen. Die Lokalisierung des ursprünglichen Irrtums ist nach seiner Meinung unerläßlich, sofern man nicht nur an den Symptomen eines bösartigen Wirtschaftssystems herumdoktort, sondern den Krankheitsherd selber beseitigen will. Es ist ein fundamentales Gesetzt der Psychoanalyse, daß die psychische Fehlentwicklung in Kraft bleibt und als blinder Wiederholungszwang zu immer neuen Symptombildungen führt, wenn das anfängliche, oft frühkindliche Trauma nicht ins Bewußtsein geholt werden kann. Was Pound sich bei seinen historischen Erkundungen der menschlichen Ordnungen selber nicht eingestand, war aber die zutiefst anarchische Natur seiner verdrängten Sehnsüchte: Er wollte eine Ordnung, die selbstregulierend durch „innere Anziehungskraft“ hält, eine Selbstverwirklichung, die ihn nicht festlegte, sondern ihm nach wie vor alle Wege offen hielt, eine Familie, „mit der wir nicht blutsverwandt, sondern temperamentsverwandt sind“, kurzum eine Ordnung so weit und offen wie die ganze Welt. Daß eine solche Ordnung aber eine gewisse Familienähnlichkeit mit der Unordnung hat, wollte ihm nicht in den Sinn. Und so akzeptierte er wiederholt Teillösungen, in denen zu viele der mitmenschlichen Widerspräche, gegen die er antrat, nicht mitenthalten waren.
Dazu Octavio Paz: „Seine Nostalgie nach der Agrargesellschaft war keine Nostalgie nach der demokratischen Dorfgemeinschaft, sondern nach den alten imperialen Gesellschaften wie China und Byzanz, zwei großen bürokratischen Reichen. Sein Irrtum bestand darin, daß seine Vision dieser Kulturen die riesige Last des Staates, welche die Bauern, Handwerker und Kaufleute erdrückte, ignorierte.“ Hier sehen wir den interessierten Selbstbetrug des Dichters, der durch die industrielle Produktionsweise seine Funktion verloren hat: Indem er die Problemlösung für die Künstler, nämlich die Sicherung ihrer prekären materiellen Existenz, als allgemeine Lösung annimmt, gibt er sich mit der Verarztung eines Symptoms zufrieden. Zugleich verfällt er der fatalen Denkstruktur der „antizipierten Versöhnung“, die ihm fortan die Inkonsequenz des unsicheren Lavierens zwischen der Verurteilung der Zinswirtschaft schlechthin und der Bejahung eines gemäßigten Zinses erlaubt. Gerade die antizipierte, nur imaginäre Aussöhnung der gesellschaftlichen Widersprüche gehört ja zu der zentralen Strategie einer faschistischen Krisenbewältigung – so leugnet die „homogene, organisch-gewachsene Volksgemeinschaft“ im Namen einer „höheren Identität“ (der Nation) die Interessenkonflikte zwischen den Klassen. Sie frönt einem harmonistischen Denken, das nur dadurch zustande kommt, daß die „anderen“ (etwa die Juden, die Gastarbeiter, die Studenten, die Völker der Dritten Welt) von der Lösung ausgeschlossen bleiben. Virulent wird das faschistische Trugbild der Versöhnung da, wo es bewußt oder unbewußt die Probleme der „anderen“ überspringt,  um im Interesse eigensüchtiger Ziele – des einzelnen oder der Gruppe – die universale Behebung der Widersprüche zu behaupten. Etwa wurde Pounds Eintreten für den „Ständestaat“ Mussolinis offensichtlich dadurch beeinflußt, daß ihm ein hierarchisches Ordnungs- und Unterordnungsprinzip auch das geistige Privileg des Künstlers gegenüber der Massengesellschaft zu garantieren schien. Seine geschärfte Sensibilität für den gesellschaftlichen Mangel an Gegenseitigkeit beruhigte sich mit dem eigenen „höherwertigen“ Anspruch – aber nicht auf Dauer.
Um zu zeigen, daß Pound wirtschafts- und zivilisationskritischer Ansatz weder allein steht noch allein aus sich selber verständlich wird, bin ich in meinen Ausführungen zu Wachstum und Wucher weit in die Geschichte und Vorgeschichte zurückgegangen und habe dafür viele Autoren von sehr unterschiedlicher Ausrichtung bemüht. Gerade in den letzten Jahrzehnten sind Werke erschienen, die dazu angetan sind, unsere eurozentrischen Denkgewohnheiten radikal aus dem eingefahrenen Gleis zu werfen. …

Eva Hesse, aus dem Vorwort, Januar 1985

 

Die Pound-Übersetzerin Eva Hesse

weist anhand der hier zum erstenmal im Faksimile veröffentlichten Manuskripte und Typoskripte der berühmten Usura Cantos nach, daß Canto LI ursprünglich ein Teil des Canto XLV war.

Arche, Ankündigung, 1985

 

Die Zorngebärde ist absolut

− Die Usura-Cantos des Ezra Pound. −

Damit, daß sie bei der Teilung der Welt zu kurz kamen, mögen nicht alle Dichter sich abfinden. Sie fordern zurück, was ihnen vorenthalten wurde: Ehre, Einfluß, angemessene Honorierung. Wir kennen die einschlägigen Rechnungen. „Früher las man den Dichter, und man bezahlte ihn“, klagte Brecht und mahnte die Mächtigen: „Hütet euch, ihr! Ihr könnt uns durchaus nicht entbehren!“ – Wirklich nicht? Oder waren es nicht doch die Dichter, die zuzeiten die Mächtigen nicht entbehren mochten?
Zum Beispiel Ezra Pound. Auch er war ja der Meinung, die Dichter seien für die Gesellschaft unentbehrlich und von ihr entsprechend zu honorieren. Vermutlich war diese Auffassung vom Dichterberuf folgenreicher als manch andere seiner Ansichten. „Daß das Land seine 5 bis 10 besten Autoren nicht ernähren will“, schreibt er an den Lyriker Zukofsky, sei der springende Punkt seiner Geldtheorien für die Vereinigten Staaten.
Er schrieb das aus dem faschistischen Italien, als er sich anschickte, aus dem Sympathisanten zum Gefolgsmann Mussolinis zu werden. Nicht leicht zu entscheiden, was den Ausschlag gab: Mussolinis politisches Programm eines faschistischen Ständestaats oder seine Attitüde als Freund und Förderer der Künste. Später verstieg sich Pound gar zu der These, der Duce und Konfuzius hätten in gleicher Weise erkannt, daß ihr Volk die Dichtung – und das meinte auch die Dichter – benötige. Pound sprach vom „Risiko Mussolini“. Man weiß, wie es ausging: im Pisaner Strafcamp und im St. Elisabeth’s-Hospital, im Abbruch des Werks und im Eingeständnis des Scheiterns.
Pounds letzte schriftliche Äußerung, die im Druck erschien, stammt aus dem Jahr seines Todes und betrifft den politischen Zentralgedanken seiner Cantos:

Was USURA angeht,
so hatte ich das unscharf eingestellt und ein Symptom für die Ursache gehalten.
Die Ursache ist HABGIER.

Das ist eine Korrektur, oder mehr: eine Absage. Ein eindeutig moralischer Begriff tritt an die Stelle der schillernden Vorstellung von „Usura“. Natürlich hebt dieses späte Eingeständnis das Werk von Cantos nicht auf, aber es relativiert doch entschieden die dort versuchten gesellschaftskritischen Diagnosen. Ist Pound mit seiner Kritik am „Wucher“ einem gesellschaftlichen Symptom aufgesessen?
„Usura“ erscheint bereits in Pounds Höllen-Cantos (14–15). Dort wird die Kritik am Inferno der modernen Zivilisation auf Dante und dessen Verurteilung der Wucherer zurückgeführt. Pound verschärft seine Verdammung von „Usura“ in den 1936 geschriebenen Cantos 45 und 51 sowie in dem 1941 entstandenen „Addendum“ zum Canto 100. Auf diese drei Texte hat Eva Hesse sich beschränkt, sie ausführlich kommentiert und durch die Mitteilung von Entwürfen und Fragmenten ergänzt. Canto 51, der ursprünglich ein Teil von Canto 45 war, erscheint zum erstenmal in deutscher Übersetzung. Auf den Abdruck anderer Cantos, die sich wesentlich mit der Aufzählung wucherischer Praktiken beschäftigen, hat die Herausgeberin und Übersetzerin verzichtet. Ihr kommt es auf den „grundsätzlichen Ton der Denunziation“ an, der allerdings in allen drei „Usura“-Texten unüberhörbar ist. Eva Hesse geht es um mehr als Philologie.
Das wird deutlich in ihrem Aufsatz „Wachstum und Wucher“, in dem sie die „Aktualität von Pounds Usura-Begriff“ aufzeigen möchte. Er umfaßt etwa ein Drittel des ganzen Bandes. Viel ist da die Rede von diversen Geld- und Wirtschaftstheorien, von Marx und Freud, Baudrillard und Bergfleth – und lediglich am Schluß von Pound selbst. Und doch läuft die zitatengespickte Darlegung auf Pound zu. Auf den Nachweis, daß seine Ideen, zumindest im Ansatz, nicht falsch waren. Der Kult von Eleusis erscheint als Gegenmotiv zur Praxis von Geldwesen und Wucher. So lautet denn die Schlußfolgerung:

Überall in Pounds Kontrastierung von ,USURA‘ und ,ELEUSIS‘ ist die Erkenntnis implizit, daß die Geschichte des Geldes die Geschichte der Profanierung der Natur ist.

Das ist die zugespitzte, zugleich aber pauschale These; freilich eine, über die man diskutieren könnte. Auch die eingestreuten Polemiken gegen die Reagan-Administration ließe man sich gefallen, erweckten sie nicht den Eindruck, sie sollten Pounds antiamerikanische und antikapitalistische Affekte gewissermaßen erneuern und rechtfertigen. Fehlt nur der Satz: Auch Pound wäre Reagan nicht grün. Jede politische Indienstnahme dieses Dichters – auch die hier versuchte marxistischökologische – kann heute nur fragwürdig sein. Wie sehr, das zeigt eigentlich deutlich genug Eva Hesse selbst. Nämlich in ihren informativen Erläuterungen zu den Usura-Cantos. Pound wollte in seinen Cantos die Geschichte „einbegreifen“, aber er hatte keinen Sinn für die Geschichtlichkeit der von ihm zitierten Phänomene. Was er überzeitlich wünschte, war oft von zweifelhafter Aktualität. So schöpfte er aus trüben Quellen. Etwa aus Mussolinis Mailänder Rede vom Oktober 1934. Pound rühmt nicht bloß ihre sozialen Versprechen („gerechte Löhne und la casa decorosa“, also anständige Behausung). Er preist auch ihre ästhetische Qualität. Sie erinnert ihn, wie er an Eliot schreibt, an Brancusi – an „Steinquadern, denen kein Makel anhaftet“.
Der poetische Reflex der Rede findet sich am Eingang von „Canto 45“:

Bei Usura hat keiner ein Haus von gutem Werkstein
die Quadern wohl behauen, fugengerecht,
daß die Stirnfläche sich zum Muster gliedert.

Ein Beispiel dafür, wie sich in Pounds Usura-Begriff soziale und ästhetische Motive verschränken. Aber auch Indiz für Kritiklosigkeit gegen faschistische Rhetorik.
Schlagender noch ist ein anderes Beispiel: das deutschsprachige Einsprengsel in „Canto 51“, wo es heißt:

Thus speaking in Königsberg
zwischen den Völkern (!) erzielt wird
a modus vivendi.

Der Anmerkungsteil präsentiert dazu einen Notizzettel Pounds mit einem Satz von Rudolf Heß, in dem „eine wirkliche Verständigung zwischen den Völkern“ gefordert wird. Wenige Tage nach dem Röhm-Massaker, am 8. Juli 1934, hatte Heß in einer Rede in Königsberg – mit Hilfe des Vorurteils gegen Homosexuelle – bei den ehemaligen Frontkämpfern Verständnis für die Morde wecken wollen. Und Pound war, wie Eva Hesse zeigt, nicht der einzige, der an die rhetorische Bekundung von Verständnisbereitschaft glaubte. Er nahm die Redefloskel für bare Münze. Im Typoskript-Entwurf erscheint sogar der Name Rudolf Heß, der dann in der Druckfassung – aus politischen? aus poetischen Gründen? – entfiel. Und dort ist dann „modus vivendi“ allerdings weniger vollmundig als „wirkliche Verständigung“.
Wenn es um direkte Erfahrung ging, konnte Pound auch schärfer sehen. Das beweist ein anderer Entwurf zu Canto 51. Pound äußert sich dort sarkastisch über die Teilnehmer an einem Empfang bei Mussolini und spottet über „die jungen Blindgänger in Uniform, die Gockel der Bewegung“. Aber die daran anschließende Frage „Was zahlt der Arbeiter für sein Kalbfleisch / auf dem Ortsmarkt?“ bleibt ohne Antwort. Und so schließt der Entwurf: „Und so entschwanden sie / aus der Geschichte / aus der Geschichte einer Nation“ – leider aber auch aus dem Canto, in dem diese Frage an die Praxis des Faschismus hätte gestellt werden können. Offenbar wollte Pound sich in seiner Parteinahme durch etwelche Zweifel nicht mehr irritieren lassen.
„Das Übel heißt Wucher (…) / Hier ist das Kernhaus des Bösen“, dekretiert das „Addendum“ zu „Canto 100“. Das klingt wie eine letztwillige Verfügung. Die Zorngebärde ist absolut. 1941, als Pound dieses „Addendum“ schrieb, stand er bei Canto 71 und wollte wohl – in Analogie zu Dante die – projektierte Hundertzahl seiner Gesänge mit einer letzten Verdammung des Wuchers schließen. Man weiß, wie alles ausging: über die Hundertzahl hinaus, in Abbruch und Verstummen … An den Usura-Cantos läßt sich ablesen, daß der große Zorn alles um das Zentrum des „Wuchers“ anordnet – wie ein starker Magnet die Eisenspäne. So imponierend der Zorn auch ist, er läßt um so peinlicher die Mißgriffe im Detail hervortreten.
Pound war alles andere als ein systematischer Denker. Ihm gelang es nie, schreibt Eva Hesse, „komplexe ökonomische Zusammenhänge diskursiv darzustellen“. Und so war auch sein Usura-Begriff (vor allem in der Auffassung von Geld und Zins) nie ganz eindeutig – nämlich so unstabil und changierend wie die metamorphotische Gestalt seiner Cantos.
Um so erstaunlicher – vielleicht auch begreiflicher – ist darum Pounds Plädoyer für die Schärfe der Kontur, für die genaue Linie. Er macht sie geradezu zu einem doppelten Kriterium: für die Redlichkeit des Künstlers wie der Gesellschaft. „Bei Usura wird breit der Pinselstrich“, heißt es in „Canto 45“. Und Pound erläutert diese rätselvolle Stelle seinem italienischen Übersetzer: „Ich kann den amtlichen Zinssatz und den Grad der Duldung für den Wucher in jeder beliebigen Epoche anhand der Qualität der Umrißlinien in der Malerei ausmachen.“ – Eine frappierende These, die ästhetisches Urteil (oder Vorurteil) mit Moralität, Ökonomie, Gesellschaft zusammenbringt. Sie bringt uns auf den springenden Punkt seiner Geldtheorie zurück – auf den Zusammenhang von Dichter und Gesellschaft, die ihre Dichter ernährt oder nicht ernähren will.
Wie scharf Pounds Linie jeweils sein kann, weiß jeder seiner Leser. Aber auch: wie „breit der Pinselstrich“ vor allem in den mittleren Cantos wird – wie zerfasert, wie aufgelöst die Kontur des großgewollten Werkes überhaupt. Eine Folge von „Usura“? Eine Folge von Denkmeidung und Irrtum? Pounds Auffassung, gegen seine eigenen Cantos gewendet, läßt sein Scheitern in einem anderen Licht erscheinen.

Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.12.1985

 

Poetischer Atem und Pounds Usura

– Ein Gespräch. Es handelt sich um die Abschrift der Tonbandaufnahme einer Frage- und Antwortstunde, die am 26. April 1971 mit Literaturstudenten der University of Wyoming, Laramie, Wyoming, abgehalten wurde. –

(…)

Allen Ginsberg: Oder haben Sie eine Ahnung davon, wie die quantitative Verslehre sich von der qualitativen oder akzentuierten Verslehre unterscheidet? Je davon gehört?

Dozent: Sagen Sie nicht, Sie hätten noch nichts davon gehört, sondern sagen Sie einfach, Sie würden sich nicht mehr daran erinnern. Ich habe bereits davon gesprochen.

Ginsberg: Haben Sie davon auch einmal in bezug auf Pound gesprochen?

Dozent: Nein.

Ginsberg: Warum sprechen wir nicht davon? Das interessiert mich nämlich. Pound sagt irgendwo in einem Essay, er glaube, die Verslehre der amerikanischen Dichtung werde sich „der klassischen Quantität annähern“ – annähern, also nicht identisch mit ihr werden. Also das ist klassische Quantität? (zitiert aus dem Gedächtnis)

Malest, Cornifici, tuo Catullo,
malest, me hercule, et ei laboriose,
et magis magis in dies et horas
quem tu, quod minimum facillimumquest,
qua solatus es allocutione?
irascor tibi, sic meos amores?
Paulum quid lubet allocutionis,
maestius lacrimus Simonideis.

So. Nach dem, was ich von Pound begreife, hörten die Römer auf die Vokallänge, und sie hatten für jeden Vokal einen bestimmten Wert (Länge), Halb-Vokale und ganze Vokale, lange und kurze Vokale. „Paulum quid lubet“ – das „um“ ist wohl lang, das „Pa“ kurz, denk ich. Ich meine, ich kenne nicht das System, ich kenne nur die allgemeine Idee. „Paulum quid lubet allocutionis“. Manche dieser Vokale sind kurz, andere sind lang. Man könnte also vier kurze und zwei lange Vokale zählen, das ergäbe eine Zeile aus vier langen Vokalen – eine Zeile aus vier Vokalen halber Längen und zwei Vokalen voller Längen. Verstehen Sie, was ich mit halber Länge, im Gegensatz zu voller Länge meine? Letzteres nimmt beim Sprechen längere Zeit in Anspruch. Daneben hatten die Römer wohl ein festes grammatisches Schema, in dem gewissen Vokalen volle Länge zugeordnet wurde. Im Englischen können wir uns dem nur annähern. Das „a“ in half ist nur ein kleiner Halb-Vokal; das „a“ in fall ist lang – ein Vokal voller Länge. Und so komponierten die Römer Zeilen von exakt gleicher Länge, die sich etwa aus vier kurzen und zwei langen Vokalen zusammensetzten, und das entsprach dann einer Zeile aus vier Vokalen voller Länge, und die nächste Zeile konnte sich aus sechs kurzen und einem langen Vokal zusammensetzen, aber auch dies entsprach vier Vokalen voller Länge. Drücke ich mich klar aus, oder ist das verwirrend?

Student_in: Nein, ganz klar.

Ginsberg: Es ist ein bißchen abstrakt, aber nicht allzusehr. Damit hätten wir wohl die Grundlagen der klassischen quantitativen Metrik. Die Vokale werden also in kurze und lange eingeteilt, und später, als die Engländer die akzentuierende Metrik übernahmen und die Betonungen zu zählen begannen, das heißt die Hebungen, die Akzente: „This ist the forest primeval, The murmuring pines and the…“, zählten sie nicht die Vokallängen, sondern die Schärfe der Akzente auf den Vokalen. Aber sie übernahmen die klassische Notation von lang und kurz und den klassischen Versfuß. Ein klassischer Versfuß bestand etwa aus zwei langen und einem kurzen Vokal; ein anderer aus einem kurzen und einem langen. Die englischen Dichter übertrugen also diese Versfüße auf die Akzente. Anders gesagt, sie nahmen einfach das Gerüst der klassischen Zählweise und übertrugen es auf die Akzente, anstatt es auf die Quantität, das heißt die Länge, zu beziehen.
Pound meinte, dieser Übergang habe das ganze Sprachbewußtsein so reduziert oder homogenisiert, daß man nicht mehr das Melodische eines Vokals wahrnahm, und daher nicht mehr den Affekt und das Emotionelle bemaß, und der Stimmführung der Vokale keine Beachtung mehr schenkte, dem musikalischen Klang und der Länge der Vokale, wie in der griechischen und lateinischen Verslehre, sondern den Akzentzeichen. Pound begann daher schließlich eine gewissermaßen musikalische Verslehre zu schaffen, die durchweg auf o basiert, auf den Vokalklängen, wie etwa das großartige Stück über Usura in den Cantos.
Davon gibt es übrigens eine ganz ausgezeichnete Lesung Pounds, 1966 im Spoleto Theater aufgenommen: da war Pound schon an die 80. Könnte auf Douglas Records wiedererschienen sein, weiß nicht genau. Ist auf jeden Fall erhältlich, sollte man sich besorgen; er liest da dies und andere cantos, und ein paar von den ganz späten. „Canto XVL“:

With usura hath no man a house of good stone
each block cut smooth and well fitting

Ich weiß nicht, ob Sie das als Vokale hören können –

each block cut smooth and weil fitting
that design might cover their face
with usura
hath no man a painted paradise on his church wall
harpes et luthes
or where virgin receiveth message
and halo projects from incision

OK, dieses „or where virgin receiveth message / and halo projects incision“ ist wohl „irgin eiveth essage / alo rojects incision“ – eine lustige Art von erhabener Musik, die entsteht, wenn man sich Zeile für Zeile auf die Folge von Vokallängen konzentriert, die ja ziemlich gleichwertig sind.

aaaaawith usura
seeth no man Gonzaga his heirs and his concubines
no picture ist made to endure nor to live with
but it is made to sell and sell quickly
with usura, sin against nature,

(Das ist für die makrobiotisch bewußten Leute – so, bei usura wird das Brot nicht zum Essen sondern zum Geldverdienen hergestellt.)

with usura, sin against nature,
is thy bread ever more of stale rags
is thy bread dry as paper
with no mountain wheat, no strong flour

(Allein als Vokale, sehr interessant)

aaaaano mountain wheat, no strong flour
with usura the line grows thick
with usura is no clear demarcation

Hätte er in jambischen Pentametern geschrieben, hätte er wahrscheinlich versucht, die Wörter in das vorgefaßte Betonungsschema einzupassen, und am Ende hätte er wohl sowas geschrieben wie: „with usura the line gets thick“. Dadadadadadadada. Und bestimmte Wörter, wie das Verb, wären Füllsel gewesen, wie „gets“, Hilfsworte, die nichts aussagen, einfach Verben, die von irgendeinem intrasensitiven Tun reden, aber kein eigentliches Bild darstellen. Da Pound sich auf die Wesenhaftigkeit jedes einzelnen Vokals konzentrierte, muß jeder Vokal (Allen beginnt sehr langsam zu sprechen; hier durch Bindestriche angedeutet) so-ausgesprochen-werden-als-ob-er-etwas-aus-sage. Und das heißt, er sagt etwas aus und steht nicht bloß so da. Anders ausgedrückt, wenn er geschrieben hätte: „with usura the line gets thick“, würde man das gets verschlucken. Aber das schreibt er nicht, sondern: „with usura the line grows thick“.
Mit anderen Worten, er legt dem Klang eine Aussage bei, indem er sich nämlich auf die Tatsache konzentriert, daß der Klang lang und real und mit Gefühl sprechbar ist – deshalb sollte er besser eine Aussage haben und darf nicht einfach so ein unscheinbares Wort wie gets sein – gets sagt ja gar nichts aus. Es ist, als beschreibe er mit diesem Strich (line) die Entwicklung von Jahrhunderten, wie die Leute Bilder kaufen, als Anlageobjekte, um sie aufzuhängen, um sie weiterzuverkaufen, bzw. sie werden eher für den Verkauf gemalt als aus religiösen Motiven, und der Strich verliert dabei immer mehr an Feinheit und Sorgfalt und wird einfach so ein schneller Strich für’n Dollar; der Strich vergröbert sich im Lauf der Zeit mit dem Wachstum der Banken, des Kapitalismus, mit der Zunahme des ausbeuterischen Gebrauchs des Geldes. Diese ganze Sache mit usura ist eine Zusammenfassung seiner allgemeinen ökonomischen Theorien, seiner Kritik an den Banken und am Mißbrauch des Geldes, eine Kritik, die Ihnen vollkommen einleuchten wird, wenn man sie anders formuliert – wie wenn z.B. jemand ein Studentenwohnheim baut, um daran Geld zu verdienen, er ja bestimmt Pfusch am Bau leisten wird: „bei usura werden die Mauern dünn, bei usura senken sich die Decken“. So spricht er von der Malerei, der Wandmalerei

with usura the line grows thick
with usura is no clear demarcation
and no man can find site for his dwelling.
Stone cutter is kept from his stone
weaver is kept from his loom
WITH USURA
wool comes not to market
sheep bringeth no gain with usura
Usura is a murrain, usura
blunteth the needle in the maid’s hand
and stoppeth the spinner’s cunning. Pietro Lombardo
came not by usura
Duccio came not by usura
nor Pier della Francesca; Zuan bellin’ not by usura
nor was ,La Callunia‘ painted.
Came not by usura Angelico; came not Ambrogio Praedis,
Came no church of cut stone signed:
Adamo me fecit.
Not by usura St Trophime
Not by usura Saint Hilaire,
Usura rusteth the chisel
it rusteth the craft an the craftsman
it gnaweth the thread in the loom
None learneth to weave gold in her pattern;
Azure hath a canker by usura: cramoisi is unbroidered
Emerald findeth no memling
Usura slayeth the child in the womb
It stayeth the young man’s courting
It hath brought palsey to bed, lyeth
between the young bride and her bridegroom
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaCONTRA NATURAM
They have brought whores for Eleusis
Corpses are set to banquet
at behest of usura.

„Azure hath a canker by usura“ – eine nette kleine Synkope. Genau so, wie Williams’ Gehör fein darauf geeicht war, „I’ll kick yuh eye“ oder „Atta boy! Atta boy!“ zu hören (also die Eigenheiten seines Stimm-Rhythmus und der Atmungs-Mundart-Rutherford-New Jersey-Sprache, auf denen er, seine eigene natürliche Musik nachahmend, eine musikalische Struktur errichtete), verlagerte Pound sein Gehör, oder wie er in den Cantos sagt, „den Pentameter zu durchbrechen, war der erste Ansatz“ für eine Bewußtseinsveränderung in diesem Jahrhundert. Er meinte nichts Geringeres als die vollständige Veränderung des menschlichen Bewußtseins… Wie schon Plato sagte:

Wenn die Tonart (das Taktmaß) der Musik wechselt, wanken die Mauern der Stadt.

Soll heißen, wenn die Gedanken der Leute sich verändern, wie etwa bei der Rockmusik, ändert sich das ganze „body-English“, die Körperwahrnehmung, die sinnliche Wahrnehmung – wie man etwa plötzlich das irre Schlitzäugige Gesicht Nixons oder sowas erkennt. Ich meine, es findet tatsächlich ein Sinneswandel statt, wenn der Rhythmus sich ändert… eine Änderung der offenbaren sinnlichen Phänomene.
„Den Pentameter zu durchbrechen, war der erste Ansatz.“ Das steht irgendwo in den Cantos, ich glaube in den Pisaner Cantos. Ich weiß nicht genau, wo er das herhat, wie er das Studium der Vokale in Musik umgesetzt hat, aber er fing damit an, daß er untersuchte, wie die mittelalterlichen Minnesänger und Troubadoure ihre Stanzen komponierten. Sie standen vor demselben Problem wie er. Verlagerung von der klassischen zur vulgären (volkstümlichen oder gesprochenen) Sprache. Sie wechselten vom lateinischen zum provenzalischen Französisch und zu spanischen Dialekten, und schrieben zum ersten Mal in ihrer Landessprache; daher mußten sie ein Versmaß für die Zeilen in provenzalischem Französisch finden. Pound wechselte vom klassischen Englisch zum provenzalischen Amerikanisch, versuchte, Amerikanisch statt Englisch zu schreiben, wie er immer wieder sagt, und wie besonders Williams immer wieder sagt – also ein Wechsel vom Englischen zum Amerikanischen. Pound unternahm es, von der alten akzentuierenden Verslehre des England der letzten 200 Jahre zu einer eher idiomatischen Sprache überzugehen, oder wie er es ausdrückt, Gedichte sollten mindestens ebenso gut geschrieben sein wie Prosa. Sie sollten nicht kitschiger sein als Prosa, wie etwa bei diesem… Walter Benton, oder wie heißt dieser andere noch mal?

Student_in: Rod McKuen.

Ginsberg: Rod McKuen, yeah, Also sie sollten keine Inversionen enthalten, keine falsche Schwammigkeit…
So. Er unternahm es also, von einer Sprache zu einer anderen überzugehen, versuchte, vom Englischen zum Amerikanischen zu kommen, eine Verslehre zu finden, mit der sich das Sprechen tatsächlich metrisch wiedergeben ließ, so daß man gleichmäßige Musik daraus gewinnen konnte. Und ursprünglich entschied er sich, teils aufgrund seines Studiums der Musiker, für „die Stimmführung der Vokale“. Nicht bloß die Vokallängen, sondern auch der Ton, in dem der Vokal ausgesprochen wurde. Auf den Spoleto- und Caedmon-Vorlesungen von „Usura“ sagt er nämlich z.B. (wechselt die Stimmlage): „Usura slayeth the child in the womb“, und das ist doch was Musikalisches, er verwendet verschiedene Noten.

Student_in: Liest er das da so in dem Tempo, wie Sie es jetzt vorgelesen haben?

Ginsberg: Ich hab’s etwas übertrieben.

Student_in: Was? Die Langsamkeit?

Ginsberg: Nein. Er liest das so langsam. Erhaben, majestätisch. Mir sind drei Aufnahmen davon bekannt. Eine grämliche, mürrische Irrenhaus-Fassung, in den 50er Jahren im St. Elizabeths entstanden, schlechte Qualität; eine wirklich großartige, seltene Aufnahme, ’57 oder ’58 in der Universität Mailand entstanden, nachdem er aus der Klapsmühle rausgekommen war, das ist enorm kraftvoll und geradeheraus, eher so wie ich es gelesen habe; dann gibts noch eine dritte Lesung von ’66, mit demselben Vokal-Satz, aber eher geflüstert, Stimme eines alten Mannes, wie der gebrochene Prospero, Stimme eines alten Mannes. Aber die Langsamkeit, yeah.

Student_in: Ich habe deshalb gefragt, weil die Interpunktion und die Syntax mir auf ein höheres Tempo hinzudeuten schienen.

Ginsberg: Nein, er liest das langsam. Erhaben und langsam. Das ist ja gerade das Interessante daran. (…)
In „Canto XLV“ hat Pound den großen Exorzismus des Wuchers unternommen. Im darauffolgenden Canto führt er das kommentierend näher aus. Er befaßt sich mit Ereignissen und Szenen des 1. Weltkriegs, mit Leuten, die am Krieg Geld verdienen; er befaßt sich mit der Banken-Politik im Italien der Renaissance. Als er auf die amerikanischen Erfahrungen kommt, sagt er, wenn eine kleine Gruppe von Privatleuten ein Monopol für die Emission von Geld, von Währung, bekommt, dann dringt Korruption in unsere polis ein, dringt in unsere Regierung ein und in die Lenkung der ökonomischen und politischen Angelegenheiten. Dann kommt er auf diese alte Begebenheit, von der wir in der Grundschule und im Gymnasium ein bißchen gelesen haben, den Streit zwischen Jefferson und Hamilton über Banken und Banken-Politik. Ich verstehe das, was er sagt, so: die amerikanischen Banken (gestützt auf die von Paterson, den er zitiert, definierte Politik der Bank von England) kontrollieren das Geld; anstatt daß der Staat selbst das Geld emittiert, geben die Banken das Geld aus. So ähnlich wie bei der Sache mit den Öl-Konzessionen, von denen man jetzt in Alaska spricht. Dieses Öl gehört eigentlich uns, oder gehört Alaska oder dem Land oder den USA oder dem indianischen Staat Alaska. Die Ölgesellschaften zahlen dem Staat Alaska 1 Milliarde Dollar für die Konzession, sich das Öl da rauszuholen. Dieses Öl ist aber nun viel mehr wert als 1 Milliarde Dollar. Also zahlen die den Politikern von Alaska 1 Milliarde und bekommen dafür 5–10 Milliarden wieder zurück. Sicher, die müssen noch ein bißchen mehr Geld reinstecken, um das Öl zu fördern und Techniker anzuheuern, aber dies wird wiederum zum größten Teil in irgendeiner Form von der Regierung subventioniert. Also hat eine Gruppe von privaten Hypnotiseuren die öffentliche Meinung, die Verträge und die Vorstellungen über öffentliche Ressourcen zu ihren Gunsten manipuliert.
Nun sagt Pound, eben dies sei ursprünglich mit Hamilton und den amerikanischen Banken so passiert; der Handel sah so aus, daß Hamilton sich mit einer Gruppe von Leuten zusammentat, um die Bankgeschäfte – Geld verleihen, Schecks ausstellen und Kredite ausgeben – zu übernehmen; das war ja ursprünglich Teil der souveränen Macht der Bundesregierung – ursprünglich hatte nur die Regierung die Macht, Bankgeschäfte zu führen – und Geld in Form von Kreditanleihen, Schecks und Noten auszugeben.
Jetzt erzählte also Hamilton allen mögliche Senatoren und Kongressmännern, sie könnten der Aufsichtsbehörde über die privaten Monopolbanken beitreten, falls der Kongress den Banken gestatten würde, das „schwierige“ Geschäft der Kredit- und Geldemission zu übernehmen. Sicher, das war bestimmt ein harte Job, der am besten von Spezialisten erledigt wurde, und die Regierung war schwer mit sich selbst beschäftigt, also war es nur vernünftig die Tätigkeit des Geldverleihens zu delegieren. In den Anfängen der Nation zahlten daher die Banken der US-Regierung einen gewissen Betrag, ein paar Millionen Dollar, für das Rech sich zu konstituieren. Dazu bestachen sie einen ganzen Haufen Leute, Beard beschreibt das wohl, einen ganzen Haufen Kongressmänner und Beamte – bestachen sie, indem sie sie in der Banken-Aufsichtsbehörde unterbrachten. Als Ausgleich für diesen Aufwand erhielten die Banken das Recht, (in Form von Anleihen) zwanzigmal so viel Geld in Banknoten auszugeben, wie sie tatsächlich an echter Golddeckung besaßen.
Mit anderen Worten, die Banken kauften dieses Recht – sie zahlten der Bundesregierung 1 Million Dollar, und sie hatten für 1 Million Dollar Gold im Keller. Mit der Zahlung dieser Million an die Regierung kauften sie das Recht, zu verkünden, daß sie in Wirklichkeit 20 Millionen hätten, die sie verleihen könnten, und die konnten sie sogar an die Regierung verleihen – und das ist wohl das Unheimliche daran.
Pound erklärt also, das ganze Geldsystem sei eine Halluzination, ein Schwindel; er erklärt die Struktur dieser Halluzination und bemüht hierfür die Geschichte, weil sich nämlich die Struktur von einer Bankenreform zur anderen wandelt. Heute ist sie ein wenig anders als zu Jacksons Zeiten, und zu Jacksons Zeiten war sie anders als zu Hamiltons Zeiten. Ich habe davon nur eine allgemeine, keine genaue Vorstellung, weil ich nicht weiß, wieviel Geld etwa der Bundesregierung für die Konzession gezahlt worden ist.
Die Sache ist also die: die Konzession wird von einer Gruppe privater Monopolisten erworben; von da an gehört das Bankgeschäft ihnen, und in diesem Sinne haben sie also, da sie der Regierung 1 Million gezahlt und 1 Million im Keller liegen haben, plötzlich auf dem Papier 18 Millionen mehr als sie vorher hatten. Praktisch im Handumdrehn haben sie 18 Millionen mehr als vorher. Nicht ich habe 18 Millionen mehr, nicht die Regierung hat 18 Millionen mehr, nicht der Bauer hat 18 Millionen mehr, sondern diese Gruppe, diese Bande, diese Bande von Hypnotiseuren hat 18 Millionen Dollars mehr.
In welcher Form? In einer Form, die ihnen erlaubt, auf ein Stück Papier zu schreiben: „Ich bin so gut wie Geld.“ – ein Scheck. Nehmen wir an, ich sei ein Bauer und brauche 1.000 Dollar, dann kann ich zur Bank gehen und mir dort ein Stück Papier abholen, einen Scheck von der Bank im Wert von 1.000 Dollar. Ich glaube, die ursprünglichen föderalistischen Vorschriften erlaubten der Bank, Leihgelder im Verhältnis 20 zu 10 auszugeben – sie durfte zwanzigmal so viel Papiergeld ausleihen, wie sie in hartem Gold besaß. In gewisser Weise war es also so, als ob die Banken Papiergeld, Dollarnoten druckten, weil die Regierung die Banken deckte und sagte:

Ja, Sie haben uns diese Million gegeben, dafür bekommen Sie unsere regierungsamtliche Unterstützung; gehen Sie hin und verleihen Sie Geld.

Und deshalb finden Sie auf Seite 27 des 46. Cantos ein Zitat von William Paterson. Paterson war der Gründer der Bank von England – die Bank von England wurde durch dieselbe Halluzinationsmethode geschaffen – und in seinem Prospekt, in dem er um das Geld für die anfängliche Investition warb, um die Politiker bezahlen und etwas Geld im Keller einlagern zu können, sagte Paterson zu seinen zukünftigen Investoren: die Bank Erhält Zinsgewinn aus allen Geldern, die sie, die Bank, aus Nichts erschafft.
Dieser Satz wird in den Cantos immer und immer wieder zitiert – ist er denen, die sie gelesen haben, vertraut? Mir war er jahrelang völlig rätselhaft. Ich habe nie richtig verstanden, wovon er eigentlich redete, und warum er das für so wichtig hielt, oder worauf sich das bezog, bis ich ein Buch über die Cantos las, Ideas Into Action von Clark Emery, in dem diese ganze Bankengeschichte erklärt wird.
Darum also sagt Pound: „17 Jahre an diesem Fall“, „19 Jahre an diesem Fall“. Pound hatte 17, 19 Jahre mit dem Sammeln aller dieser Artikel, Dokumente und Beweise für die schmutzigen Geschäfte in Zusammenhang mit dem ursprünglichen Hamilton-Abkommen verbracht, bis er diesen Canto – XLVI – schrieb, und deshalb interessierte er sich für all diese Staatspapiere der Adams-Familie, und besonders für Jackson, weil Jackson die Privatbanken bekämpft hatte. Dafür war Jackson ja berühmt, daß er ein Mann des Volkes war, die Bankiers bekämpfte, und daß er, glaube ich, versuchte, den Banken ihre Monopol-Privilegien wegzunehmen und dem Staat die souveräne Macht der Geldvergabe zurückzugeben.
Es läuft also darauf hinaus, daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Bundesreservebank garantiert, daß jede heute existierende Bank im Verhältnis 5:1 Geld verleihen kann. Die haben also das imaginäre Fünffache an Geld, als sie in Wirklichkeit haben, durch die Bundesreservebank garantiert, gedeckt oder versichert; das heißt, im Grunde ist es die US-Regierung, die auf lange Sicht dieses Geld verleiht oder dieses Geld deckt. Um aber Geld zum Handeln zu haben, wenn sie Schulden macht, borgt die US-Regierung genau dieses Geld bei den Banken! Und wenns ans Zurückzahlen geht, muß sie den Banken auch noch hartes Geld zahlen! Sehen Sie: sie leiht von den Banken imaginäres Geld, das sie den Banken als „echt“ zu bezeichnen erlaubt hat, und sobald die Regierung es dann in der Hand hält, sagen die Banken: „Ja, das ist echt“, und die Regierung muß es den Banken zurückzahlen. Aber sie muß nicht nur das imaginäre Geld mit echtem Geld zurückzahlen, sondern auch noch Zinsen dafür zahlen!

Schreibheft, Heft 27, April 1986

Genie, Scharlatan, Müllfigur?

Wer ist das, der am 2. November 1972, zwei Tage nach seinem 87. Geburtstag, in Venedig starb? Scharlatan, sprachzelebrierender Derwisch oder faschistischer Pamphletist? Was für ein Mann ist Ezra Pound, den Hemingway statt seiner zum Nobelpreis vorschlug, der nach 13 Jahren Haft, 72jährig, sein Leben mit zwei Frauen teilt, dem noch 1972 die Emerson-Thoreau-Medaille der amerikanischen Akademie für Kunst und Wissenschaft verweigert wird? Der schließlich mürrisch und schweigend sein Werk wie sein Leben verwarf. Eines der Genies unseres Jahrhunderts – eine Müllfigur des Samuel Beckett? Ezra Pounds extremes Leben ist auch Antwort auf die Frage: was fängt sie an, unsere Zeit, mit dem Individuum, dem Charakter, den nicht Anpassungsfähigen? Wie reagiert das Zeitalter der Buchhalter auf Buchschreiber? Sind ihre Bücher nur mehr Testamente eines ausgebrauchten Lebens, echolose Appelle an die Nachgeborenen? Die Selbstmörder und Erschlagenen, die Eingesperrten, in Zwangsarbeit Geschundenen, die Exilierten oder spurlos Verschwundenen – eine Schattenlinie gespenstischer Avantgarde des öffentlichen Bewußtseins: die Literatur des 20. Jahrhunderts. Beispiel für viele: Ezra Pound.
Im Mai 1945 rückten die amerikanischen Truppen nach Nord-Italien vor; Ezra Pound, der seit 1924 in Rapallo lebte, war gegen Kriegsende mit seiner Frau in die kleine hinter den Rapallo-Bergen gelegene Ortschaft Sant’ Ambrogio umgezogen, weil die deutschen Truppen den Ort evakuiert hatten. Pound ging in den Ort hinunter, als er hörte, die amerikanischen Truppen hätten Rapallo besetzt; er wollte sich melden, weil er „wichtige Informationen über Italien und Japan für die amerikanische Regierung hätte“. Der Ort ist leer, nur ein schwarzer Soldat auf einem Fahrrad, der seine Einheit verloren hat, begegnet ihm. Der kann ihm seine Bitte, zur nächsten US-Kommandostelle geführt zu werden, nicht erfüllen. Pound kehrt unverrichteter Dinge nach Sant’ Ambrogio zurück. Am 2. Mai tauchen zwei italienische Partisanen in einem Jeep vor seinem Hause auf – Pound sitzt am Tisch und liest in einem Band Menzius. Entweder war er von Nachbarn denunziert worden oder es handelte sich um eine Routine-Durchsuchung nach untergetauchten faschistischen Beamten. In einem Brief vom Oktober 1945 sagte er:

Die größte Schwierigkeit, ein undurchdringlicher Nebel ist für mich die vollständige Unkenntnis über alles, was sich in den USA und England zwischen 1940 bis 1945 ereignete.

Seiner Bitte, zum nächsten US-Kommandanten nach Lavagne gefahren zu werden, wird mit dem Bemerken „aber nur auf ausdrückliches Verlangen“ entsprochen – aber nicht, wie Pound wähnt, um ihn als Präsidenten-Berater für europäische und asiatische Angelegenheiten umgehend nach Washington zu fliegen, sondern um ihn zuerst in Genua zu verhören.
Schon 1943 war er in absentia vom District Court of Columbia des Landesverrats angeklagt worden:

Daß Ezra Pound, geboren in Hailey, Idaho, am 30. Oktober 1885, Bürger der Vereinigten Staaten von Nordamerika und deshalb zur Loyalität gegenüber den Vereinigten Staaten verpflichtet, in Verletzung dieser genannten Loyalitätspflicht absichtlich, vorsätzlich, ungesetzlich und in verräterischer Absicht den Feinden der Vereinigten Staaten, dem Königreich Italien und seinen militärischen Verbündeten, mit denen sich die Vereinigten Staaten seit dem 11. Dezember 1941 im Kriegszustand befinden, Hilfe und Beistand geleistet hat dadurch, daß er als Radiopropagandist für das Königreich Italien Texte, Reden, Ansprachen und Ankündigungen zum Zwecke der Verbreitung der Kurzwellensender verfaßt hat mit dem Ziel, die Bürger der USA gegen den Krieg aufzustacheln, das Vertrauen in die Regierung zu schwächen und zu zerstören und die Moral der Untertanen des Königreichs Italien zu stärken.

Am 21. Mai 1945 geht folgendes Kabel nach Washington:

Ezra Pound im Gewahrsam der Militärpolizei hier. Bezug nehmen auf Meldung vom 14. Mai an Generaladjutant, Kriegsministerium. Untersuchung abgeschlossen. Schriftliche Aussage Pounds und Dokumente per Luftpost (an) Forney (Lufthafen) 21. Mai. Ersuche um Anweisungen über weitere Dispositionen betr. Pound baldmöglichst.

Am 22. Mai kommt die Antwort:

An CC (Kommandeur) der fünften Armee, gez. CG MTOUSA (Kommandeur des Mediterranean Theater of Operations): „Der amerikanische zivile Doktor Ezra Loomis Pound, Bezugnahme telegraphische Anweisung 2006 Fünfte Armee, unter Anklage auf Hochverrat durch Bundesgericht.
(Militärstraflager) unter Bewachung zwecks Inhaftierung bis auf weitere Anweisungen wegen Disposition. Äußerste Sicherheitsmaßnahmen anwenden, um Flucht oder Selbstmord zu verhindern. Presse-Interviews strengstens untersagt. Keinerlei bevorzugte Behandlung.“

Am 24. Mai 1945 um 15 Uhr wurde Pound in das Straflager Pisa überführt. Ein paar Meilen nördlich von Pisa, auf einem weiten Feld nahe der Straße nach Viareggio, umschloß der wüste Stacheldrahtzaun den Abschaum des gesamten mediterranen Kriegsschauplatzes – Mörder, Frauenschänder, Spione und Verräter. Wer sich den unvorstellbaren Grausamkeiten unterwarf und einer Zucht, die Haß und Härte voraussetzte, hatte die Chance, sich zu einem Soldaten-Roboter „empor“ zu entwickeln, sich der zu Hause wartenden Zuchthausstrafe durch Frontbewährung zu entziehen. Viele brachten sich um, verstümmelten sich mit ätzender Lauge oder versuchten zu fliehen. Maschinengewehrsalven von den Wachttürmen mähten sie nieder. Einer der Mitgefangenen schilderte es später:

Eines Nachts im Mai 1945 sahen wir ein Gestöber von blauen Lichtfunken aus der Richtung des Pfahlzauns vom Militärstraflager bei Pisa. Azetylenschweißbrenner, sagte jemand; später erfuhren wir, daß sie dabei waren, die Stahlgitter eines Käfigs zu verstärken, der Ezra Pound zugedacht war. … Am Morgen, nachdem wir die sprühenden Funken der Schweißbrenner gesehen hatten, erhielt die gesamte Mannschaft des Straflagers Order, sich von Pound fernzuhalten; keiner sollte mit ihm sprechen. Ich erkannte ihn sogleich an seinem Bart und der Brille. Sein schütterer, bernsteinfarbener Van-Dyck-Bart war schon lange nicht mehr der rote Rauschebart, der in den Salons und Cafés von London und Paris geprangt hatte. Der Ezra Pound im Käfig war ein gestrandeter alter Mann (Pound war zu diesem Zeitpunkt 60 Jahre alt).

Ezra Pound, gesucht als Staatsfeind Nr. I, faschistischer Kollaborateur und Landesverräter, jetzt halb Trophäe, halb Vieh, kommt in einen Käfig aus Stahl und Draht. Keine Decke, kein Stuhl, glühende Hitze am Tage, stechende Scheinwerfer nachts. Dicht nebenbei eine Panzerrollbahn. Niemand darf mit ihm sprechen, niemand darf sich dem Käfig auch nur nähern, er darf weder zur Nahrungsaufnahme noch für irgendwelche Bewegungsstunde den Käfig verlassen. Schlaf auf dem unbedeckten Zement. Sechs Wochen lang. Pound bricht zusammen. Er verliert das Gedächtnis. Man bringt ihn in ein Zelt und gibt ihm zwei Bücher: eine chinesische Konfuzius-Ausgabe und die Bibel. Noch Monate später, im Herbst 1945, ist er tief verstört. Sein Anwalt schildert die erste Begegnung.

Als ich ihn fragte, ob er eine Erklärung vor der Jury abgeben oder lieber schweigen wolle, war er außerstande zu antworten. Sein Mund öffnete sich einmal, zweimal – als wolle er sprechen. Es kam kein Wort. Er blickte an die Decke und sein Gesicht zuckte.

In dieser Zeit entstehen die Pisan-Cantos, Kernstücke seines lyrischen Riesenwerks. Tagsüber versucht er sich, zur spöttischen Verwunderung der Kameraden, mit imaginierten Bewegungen fit zu halten – ein Besenstiel dient ihm als Tennisschläger oder Baseballschläger; ein ausgetretener, runder, kahler Pfad im Reviergras zieht sich um sein Zelt. Man erlaubt ihm, abends in der Sanitätsbaracke eine alte Schreibmaschine zu benutzen. Oft diktieren ihm Mithäftlinge ihre Briefe, die Pound in richtiges Englisch bringt. Nach dem Zapfenstreich kann man einen hohen Summton hören, der das unaufhörliche Geklingel und Geratter der Schreibmaschine begleitet, die Pound mit zwei Zeigefingern bearbeitet – aus den am Tage erdachten Gedichten werden Manuskripte. Das Fluchen wegen der Tippfehler geht oft in fluchende Debatten mit der Revierwache über, nächtliches Gezänk über den „Misthaufen der Wucherer“, „die wucherischen Halsabschneider Mussolini, Hitler, Roosevelt, Churchill und Morgenthau“, Schimpfen, daß das amerikanische Volk durch Währungsmanipulationen hineingelegt worden sei. Kriege, philosophiert nächtens vor dem verständnislosen Posten der eingesperrte Poet, könnten vermieden werden, wenn nur das Wesen des Geldes allgemein richtig begriffen würde. „Wann“, ist seine stete Frage, „werden sich die Vereinigten Staaten auf ihre Verfassung besinnen?“ Die Pisan-Cantos sind konserviertes Erlebnis und Ideogramm.
Pounds Übersetzung des üblichen god-damned in ein „Mensch-verdammt“ ist mehr als Kürzel für die Situation des Greises, der stundenlang im Konfuzius las oder ebenso stundenlang einfach dasaß, den schütteren Bart kämmte, die Vögel wie Notenschrift auf den elektrisch geladenen Drähten sitzen sah, die Straße nach Pisa im Auge behaltend, auf der manchmal Passanten, manchmal auch ein weißer Ochse mit einem Fuhrwerk auftauchten, im Blickwinkel zwischen „vier Riesen“ – nämlich den vier Hauptwachtürmen, von deren Maschinengewehren in Pounds Gegenwart acht Ausbrecher erschossen wurden:

und war ein Duft nach Minze unter dem Zeltspalt
besonders nach dem Regen
und ein weißer Ochse auf der Straße nach Pisa
wie auf den Turm zuhaltend
dunkle Schafe auf dem Driftfeld und an feuchten Tagen
Gewölk
das im Berg hing als wärs noch unter den Lagertürmen.
Eine Eidechse stand mir bei
die wilden Vögel mochten kein Weißbrot…
Vier Riesen an den vier Ecken
drei junge Männer an der Tür
und sie schippten rings um mich eine Rinne
daß nicht Nässe meine Knochen annage…

Gedichte unter dem Galgen, Verse aus dem Gorillakäfig, Stimme voll Leisheit und Trotz zwischen Stacheldraht und Maschinengewehr – was war vorangegangen? Ezra Pound, seit Jahren mit Problemen der Staatsphilosophie und ökonomischer Systeme beschäftigt, strikter Gegner der – wie er es nannte – amerikanischen Finanzoligarchie, hatte von 1941 bis 1945 über Radio Rom heftig kritische Sendungen in englischer Sprache gelesen. Diese Ansprachen entstanden nicht auf Anordnung der faschistischen italienischen Behörden, sondern auf Ezra Pounds Anregung, der für ein Honorar, das nicht die Reisekosten deckte, zweimal wöchentlich nach Rom reiste. Tatsächlich schien den italienischen Rundfunkzensoren der Text oft so unsinnig, daß sie heimlich die Kurzwellensendungen unterbrachen aus Furcht, es könnten sich eventuell chiffriert geheime Nachrichten für die US-Streitkräfte dahinter verbergen. Pound selber gab in einem der späteren Verhöre eine seltsame Charakteristik seiner Funkansprachen und der erwarteten Wirkung.

Ich habe keine Propaganda der Achsenmächte gefunkt, sondern meine eigene. Deren Kern ist in Brooks Adams’ Büchern zu finden, die 40 Jahre zurückliegen und in Kitsons’ von vor 25 Jahren, und natürlich in meinen eigenen Vorkriegsveröffentlichungen. Jede Sendung hatte diesen Vorspruch: „Auf der Grundlage der freien Meinungsäußerung für die, die eine eigene Meinung haben, wurde Dr. Pound der unkontrollierte Gebrauch unserer Mikrophone für zwei Sendungen pro Woche garantiert. Es wird von ihm nicht verlangt, daß er irgend etwas sagt, was sein Gewissen oder seine Pflichten als amerikanischer Staatsbürger verletzen könnte!“
Daran hielt sich der römische Rundfunk peinlich – man hat nie irgend etwas von mir verlangt. Was ich allerdings überhaupt nicht weiß: ob irgend jemand tatsächlich meine Sendungen hörte. Ich habe keine Ahnung, ob die Öffentlichkeit irgendwo diese Sendungen wahrnahm oder ob, falls man sie hörte, ein einziges Wort verstanden wurde.

Pound sah die Grundidee der amerikanischen Verfassung eher vom ehemaligen Sozialdemokraten Mussolini gewahrt als von den amerikanischen Politikern. Als er 1939 nach Washington flog, um Präsident Roosevelt seine Vorstellungen zu unterbreiten, wurde er nicht empfangen. Aber er kennt die amerikanische Realität nicht mehr genau, auch nicht den aggressiven psychologischen Abscheu gegen die faschistische Allianz. Nach dem Kriegseintritt der USA bat er das italienische Propagandaministerium um Sendegenehmigung. Als er Jahre später, nach sieben Monaten Haft in Pisa, nach Wochen Käfig und Monaten Zelle dem Gericht in Washington vorgeführt wurde, betrat ein gebrochener Mann sein Land; die New York Herald Tribune vom 29. November 1945 schildert:

Verwahrlost und in abgetragener GI-Uniform stand gestern der amerikanische Dichter Ezra Pound, angeklagt wegen Landesverrats, vor dem Bundesgericht. Er blieb stumm und trat nur fortwährend von einem Fuß auf den anderen.

An Stelle einer Gerichtsverhandlung fand eine Zeugenvernehmung von vier Psychiatern statt, die Pound wochenlang einzeln und gemeinsam untersucht hatten, drei Experten im Auftrag der Anklage, einer für die Verteidigung. Ezra Pound wohnte der tagelangen Vernehmung bei, stumm. Er durfte hören, wie sein Leben zergliedert wurde:

Frage: Haben Sie die Texte von Mr. Pounds Rundfunksendungen gesehen?

Antwort: Ja, auch noch anderes. Zuallererst fällt auf, daß der Mann immer, seit Jahren, ungewöhnlich exzentrisch war. Er hat zweifellos eine hohe Meinung von seinen Überzeugungen und neigte zu extremen Schmähungen jedem gegenüber, der anderer Meinung war. Er ist ohne jede Frage ungewöhnlich intelligent, seine Beziehungen zur Außenwelt und anderen Menschen waren praktisch während seines ganzen Lebens die einer – gelinde gesagt – sehr skeptischen Person. Wenn er spricht, sind es ganze Bündel von Gedanken.

Frage: Sie meinen seine Sprechweise?

Antwort: Ja. Abschweifend und unlogisch.

Unterbrechung durch den Staatsanwalt: Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach sein bisheriger Lebensweg bei der Beurteilung seines augenblicklichen Zustandes?

Antwort: Wir haben es sozusagen mit dem Endprodukt eines Individuums zu tun, das während seines gesamten bisherigen Lebens im höchsten Grade widersprüchlich war, im höchsten Grade exzentrisch; die ganze Welt drehte sich um ihn, eine Art Querulant – aber weniger und weniger imstande, Ordnung in sein Leben zu bringen. Das war eine schrittweise Entwicklung, so daß wir es jetzt sozusagen mit dem Endprodukt zu tun haben.

Frage: Sagten Sie nicht, er neigte dazu, Gegner zu schmähen?

Antwort: Ja.

Frage: Glauben Sie, daß das allein genügen würde, ihn keinem Prozeß zu unterziehen?

Antwort: Nicht das allein. Ich habe nicht gesagt, daß irgendeines der hier vorgebrachten Dinge für sich allein genommen das bewirkte.

Frage: Darauf komme ich noch zurück. Ich habe vergessen, was sie noch alles gesagt haben. Ich erinnere mich, daß Sie von seiner Schmählust sprachen und davon, daß er exzentrisch sei; ich weiß nicht mehr, ob Sie das Wort sensitiv gebrauchten oder nicht.

Antwort: Nein, aber er ist höchstgradig übersensitiv.

Frage: Kann jemand, der exzentrisch, voller Schmählust und all der anderen Attribute ist, die Sie ihm gegeben haben, einen Prozeß aushalten?

Antwort: Jemand, der die hier genannten Attribute in sich vereint, wenn keine anderen hinzukommen, vermutlich ja.

Frage: Wenn ich es recht verstehe, haben wir es in diesem Verhör nicht mit der Frage der Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht zu tun, genauer gesagt mit der Fähigkeit, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, sondern mit dem Problem, ob jemand fähig ist, anwaltlichem Rat zu folgen und seine Verteidigung zu planen.

Antwort: Korrekt.

Frage: Hat er sich in Ihren Unterhaltungen auf irgendeine Weise über seinen Glauben an den Faschismus geäußert?

Antwort: Ich habe das im einzelnen nicht mit ihm erörtert.

Ezra Pound (schreiend): Ich habe nie an den Faschismus geglaubt. Verdammt noch mal, ich war immer ein Gegner des Faschismus.

Die Farce betraf ein Jahrhundert-Genie.
Ezra Pound lebte seit 1908 nicht mehr in Amerika. Er wurde Minister ohne Portefeuille, Entdecker und Förderer der großen europäischen Literatur schon als 23jähriger. Als Sekretär von William Butler Yeats stieß er 1913 auf James Joyce – ein frühes Gedicht und dessen erste Prosa –; eine jahrzehntelange Freundschaft entwickelte sich; der Ulysses wurde zuerst durch seine Vermittlung gedruckt.
In unermüdlicher Korrespondenz mit Verlegern und zahllosen kleinen Literaturzeitschriften – die er zeitweise entweder herausgab oder beriet – sorgte er für Publikation, Honorare, Kritiken, Anerkennung. Die ersten großen Aufsätze über Joyce stammen von Pound, wie die über D.H. Lawrence, Wyndham Lewis, Robert Frost und T.S. Eliot, dessen Hauptwerk The Waste Land Pounds literarischem Rat und stilistischer Arbeit zu danken ist. Isaac Babel nannte ihn eine Vorbildfigur. Ernest Hemingway sagte, er habe von Pound „mehr als von irgend jemandem auf dieser Welt gelernt, wie man schreibt und wie nicht“. Allen Ginsberg gab zu, er könne sich seine Arbeit nicht ohne Pound als Vorläufer vorstellen. Er hatte Henry Millers Tropics gepriesen, als niemand sie für Literatur hielt, Briefwechsel geben Zeugnis von seiner Freundschaft mit Louis Aragon wie Jean Cocteau.
T.S. Eliot, der die Originalität von Pounds lyrischem Werk in der logischen und organischen Fortentwicklung seiner englischen Vorläufer sah, sammelte die literaturkritischen Arbeiten und schrieb dazu:

Ezra Pound war zuerst und vor allem Lehrer, Kämpfer. Er handelte immer unter dem Zwang, nicht bloß für sich selber herauszufinden, was Dichtung ist, sondern auch seine Entdeckungen anderen mitzuteilen; nicht einfach die Ergebnisse verfügbar zu machen, sondern darauf zu bestehen, daß sie auch angenommen würden. Am liebsten hätte er andere verführt, ja gezwungen, gut zu schreiben – gelegentlich an jemanden erinnernd, der unbedingt einem Tauben sagen will, daß sein Haus brenne. Jede Veränderung, die er forderte, schien ihm von höchster Dringlichkeit. Das zeigte nicht allein den Lehrer aus Leidenschaft; hinzu kam bei Pound der glühende Wunsch, nicht nur selber gut zu schreiben, sondern auch in einer Zeit zu leben, in der er von ebenbürtig intelligenten und schöpferischen Geistern umgeben wäre. Daher seine Ungeduld. Für ihn war es ebenso befriedigend, einen neuen genialen Schriftsteller zu entdecken, wie es für Geringere beglückend ist zu glauben, sie hätten selber ein geniales Werk geschrieben. Seine große Sorge war, daß Altersgenossen und nachwachsende Autoren gut schrieben; er sorgte sich weniger um seine eigene Leistung als um die Welt der Literatur und Kunst. Eine der Lehren aus seiner kritischen Prosa und seinen Briefen ist die, wie man selbstlos die Kunst fördert, der man dient.

Natürlich traf ein so ungewöhnliches, von Kulturzitaten förmlich durchsiebtes Werk wie das der Poundschen Cantos nicht auf ungeteilte Aufnahme. So auffällig Joyce’ hartnäckiges Schweigen zur literarischen Produktion des Freundes ist, so deutlich sind die Reserven des einstigen Kombattanten Yeats:

Pound hat mehr Stil als Form, oft sogar mehr Stil als irgendein anderer zeitgenössischer Dichter. Aber unmittelbar neben diesem Stil steht dann das Gegenteil: Besessenheit, Alpträume, stammelnde Konfusion. Ihm fehlt die Selbstkontrolle, er läßt unüberbrückbare Übergänge, unerklärte Ausbrüche stehen, so daß der Sinn dunkel bleibt… Selbst wo der Stil durchgehalten ist, entsteht der Eindruck, daß der Autor nicht alle Karten aufdeckt, daß er ein brillanter Improvisateur ist, der aus einem unbekannten griechischen Meisterwerk frei übersetzt.

Pounds Dichtung ist gestisch. Sein Werk ist argumentativ, belehrend, nicht psychologisch. Immer wieder findet sich der Hinweis auf Flaubert und Gautier – also auf die Methode, Situationen vorzuführen, Redeweisen, Zusammenhänge und damit Menschen zu charakterisieren. Werte haben für Pound ihre Wurzel im Stofflichen; daher die präzise Materialkenntnis seiner Gedichte. Im Gespräch mit Allen Ginsberg konnte er genaue Auskunft über architektonische Details geben, die er „eingebaut“ hatte. Wo die Cantos auf den ersten Blick offenbar Persönliches berühren, zeigt sich bei näherer Betrachtung, daß das nur Vorwand ist, eine gesellschaftliche, gar politische Situation zu zeichnen; die notorische Ironie dieser subjektiven Passagen ist eben das Mittel, vom Individuum zum Überpersönlichen zu gelangen. Es ist Pounds Antwort; wenn er Odysseus sagen läßt: „Ich bin Niemand, mein Name ist Niemand.“ Schon in einem frühen Gedicht heißt es:

Und sahst Du meinen wesenlosen Schatten,
Sahst Du das Spiegelglas der Augenblicke,
Das alle Dinge, die einfallen, wiedergibt:
Nenn diesen Spiegel dann nicht mich,
Denn ich entzog mich deinem Griff, ich bin entronnen.

Pounds erster Gedichtband (aus dem Jahre 1909) heißt Personae of Ezra Pound. Gemeint sind jene Larven, die die Schauspieler des antiken Dramas benutzten, um Stimme, Charakter und Situation zu verfremden. Personen sind Beispiele, Lebensmöglichkeiten, nicht Individuen, nicht Schicksale. Sie dienen in Pounds Lyrik, die Wirklichkeit unbeschädigt ins Bild zu bringen – es wird nicht gefühlt, sondern konstatiert.
Pound hält sich an die Würde der Realität. Seine Dichtung ist nicht Erlebnisgedicht, sondern Lehrgedicht. Drei Begriffe sind gefallen, die charakteristisch sind für einen großen Kollegen, der sich Stückeschreiber nannte: gestisch, Verfremdung, Lehrgedicht – Bertolt Brecht. In der Tat ist die poetische Methode Pounds, der es als Unsinn bezeichnete, daß große Dichtung nicht lehrhaft sein solle, der des „armen BB“ nahe. Sein poetisches Strukturprinzip, eine Mitteilung zu geben, die auf der Vorstufe zur allgemeinen Begriffsbildung verharrt, verfolgt das Brechtsche Ziel – der letzte Schritt des Gedankengangs bleibt dem Leser anheimgestellt. Dieser Materialismus der Denkmethode hat seine Entsprechung im materialen Sprachdetail:
Pound – chinesische Traditionen benutzend – spricht von Kirsche, Mohn, Blutstropfen oder Sonne; nicht von „rot“. Er spricht nie abstrakt. Konkret aber heißt bei Pound – auf Menschen bezogen. Geschichte ist konkret, Kultur, Tradition. Und Politik. Hier schließt sich der Kreis: Pounds poetisches Prinzip ist in sich ein politisches. Sein Anknüpfen an alte Kulturen – wieder an Brechts Zitier- und Bearbeitungsmethode erinnernd – begreift sich als Rückerinnerung an das Ur-Wort ,colere‘ – bebauen. Seine Literatur ist Sinnlichkeitsprinzip wie Erkenntnismethode. Kunst, Literatur, Poesie ist ihm „eine Wissenschaft wie die Chemie“. Ihr Gegenstand ist der Mensch: die Menschheit und der einzelne. Pounds Idee der Einheit von Schönheit und Gutsein stammt aus der Antike oder von Konfuzius und dessen Gebot der brüderlichen Scheu vor dem Anderssein des anderen; sie will so wenig original sein wie seine Gedichte es sein wollen, denn „das absolut originale Gedicht ist zugleich das absolut schlechte Gedicht; denn es ist im schlechten Sinne subjektiv, ohne Beziehung zu der Welt, an die es sich wendet“. In diesem Sinne verstand sich der Schriftsteller Pound nicht nur als Lehrer wichtiger Zeitgenossen, sondern als Lehrer im umfassenden Sinne. Eine seiner chinesischen Fabeln könnte vom Autor der Keunergeschichten, vom Schreiber der Lehrstücke stammen:

Der Meister sprach: „Wie zahlreich ist das Volk.“ Jan Yu sprach: „Wenn es so zahlreich ist, was könnte man noch hinzufügen?“ Der Meister sprach: „Es wohlhabend machen.“ Jan Yu sprach: „Und wenn es wohlhabend ist, was kann man noch hinzufügen?“ Der Meister sprach: „Es bilden.“

Allmählich wird aus dem katarakthaften Werk, das griechisch und provenzalisch so gleichberechtigt miteinander verschmilzt wie chinesische Philosophie mit amerikanischer Finanzpolitik, das unter einem Bogen von unvergleichlicher Kühnheit in sich förmlich hineinsaugt, was Kultur und Menschen durch Jahrhunderte geschaffen haben, ein Stalaktit. Die inzwischen weit übertroffene Zahl der ursprünglich auf hundert angesetzten Cantos gibt den Prozeß einer Flucht wieder, einer Selbstisolation, die Veränderung von Spott und listiger Lachlust zum Grinsen, zur Grimasse. Pounds Welterfahrung macht Weltverachtung Platz.
Als Allen Ginsberg den 82jährigen in Venedig besuchte, der inzwischen zum Buddhismus konvertierte Jude den angeblich antisemitischen Faschisten, war es eine sonderbare, nahezu zärtliche Begegnung. Pound saß stumm auf dem kleinen Platz vor seiner Pension, verbittert, mürrisch eher. Nur das unentwegte Spiel seiner Hände gab Antwort. Sehr behutsam mit einer Umarmung, einem ehrfürchtigen Kuß auf die Stirn, löste Ginsberg das steinerne Schweigen auf.

Ginsberg: Sie und Ihr poetischer Gedanke, daß es keine Ideen gäbe ohne die Dinge, waren von unschätzbarer Hilfe für mich und viele junge Dichter. Und der Stil Ihrer Gedichte hatte sehr unmittelbaren präzisen Wert für meine eigene Auffassung vom Schreiben. Gibt es einen Sinn, was ich sage?

Nach langer Pause murmelte Pound:

Pound: Ja, aber meine Gedichte geben keinen Sinn. Mit 70 Jahren wurde mir klar, daß meine Existenz nicht wahnhaft war, sondern imbezil.

Ginsberg: Ihr Werk, der kunstvolle Bau der Wortfolgen und Sätze gaben mir jedenfalls Boden, auf dem ich weitergehen konnte.

Pound: Gemansche.

Ginsberg: Sie oder die Cantos oder ich?

Pound: Mein Werk. Dumm und ungebildet, durch und durch. Aber mein schlimmstes Vergehen war dieses dumme, spießige Vorurteil des Antisemitismus.

Ginsberg: Es tut mir gut, daß Sie das sagen. In jedem Fall haben Sie uns den Weg gezeigt. Je mehr ich Sie lese, desto mehr bin ich davon überzeugt, daß es die größte Lyrik unserer Zeit ist. Und mit allem, was Sie zu Wirtschaft und Politik sagten, hatten Sie recht. Wir sehen es immer deutlicher in Vietnam. Sie haben uns zuerst gezeigt, wer an einem Krieg profitiert.

Hier ist das Zentrum der Debatte um Ezra Pound, hier liegt die Frage nach Recht und Unrecht: Ist Pound ein Faschismus-Propagandist gewesen, ein Proselyt von Gewalt, Rasse, Blut und Krieg?
Pounds Ökonomie-Konzept ist nicht faschistisch. Sein Haß auf Geld und die wenigen, die es in Händen halten, zeigt das Gegenteil: einen tiefen Demokratiebegriff. „Gott segne die Verfassung und rette sie.“ Er wird getrübt, fraglos, von jenem banalen Antisemitismus, der ihn später quält, den er verdammt mit moralischem Rigorismus – und der an Céline erinnert, bis in die eifervolle Diktion hinein; wer das mißversteht als Absud statt als Klage um den Menschen, wer hinter dem Zorn nicht die Gebärde der Trauer, den flehentlichen Gestus der Bitte um Erbarmen mit der entwürdigenden Kreatur spürt – der ist böswillig.
Pound hat Dichtung immer als Lehre verstanden, nicht als Ausdruck verletzter Individualität, sondern Aufschrei, um andere zu wecken. Sein Werk ist oft falsch verstanden worden als Hymnus an Karst, Gestein und Meer; nichts weniger als das es ist kein terrestrischer Kosmos, es ist ein Epos sozialer Bezüge, Kultur als der Menschen Werk, als gute Möglichkeit entgegengesetzt einer schlechten Wirklichkeit. „Ich Niemand, mein Name ist Niemand“, wiederholt Ezra Pound – er will Membrane sein, Hörbarmacher der Stummheit. Der Höllen-Canto führt nicht irgendeine Dämonie vor, sondern präzise Bösartigkeit des Kapitals, der Zinswirtschaft, der gekauften Presse – der Produktion nicht für das Leben, sondern für den Tod: Krieg. Die Zwangsläufigkeit, mit der dieses Wirtschaftssystem Kriege produziert, war Pounds Aggressionsziel. Pound, dessen Haß auf das Geld bis zum Haß auf den eigenen Namen führte – er benutzte zum Unkenntlichmachen falsch getippter Zeilen auf der Schreibmaschine nicht das x, sondern das englische Pfund-Zeichen –, deutet früh und mit Emphase auf die Entmenschlichung durch die Geld- und Kapitalwirtschaft. Lakonie-Zeilen wie „Der Tempel ist heilig, weil er nicht zu Verkauf steht“ stehen neben ernsthaften Überlegungen über das „Verhältnis des Staats zum einzelnen“. Schon aus dem Jahre 1918 stammt eine Notiz Pounds, in der es heißt, „Begann eine Untersuchung der Ursachen des Krieges, um diese zu bekriegen“. Der Stammbaum seiner politischen Ideen ist die Französische Revolution, die Anerkennung der Menschenrechte, die Magna Charta und die Losung der amerikanischen Revolution „Taxation without representation is tyranny“ – (Besteuerung ohne Volksvertretung ist Tyrannei). Die stetige Entwicklung der Vereinigten Staaten zu einer „finanziellen Oligarchie“, ist für Pound rückläufige Entwicklung, zerstört das Staatswesen von der Wurzel her, ist eine Erosion der demokratischen Grundbegriffe. „Das Geld in den Händen weniger statt in den Händen des gesamten Volkes“ – nicht direkt eine faschistische Parole. Pounds Erzübel heißt Usura – der Geist des Wuchers.
Pounds Gedichte sind von höchster Realität. Bisse, nicht Gefühl. Sein Bekenntnis „Alle Macht in der Gesellschaft beruht letztlich auf dem Gelde – die demokratischen Grundsätze bleiben illusorisch, solange die Währungspolitik nicht fest in den Händen des Volkes ist“ klingt allerdings wie eine Kampfansage an die amerikanische Wirklichkeit der 200 Familien. Ginsbergs Erkenntnis „Seit Vietnam sehen wir, wie recht Sie hatten“ kam spät. Die Gesellschaft, die Ezra Pound meinte, wehrte sich mit ihren Mitteln. Eine Gesellschaft, die ihren eigenen Wahnsinn nicht zugeben kann, muß ihre Kritiker für wahnsinnig erklären.

Fritz J. Raddatz, aus Fritz J. Raddatz: Eros und Tod, Rowohlt Verlag, 1990

Ezra Pound

– 30. Oktober 1885 bis 1. November 1972. Eine gewissermassen fabulöse Betrachtung. –

1.
Der amerikanische Dichter Ezra Pound hat, seit er das Jünglingsalter verliess, ein Haupt an sich ausgebildet, das, je älter er wurde, um so imposanter wirkte. Feingenarbt von stetiger intellektueller Arbeit, die hohe Stirn gefurcht von einem nimmermüden Denken, Formulieren, Philosophieren – Beispiel einer immerwährend tätigen Welterfassung – wurde es zu einer antiken Maske, wie aus entlegenen Zeiten in unsere Gegenwart emporgetaucht.
In zahllosen Porträts publik gemacht, entwickelte es sich gleichsam zur Trademarke seines gigantischen Werkes, den Cantos, die, lebenslang hervorgebracht, schliesslich als Tausendseiten-Epos ihren Schöpfer berühmt machen sollten. „Ideen in Aktion“, nannte er das. Oder auch:

Gedicht, das die Geschichte integriert.

Nicht wenige gerieten nur dank der ungemeinen Anziehungskraft dieses Antlitzes an das hochkomplizierte, als Ganzes schwer zu durchdringende Opus. Vielen wurde es zum Inbegriff einer modernen Grossdichtung, nur vergleichbar dem Werk Dantes, oder auch der Odyssee, an die es vielfach anknüpft. Manchen wurde es zum Leitstern im Seegang der Zeit. Anderen zum bedeutsamsten Lehrgedicht, dem sich schon während des Entstehens eine Fülle von Auslegungen beiordnete.
Heute, wo man den Propheten vor lauter Barten nicht mehr sieht, besinnt man sich eher auf die wirkliche Leistung Pounds, sucht zu ihrem Kern vorzustossen und gerät dabei hie und da auch wohl auf Zweifelhaftes oder Unangemessenes. Der grosse Wurf wird auf schwache Stellen beklopft. Der sich so betont universal gebenden Deklamation werden Fehler, Schiefheiten, Bedenkliches nachgewiesen. Trotzdem besteht da immer noch ein Stamm von Getreuen, die unisono alles wie es dasteht, im Sinne seiner innersten Tendenz als richtig anerkennen und den Uebergang des so dringlich Vorgetragenen in unsere zeitgeschichtliche Wirklichkeit erhoffen. Pound fand Bekenner von Rang: T.S. Eliot, Hemingway, Michel Butor, um die namhaften zu nennen, und er fand Feinde von Rang: Robert Graves, Etienne Gilson, Donald Davie, um die ernstzunehmenden zu nennen.

2.
Die Auspizien, unter denen sich seine Geburt abspielte, waren von so übertriebener Bedeutsamkeit, dass sie fast närrisch wirken. Der Vater des unter dem biblischen Prophetennamen Ezra ins Geburtsregister eingetragenen Kindes hörte seinerseits auf den Namen Homer.
Homer „Pound“ war – das kommt noch hinzu – von Beruf Münzprüfer. Eine Tätigkeit von mythologischem Rang, wenn man sie im Zusammenhang dieser Auftakte wartet. Tag und Stunde der Geburt – der 30. Oktober 1885 in Hailey, Idaho (USA) – standen unter dem Einfluss des Orion im Zeichen des Skorpions, also eine Zwiespalt- und Zwietrachtsituation ohnegleichen, in der sich Ezra einzurichten hatte und die er mit Triumphen und Bitternissen getreulich ausfüllte. Der frühreife Schüler trat bereits mit 16 Jahren in die Universität von Pennsylvania als „special Student“ ein, weil er, wie er in seiner Bewerbung schrieb, „die unerheblichen Fächer überspringen wolle“. Seine Aufmerksamkeit galt (so früh war dieser Lebensweg schon entschieden…) den aus der Sprache hervorgehenden Vergleichungswerten. Seine Doktorarbeit schrieb er über Lope de Vega.
Ausführliche Reisen, u.a. nach Deutschland, Italien, Spanien, unterbrechen, oder besser ergänzen, seinen Bildungsgang. Eine Zeitlang dichtet er jeden Tag ein Sonett, zwecks Selbsterprobung im Spannungsfeld der Sprache. Keines davon blieb erhalten. Er vernichtete sie alle. 1907, heimgekehrt, nimmt er eine Stellung als Dozent für spanische und französische Literatur in Crawfordsville, Indiana, an. Nach knapp 4 Monaten wird ihm die Kündigung nahegelegt, „weil er zu sehr den Typus eines Bohémien verkörpere“. Der Dreiundzwanzigjährige schloss sich in Venedig für eine Zeitlang der Konzertpianistin und Skrjabin-Interpretin Heyman als „Impresario“ an. Sein ohnehin gegebenes Musikverständnis erfuhr hier manche Verfeinerung.
Danach datiert das immer stärker sich durchsetzende Vagantentum Pounds. Er tippelt nach Paris (Anhalter gab’s damals noch nicht). In London hält er Vorlesungen über Literaturentwicklungen im mediterranen Bereich, lernt unter seinen Hörern Dorothy Shakespeare (sic) kennen, die später seine Frau wird. Zu seinen Freunden oder Bekannten zählen Joseph Conrad, D.H. Lawrence, Henry James, W.B. Yeats.

3.
Ezra Pound fordert dazu heraus, ihn charakterlich, physiognomisch und psychologisch in Vergleich zur Mittelmeerantike zu setzen, in der er selbst sich so stark wiedererkannte. Als seine wahre Heimat empfand er Italien. Seine wichtigsten Jahre verbrachte er in Rapallo. Und er starb – ganz bewusst war der Ort gewählt – in Venedig. So möge als unverbindliches Spiel erlaubt sein, die Beziehungspunkte in Bildern vorzustellen.
Er lebte gewissermassen das Leben des Kentauren Chiron. Dieser – in herrlichen Masken haben sich die Griechen, und später die Römer, die Maler in Pompeji sein Haupt vorgestellt, ein Pound-Haupt, wie man selber feststellen kann – bewohnte auf den Pelionhöhen eine Höhle. Sohn des Saturn und der Philyra (eine der Wolkentöchter des Okeanos), vermischen sich in seiner Natur Weisheit und Wildheit zu impulsiver Strahlung; Aus seiner „Schule“ ging der ganze Heldenolymp der Antike hervor: Jason, Orpheus, Aeskulap, Theseus, Nestor, Achilles, Odysseus, Antilochus und Aeneas. Und das sind hur die berühmtesten Namen, die im Zusammengreifen aller Mythen zu nennen wären. Heldenerzieher Chiron war unsterblich. Jedoch, er war genötigt – einziger Fall seiner Art –, sich Sterblichkeit zu erflehen, da er beim Streit, den die Kentauren in eine Hochzeitsgesellschaft trugen, durch einen Giftpfeil verwundet wurde. Der Schmerz, den ihm dieser Pfeil bereitete, war grösser, als seine Lust an der Ewigkeit je hätte sein können. Ein Zug, der mit ähnlichen Konsequenzen auf Leben und Leiden Ezra Pounds anzuwenden ist. Sehenden Auges der Zersetzung der Kultur beizuwohnen, schien ihm unerträglich. Er suchte nach Rettungsentwürfen. Er forderte Aktionen, Reformen, und da er der praktischen Wirksamkeit ideologischer Manifeste misstraute, riskierte er selbst den radikaleren Schritt. Damit lud er sich eine Verantwortung auf, deren Reichweite er nicht abzuschätzen vermochte. Eine der Ursachen des Kulturverlustes im Kapitalismus vermutend, beschäftigte er sich mit der Freiland-Freigeld-Theorie Silvio Gesells. Den Kommerzialismus als konservierenden Nutzniesser unserer Geldwirtschaft brandmarkend, suchte er bei den Juden die Schuldigen. Aufschlussreich in diesem Betracht sind seine „Gesänge“ über das Bankwesen. Er wollte dem umfassbaren „Feind“ mit aller Gewalt ein Gesicht aufzwingen, und dabei rutschte er aus. Das heutige Wirtschaftswesen der Westwelt trägt weder die Züge einer Rasse noch einer Gruppe von Menschen, die „verbündet sind, den Rahm abzuschöpfen“, sondern es entspricht einem Entwicklungsvorgang, der bereits mit dem Tauschhandel der Steinzeit einsetzte. Das Bankwesen kam – ohne jeden „orientalischen Einfluss“ – mit den Schatzhäusern der Griechen in Gang. Die in geweihten Bezirken eingelagerten (weil dort am besten geschützten) Deckungswerte spielten als solche ihre erste Rolle in den Handelsbräuchen der frühen Stadtstaaten.
Nachdem Pound sich mit der ihm eigenen Verve und Unerschrockenheit in seine Fehlsicht verrannt hatte, entschied er, dass sein Vaterland betont ein Herd des als seuchenhaft empfundenen Wucherwesens sei. So stimmte er, in Konsequenz solcher Schlüsse, der Wirtschaftspolitik Mussolinis zu, in der er Ansätze zu einer Wandlung vermutete und erhoffte.
In dieser Position überraschte ihn der „Kentaurenkrieg“ 1939–1945. Er blieb seinen Ueberzeugungen treu. Und bekundete dies in römischen Radioansprachen an die Adresse Amerikas, ähnlich Thomas Mann, nur mit anderen Vorzeichen der Gläubigkeit.
Nach dem Zusammenbruch der Achse und dem Einmarsch der Amerikaner in Rom traf ihn der Giftpfeil öffentlicher Aechtung. Jedoch Verhaftung (er stellte sich den Truppen sofort), monatelanges Gefängnis, jahrelanger Irrenhausaufenthalt waren eher geeignet, ihn in seinen Trugschlüssen zu bestärken. Er gehört mit Benn, Hamsun, Robakidse und Giono zu den irrenden Rittern einer verfehlten Disposition. Diese Braven, zweifellos das Beste erstrebend, haben sich einfach in den Windmühlen geirrt. Einige widerriefen. Pound auch. Aber spät und sehr verschlüsselt.
Insofern ist in seinem ausgebreiteten Werk nicht nur die Weltgeschichte, wie er sie verstand, inbegriffen, sondern auch – ungewollt – die Welt des Cervantes mit ihrem aktiven Spott. Rückwirkend Korrekturen in den Cantos anzubringen, lehnte er ab. Ihm genügte es, dass gegen Ende hin der Vers darin vorkam:

Viele Irrtümer, etwas Richtigkeit…

So blieben sie eine Art Tagebuch seiner Entwicklungen, darin intellektuelle Sorglosigkeit sich mit poetischem Charme verbrämte, die angestrebte grosse Form zum Pedal der (inneren) Geschwindigkeit wurde, das Erbe griechischer, römischer, italienischer Dichter und die edle Bitterkeit der chinesischen Klassiker zu einem Konglomerat Poundschen Experimentierens gerannen.
Er hat sich im Geistigen so hoch hinaufgeturnt, dass er uns Nachgeborenen gelegentlich als Seiltänzer unter der Zirkuskuppel erscheinen möchte. – Dennoch, Chiron-Pound verdient unsere Anteilnahme. Er hat Eliot-Achill mit jener eschenen Lanze begabt, die dem Helden seinen ersten Sieg (Waste Land) gewann. Er hat Joyce-Ulysses den Wind ins Segel geblasen. Er hat Yeats-Orpheus den Notenschlüssel zu sich selbst gezeigt. Und er hat, um den Weltstreit der Kentauren zu schlichten, den Giftpfeil öffentlicher Aechtung ertragen. Wenn wir nun in seinem „Gedicht, das die Geschichte integriert“, seine Schicksale – geistige, seelische, sachliche – nachlesen, tun wir nicht so sehr seinen Manen als uns einen Gefallen. Denn was er bietet, diese Mixtur aus Poesie, Zorn und Wissen, stammt aus dem verborgenen Weinfass in der Höhle Chirons.

4.
Der Arche Verlag, Zürich, bringt seit 1950, gegen den Sturm der Vorbehalte unbekümmert angehend, das Werk des umstrittenen Amerikaners in schöngedruckten und wohlgeordneten Einzelausgaben heraus. Aus dem ungeheuren Vorrat der Poundschen Produktivität das Wichtigste zusammengreifend, ist seither die Uebersetzerin Eva Hesse bemüht, uns mit textgetreuen Uebertragungen zu dienen. Das Schwierige regelt sie dank ihrer persönlichen Begeisterung für den Dichter und seine Leistungen. Da die Ausgabe konsequent zweisprachig angelegt ist (eine weise Massnahme), kann jeder auf eigene Faust die manchmal nötigen „geheimen Ergänzungen“ nachleisten.

Werner Helwig, Die Tat, 24.10.1975

 

Nie würde ich einen Pakt mit dir schließen

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaalter E. P.

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaalter Meisterdichter

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaacaro maestro         il miglior fabbro

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaader „aus der Luft lebendige Tradition bezog“

aaaaaaExpatriierter Ezra

aaaaaaaaaaaaaaaaaaKonfuser Konfuzianer

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDer Rip Van Winkle amerikanischer Dichtung

Ich liebte dich lange genug
Und dann entliebte ich dich lange genug

Denn du warst es der neue Schneisen schlug
aaaaaaaaaaaaaaadie wunderschönen Masken deiner Personae
aaaaaaaaaaaaaaaaund die liebliche „Audiart Audiart
aaaaaaaaaaaaaaaaaawo deine Miederspitze harrt“
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund die glorreiche Größe
aaaaaaaaaaaaaaaaaadeiner frühen Cantos
aaaaaaaaaaaaaaaund die Kerker-Cantos in Pisa
aaaaaaaaaaaaaaaaaadie noch zu Schönheit sich erheben

Doch dann kamen die zerschlagenen Sätze
Wie in Marmor zu meißeln
Echoruinen der Geschichte
Ein klingendes Palimpsest
das Vergangenheit resümiert durch Raub und Anspielung
(Fliegensummen das Nachrichten bringt)
und unser Schicksal berechnet
Polyphones Poeten-Orakel
das Dante nachäfft und Konfuzius
Kuan Yin und Kublai Khan
Jefferson und John Adams
und General Washington
(Vater unserer Dreistigkeit)
Schlimmstenfalls ein wirres Greisenmümmeln
aus Gelehrsam- und Tiefgründigkeiten
mal edel mal inkohärent
Plätschernder Regen auf einem Mansardendach
gemischt mit antikem Geschwätz
uralten toskanischen Geschäftsbüchern
und gestrigen Gesprächen
Ein quengelndes Gequassel aus
einfältigem Volksmund
in die Typographie der Poesie geflickt
in canti die keiner singen kann

(Doch wie es dir einmal entschlüpfte
in einer ersten Fassung des ersten Canto
„die moderne Welt
braucht einen solchen Lumpensack
um ihre Gedanken hineinzustopfen“)

Der freche Jimmy Joyce indessen – auch er ein Polyphoner –
im nahen tristen Triest
war schon viel weiter im Schmieden
„des unerschaffenen Gewissens“ seiner Rasse
mit seiner Bloomenden Stimme
neben den zwitschernden Wassern der
schwindenden Wasser der
redenden Ströme des Bewußtseins
i fiumi della nostra vita

Und du warst es dann
der die Scheite warf
in die faschistische Flamme
aaaaaaim Feuer der blinden Welt
aaaaaaaaaaAlter radio-faschistischer Rip
aaaaaaaa„Lord Ca-Ca“ (wie der gute Arzt dich nannte)
Furbo Musso-philer
aaaaaaaader Freunden den Faschistengruß entsandte
aaaaaaaaaein Großmaul auf Radio Roma
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund im eitlen Venedig
aaaaaaaaaaaaaaaaaa(wie D’Annunzio Il Duce hofierte
aaaaaaaaaaaabevor der fascismo fascista wurde)
Also nahmen sie dich fest
die Eroberer in Erdbraun
Die americani nahmen dich fest
als Verräter oder Verrückten
Und warfen dich in diesen Kerker in Pisa
Und nahmen deine Wut mit nach Amerika

Und du dann wandelnd
in Saint Elizabeths Irrengärten
(traurig die langen wüsten Jahre
verschleuderten Genies!)
Und schließlich freigelassen –
Der alte Rip höchstselbst
aaaaaaentsprungen aus den Catskills seines tiefen Schlummers
aaaa(nie gelesen nie gedreht hast du die psychedelischen Papers
aaaaaaaaaaaaaaaaaades neuen Bewußtseins)
Dann schnurstracks zurück in die Alte Welt
den krenelierten Camembert des alten Europa
Und dort in deiner venezianischen Senilsiedelei
hast aufgewärmt das alte Allerlei
und gemurmelt eine Art von Zerknirschung
die Juden wären dein
„dummes vorstädtisches Vorurteil“
doch bist dann verstummt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaazum Schweigen verurteilt!
aaaaaadein lume wahrlich spento

Eine leere Hülse ohne Lebenssaft
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaber das Licht sang ewig

Und der gigantische Traum
noch in deinen Augen
hat dein Exil überdauert

Lawrence Ferlinghetti

 

PORTRÄT D’UNE BARAQUE
Nach Ezra Pound 

Nur dich im Kopf, du mein Sargassomeer,
so sandte dir mein Hafen über Jahre Schiffe
und tat sich groß vor dir mit allem Möglichen:
Ideen, Klatsch, dem Ramsch der Neuigkeiten,
von denen ich dir alle als fantastisch unterschob.
Ein Blödian war ich – kein andrer suchte dich.
Du warst von Anfang an das Letzte. Tragisch?
Nö. Denn du wolltest einen so wie mich,
Typ finstrer Spund, blauäugig, abgestumpft,
Hirn Durchschnitt, jährlich zwei Karrieren futsch.
Oh ja, du warst geduldig, jahrelang, Jahrzehnte
standst du, wo was vorübertreiben hätte können.
Da kam ich, wollte was. Und du gabst reichlich.
Du hattest mich interessiert, ich schlich zu dir
und kriegte ja auch Wunder was dafür:
vom Wind Gefischtes, sonderbare Winke,
Tatsachendachpappe, ein, zwei Geschichten,
die mieften wie Alraunen, was auch immer
noch nützlich an dir schien, nur es nie war
und nirgends Platz und keinen Nutzen hatte,
zu keiner Stunde im Verhau der Tage, lediglich
ein morscher, bunter, wundersamer Schrott.
Figuren, Schmierfett und Emaillereklamen,
das war dein Schatz, sein Höker du. Und doch,
das ganze Wrack bloß aus dem Laub der Dinge,
aus halb durchweichtem Holz und ollem Talmi:
Im müden Fließen von mal Licht, mal Tiefe,
nein, da war nichts, in diesem Kehricht
nichts, was ganz dein war.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaAber das warst du.

Mirko Bonné

 

 

Fakten und Vermutungen zur Herausgeberin + Kalliope +
Johann-Heinrich-Voß-Preis
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA
Nachrufe auf Eva Hesse: FAZ ✝︎ SZ

 

 

Stefan Troller: Ein Mann auf dem Weg zur Toteninsel

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Ezra Pound

 

 

Michael Reck: Prospero. Ein Gespräch zwischen Ezra Pound und Allen Ginsberg
DU, Heft 9, September 1968

Franco Antonicelli: Ein Besuch bei Ezra Pound
DU, Heft 2, Februar 1967

Pierre Imhasly: Dichtung in vielen Zungen
DU, Heft 2, Februar 1967

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Hans-Jürgen Heise: Ezra Pound zum 80. Geburtstag
Die Tat, 29.10.1965

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Steve Lake: Ezra Pound
Akzente, Heft 5, Oktober 1985

Zum 45. Todestag des Autors:

 

 

Zum 50. Todestag des Autors:

Hans-Ulrich Fechner: Vor 50 Jahren ist der Dichter Ezra Pound gestorben
Die Rheinpfalz, 1.11.2022

Willi Winkler: Bürgerkrieg unter friedlichen Affen
Süddeutsche Zeitung, 27.10.2022

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + MAPS 1, 2 & 3 + IMDb +
PennSoundArchiv + Internet Archive + Poets.org + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
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Nachrufe auf Ezra Pound: Die Tat ✝︎ Merkur ✝︎ Tumba

 

Ezra Pound liest Canto XLV.

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