Felix Philipp Ingold: Schreibweisen • Lesarten

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Felix Philipp Ingold: Schreibweisen • Lesarten

Ingold-Schreibweisen • Lesarten

LITERATUR ALS „UNKREATIVES“ SCHREIBEN

– Aktuelle Fragen und Postulate zur digitalen Autorschaft. –

In seinem 2017 auf Deutsch (unter dem englischen Originaltitel Uncreative Writing) erschienenen Manifest für ein „Sprachmanagement im digitalen Zeitalter“ entwirft der Konzeptkünstler und Medientheoretiker Kenneth Goldsmith eine Generalpoetik, die jeglicher Form von literarischer Autorschaft den Abschied geben soll zu Gunsten von „unkreativen“ Schreibtechniken wie dem Kopieren, dem Plagiieren, dem Zitieren. Schon vor Jahren hatte Goldsmith sein Ansinnen mit einem Kunstprojekt bekannt gemacht, bei dem alle jemals im Internet veröffentlichte Texte voll umfänglich ausgedruckt und somit buchstäblich als „Weltliteratur“ beglaubigt werden sollten. Naturgemäss ist ein derartiges Unterfangen nicht zu bewerkstelligen, da das Internet permanent expandiert und sich deshalb niemals vollständig in Kopie erfassen lässt. Doch selbst dann, wenn das Projekt auch blass annähernd verwirklicht würde, bliebe die Frage: So what? Was nun?
Denn die „unkreative“, mithin autorlose Herstellung eines sekundären Makrotexts bleibt ohne Sinn und Witz, solang nicht geklärt und erprobt ist, was damit zu geschehen hat, worin sein Nutzungs- und Unterhaltungspotential besteht, wie und wieso man ihn überhaupt rezipieren, also „lesen“ sollte. Doch dies scheint Goldsmith weniger zu kümmern als die Technik derartiger unpersönlicher Textproduktion und die dadurch bewirkte Entmächtigung des Autors als „Schöpfer von Neuem“ – ein Minuseffekt, der einerseits zur Entlastung der Literaten (Erzähler wie Dichter) beitragen und anderseits die Funktion literarischen Schreibens völlig neu definieren würde.
„Der digitale Text ist zum Stuntdouble von Print geworden, der Geist in der Maschine. Dieser Geist ist inzwischen nützlicher als seine Wirklichkeit; wenn wir etwas nicht herunterladen können, existiert es nicht“, räsoniert Kenneth Goldsmith, und hochgemut fügt er hinzu:

Stillstand ist die neue Bewegung. Wörter existieren heute unter den gleichzeitig geltenden Bedingungen allgegenwärtigen Veraltetseins und ständiger Präsenz, dynamisch und doch stabil. Ein Ökosystem: recycelbar, umfunktioniert, wiedergewonnen. Wiederkäuen ist die neue Unkreativität; statt der Erschaffung schätzen wir die Manipulation und die Umwidmung.

Was hier als „neu“ behauptet und propagiert wird, ist allerdings so neu nicht. Im Gegenteil – es verweist zurück in die Frühzeit der literarischen und philosophischen Kultur. Noch in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten waren Status und Funktion von Autorschaft keineswegs klar ausgemacht, und durch die rasche Ausweitung der Textproduktion wurde deren Rezeption schon damals zum Problem. Dass von zahlreichen – den meisten! – Werken der griechisch-römischen Antike keine Originaltexte erhalten geblieben sind, sondern bloss Nach- und Abschriften, Auszüge und Zitate, die oft viel später in andere Werke eingegangen sind, ist allgemein bekannt: Exzerpte und Kopien gewannen somit eine Autorität, die der einer Originalschrift gleichkam. Ohne solche Vermittlung – sei’s durch namenlose Kopisten oder durch angesehene Gelehrte und Präzeptoren – hätten wir heute kein Zeugnis vom nachhaltigen Denken Epiktets oder von Lukrezens wirkungsmächtiger philosophischer Dichtung. Und hätte nicht ein Diogenes Laertius unzählige Lebensberichte und Werkextrakte (echte wie gefälschte) zu einem vielbändigen Referenzwerk kompiliert, wären weite Bereiche des antiken Geisteslebens verschattet geblieben.
Emmanuel Lévinas hat in seiner Schrift über Ethik und Unendliches ein Gleiches auch für die Bibel festgehalten. Der kanonisierte Bibeltext sei das Ergebnis vielfachen Kopierens, Kürzens, Ergänzens, Umschreibens, Interpretierens und Zusammenschneidens, so dass man sagen könne:

Es liegt eine Beteiligung der Hl. Schrift in der internationalen Literatur vor, bei Homer und Platon, bei Racine und Victor Hugo ebenso wie bei Puschkin, Dostojewskij oder Goethe, selbstverständlich genauso bei Tolstoj oder bei Agnon.

Für Lévinas ist die Bibel demnach ein offenes, autorloses (dabei durchaus autoritatives), stetig sich erweiterndes Kompilat, das Spurenelemente aus vorbiblischen Texten in sich vereinigt und von dem aus solcherart gesättigte Spurenelemente in nachbiblischen Texten wirksam werden, woraus sich denn auch immer wieder neue Lesarten ergeben.

Wenn einst der russische Philosoph Pawel Florenskij das Zitieren (oder Jorge Luis Borges gar das Kopieren) als die einzige authentische Schreibweise hervorgehoben und Walter Benjamin sich ein Buch aus lauter Zitaten zurechtgelegt hat, dann sind dies, selbst für die damalige (inzwischen „klassisch“ genannte) Moderne, provokante Zuspitzungen, die sich jedoch aus heutiger Sicht als durchaus plausibel erweisen; und mehr als das – sie halten kurz und bündig fest, was für literarische Texte allgemein zu gelten hat, nämlich dass sie allesamt, formal wie thematisch, in irgendeiner Weise von der Lust an der Kopie geprägt sind, auch wenn sie noch so oft – gerade umgekehrt – den Anspruch subjektiver, schöpferischer, also origineller Autorschaft erheben.
Die Copy-Cut-and-Paste-Technik ist also keineswegs ein modernes oder gar spezifisch zeitgenössisches Verfahren künstlerischer Produktion. Vielmehr und generell entspricht es dem grundlegenden, schlechterdings unumgänglichen Prinzip literarischer Arbeit, ist doch jeder Text zumindest teilweise ein Verschnitt aus früheren Texten. Aus dieser praktischen Prämisse haben sich freilich erst in jüngerer Zeit die intertextuelle Literaturforschung und die Rezeptionstheorie entwickelt, beide Disziplinen mit bemerkenswertem Ertrag. – Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch die ingeniösen, meist mit Fremdtexten operierenden Sprachbasteleien aus dem Pariser „Werkkreis für potentielle Literatur“ (Oulipo, ab 1960) sowie – jenseits der Wortkunst – das gewaltige musikalische Kompilat der Europeras (1987–1992) von John Cage, ein Verschnitt aus der klassischen Opernliteratur in wechselnder Instrumentierung und nach unterschiedlichen Prinzipien der Permutation.
Ein weiteres ausserliterarisches Beispiel dafür liefert Jean-Luc Godard mit seinem vielfach zusammengeschnittenen Alterswerk „Bildbuch“ (Livre d’image, 2018), das aus lauter Versatzstücken früherer (auch seiner eigenen) Spiel- und Dokumentarfilme, aus Werbeclips, TV-Nachrichten und privaten Videos besteht, verfremdet durch technische Manipulationen und neu perspektiviert durch eingeblendete Schrifttafeln, dazu akustisch unterlegt, bisweilen auch überhöht durch musikalische Phrasen aller Art und jeglicher Herkunft oder durch wechselnde Stimmen aus dem Off. Die eigensinnige Kompilation des Regisseurs und deren – notwendigerweise – ebenso eigensinnige Auffassung durch den Betrachter ermöglichen die Verwandlung fremder Stoffe in ein unverwechselbares „Original“. Jean-Luc Godard hält nach eigenem Bekunden den Weltprozess – Natur wie Kultur – für eine permanente „Metamorphose“, und eben diesen Formwandel führt er im „Bildbuch“ (seiner hochgradigen Künstlichkeit zum Trotz) auf überzeugende Weise vor Augen.
Dass diese gleichermassen konservative und innovative Kinotechnik sich mehr und mehr durchsetzen wird, hat nicht zuletzt ökonomische und ökologische Gründe. Denn „kompilative“, „unkreative“ Filme lassen sich, weil sie von Produzenten, Technikern, Studios, externen oder gar exotischen Drehorten wie auch von Drehbuchautoren, Schauspielern, Kulissen-, Kostüm- und Maskenbildnern unabhängig sind, mit bescheidensten Mitteln realisieren. Ein Schneide- und Abspielraum mit Tonmischanlage und Bildarchiv genügt dafür, Kameras, Beleuchtung, Requisiten, Fahrzeuge, Bauten erübrigen sich. Ein abendfüllendes Werk dieser Art lässt sich also mit vergleichsweise wenig finanziellem und personellem Aufwand verwirklichen. Der ökologische Vorteil solcher Arbeitsweise besteht darin, dass weder materielle noch personelle Ressourcen strapaziert werden müssen.

Aus „unkreativem“, vereinnahmendem und willkürlich aneignendem Schreiben sind inzwischen – mehrheitlich in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren – diverse Werke hervorgegangen, die trotz ihrer skeptischen Aufnahme bei Kritik und Publikum zumindest unter avancierten Literaten internationale Beachtung gefunden haben. – Unter dem Titel Reality Hunger legte David Shields 2010 in New York ein Buch vor (deutsch unter selbigem Titel 2011), für das er zwar als Autor firmierte, das aber kein Originalwerk, sondern ein offenkundiges Plagiat war, zusammengeschnitten aus Hunderten von vorgegebenen Texten, die Shields ohne Anführungsstriche bedenkenlos für sich beanspruchte – Texte unterschiedlichster Herkunft, von Thoreau und Kierkegaard bis hin zu Bob Dylan und The Wild Ones.
Das Raffinement des Kompilators zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er sein plagiatorisches Tun durch Zitate von Koryphäen rechtfertigt, die eigentlich ein ganz anderes Werkverständnis haben als er selbst. „Wir kommen nie zu Gedanken“, notiert er an einer Stelle:

Sie kommen zu uns.

Wörtlich abgeschrieben bei Martin Heidegger. Oder (von Ralph Waldo Emerson übernommen):

In jedem Werk eines Genies erkennen wir unsere eigenen verworfenen Gedanken; sie kommen zu uns zurück…

Das Shields’sche Projekt hat in der Folge die deutsche Autorin U.D. Bauer noch radikalisiert dadurch, dass sie aus knapp 3.000 Originalzitaten nicht bloss ein anthologisches Kompendium erstellt, sondern einen durchlaufenden Erzähltext komponiert hat. Unter dem listigen Titel o.T. (2013) gibt sie mithin ein Werk zu lesen, zu dem sie mit keinem Buchstaben, keinem Komma, keinem Punkt beigetragen hat, das aber gleichwohl in seiner Gesamtheit als ihre eigene, unverwechselbare Leistung gelten darf. Hunderte von geschickt arrangierten Extrakten aus unterschiedlichsten Fremdtexten fügen sich hier zu einem autorlosen, titellosen, fugenlosen Fliesstext, den niemand sonst in dieser einmaligen Fassung hätte kompilieren können, den aber jedermann – gemäss jeweils eigener Lektüren und Recherchen – nach gleichem Verfahren mit völlig anderem Ergebnis zuwege brächte.
Dass U.D. Bauer ihre Quellen, wie es bei einem wissenschaftlichen Werk üblich und auch erforderlich ist, in einem umfangreichen bibliographischen Anhang offenlegt, ist dann aber doch (dem Copyright geschuldet?) ein Zugeständnis, das ihre Radikalität nachträglich wieder relativiert. Wenn eine Kopie oder ein Kompilat als „Originalwerk“ aufgefasst werden soll, müssten die Fremdtexte in der Anonymität belassen werden – einzig der Eigenname des Arrangeurs stünde dann für die „Originalität“ des ansonsten ganz und gar unoriginellen Werks ein.

Ein vergleichbares Projekt hat der norwegische Schriftsteller Tomas Espedal mit seinem als „Roman“ ausgewiesenen Reisebuch Gehen (deutsch 2011) realisiert. Der experimentelle Anspruch tritt hier klar hinter das erzählerische Anliegen zurück, eine mehr oder minder kohärente Geschichte zum Besten zu geben und damit „die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen“, glaubhaft und nachahmenswert zu machen. Der Plot als solcher ist konventionell angelegt: In Ichform wird von einem Versager berichtet, der Job und Familie und Besitz aufgibt, um sein Glück „anderswo“ zu suchen, das Leben im Gehen zu absolvieren oder auch bloss – sich gehen zu lassen. Seine Irritationen, Schwächen, Ängste wird der Erzähler gleichwohl nicht los, sein zwanghaftes Nomadisieren mutiert zum Delirium. Die Reise durch die (westliche) Welt und Geschichte findet letztlich doch nur im Kopf statt, sie erweist sich im wörtlichen Verständnis als eine Lesereise, zu der zahlreiche Autoren aus verschiedenen Literaturen und Epochen die Anlaufziele bilden und beliebig viele Texte das internationale Gelände für das angebliche „Gehen“.
Hier das Szenario: „Ich träume von einem neuen Leben auf der Strasse, immer in Bewegung, zu Fuss von Ort zu Ort. Geht das? Es geht. Wie lange? Ich weiss es nicht. […] Wie weit kann man gehen? Ich weiss es nicht. Habe noch nie versucht, meine Grenzen zu überschreiten, bin immer zielgerichtet und zeitbestimmt gegangen. […] Ich warte auf eine Veränderung, nein, ich warte auf eine Verwandlung, etwas vollkommen Neues – ein neues Leben? Worauf warte ich? Heute beginnt es, das neue Leben–“ – Zuletzt bleibt das „neue“ Leben dann doch das alte, und die gewaltige Fussreise führt nicht viel weiter als der gewohnte Spazierweg des Erzählers von seinem Haus hinab zum Meer und zurück.
Wenn Espedal dennoch so manches aus der Feme zu rapportieren hat, so sind dies im Wesentlichen die Erlebnisse und Erfahrungen, die andere Autoren auf ihren Reisen gemacht haben. Sein Buch ist ein dichter Verschnitt von Fremdtexten, genauer: von Auszügen aus fremden Texten, die ohne Kennzeichnung aufgereiht und von der trägen Erzählerstimme locker verbunden werden. Espedal unterläuft damit sein eigenes Konzept der „offenen Strasse“ und des „offenen Endes“, denn als Nomade könnte er naturgemäss nicht so viele literarische Reminiszenzen wörtlich in Erinnerung haben, und – wieso und wozu sollte ihm dies auch dienlich sein.
Tatsache ist, dass Espedal seinem Erzählwerk eine lange Liste von „verwendeter Literatur“ beifügt, die alle zitierten Stellen – von Simone de Beauvoir bis hin (und zurück) zu Virginia Woolf – exakt belegt. Das kompilative Verfahren wird somit blossgelegt, und der existentielle Ausbruch und Aufbruch des Erzählers erweist sich als ein verzweifeltes Treten am Ort, derweil er – lesend – mit trister Bewunderung die Berichte von Albertos Giacomettis häufigen Bordellgängen, von Jean-Jacques Rousseaus sprunghaften Wanderungen oder von Arthur Rimbauds Machenschaften in Nordafrika zur Kenntnis nimmt.
Aber ja, auch in fremden Zungen lässt sich trefflich erzählen: Erstens sind Erzählungen immer auch, in unterschiedlichem Umfang, Nacherzählungen (deren Quellen allerdings zumeist ungenannt bleiben); zweitens ist das Ich des Erzählers – grammatikalisch die Erste Person – ein bewegliches plurales Element, das gleichermassen auf den Erzähler als solchen, auf den Autor als Person oder auf historische und mythologische Gestalten bezogen sein kann. Insofern erweist sich das Kompilieren als eine Grundoperation berichtender beziehungsweise narrativer Schreibbewegungen.

Ein jüngeres Beispiel aus dem Bereich „unkreativer“ Poesie bietet Hannes Baiohr mit seinem Textband Halbzeug (2018). Der Autor geht von der Prämisse einer totalisierten Textwelt aus, in der alles sprachlich vorgegeben sei als indifferentes Rohmaterial zur Verarbeitung, Computation, Transkodierung usf., was wiederum heisst, dass Textverarbeitung grundsätzlich als Recycling bewerkstelligt wird.

Wo alles Text ist, da ist auch alles Lesen, da ist auch alles Schreiben.

Also jeder zumindest potentiell ein Dichter. Denn jeder ist, vorausgesetzt er habe ein entsprechendes Interesse, in der Lage, überlieferte dichterische Texte, Werbeslogans, diplomatische Noten, Parlamentsprotokolle, Klimaschutzberichte, Unfallrapporte und was auch immer – wie auch immer – zu fragmentieren und neu zu komponieren, beliebig zu variieren oder zu wiederholen, bis irgendein passables autorloses, vermittels Algorithmen prozessiertes „Gedicht“ vorliegt.
Was einst die sogenannte konkrete Poesie oder der Pariser Poetenladen Oulipo handwerklich erledigt hatte, wird von Bajohr und seinen Dichterkollegen auf dem Computer programmiert, dann aber doch als eigenständiges Werk – unterm Namen des „Autors“ – reklamiert. So etwa ermittelt er die fünf häufigsten 5-Gramme in den Werken Franz Kafkas und Johann Wolfgang Goethes mit CasualConc 1.9.7 und lässt sie miteinander alternieren, dies in der Abfolge Kafka/Goethe (erste Strophe) und Goethe/Kafka (zweite Strophe), woraus sich dieses kombinatorische Texterzeugnis ergibt:

die herren von der hafenbehörde
bis auf den heutigen tag
die hände in den taschen
bis auf einen gewissen grad
im zimmer auf und ab
auf mehr als eine weise

ich weiß nicht was ich
in der mitte des zimmers
sagte er zu sich selbst
die hände in den hosentaschen

Was mithin da ist, wurde also nicht produziert, sondern lediglich aus sprachlichem Recyclingmaterial computergeneriert – dass sich Hannes Bajohr gleichwohl als Autor geriert (statt sich in die Anonymität zurückzuziehen), schwächt sein Projekt, lässt es obsolet werden. Denn tatsächlich hat sich dieses „Gedicht“ schlicht so, wie es dasteht, ergeben; gemacht werden musste es nicht. Ob es darüber hinaus auch noch Sinn machen kann, ist allein Sache des Lesers, der Leserin.
Das „Originalgenie“ wird bei solchen und ähnlichen Textverwertungsprojekten (nach einer Wortprägung von Marjorie Perloff) abgelöst vom „Unoriginalgenie“, das sich auf die Position eines Skribenten, eines Kopisten oder eben eines bekennenden Plagiators zurückzieht. Das jedermann geläufige Verfahren von Copy-Cut-and-Paste setzt sich als autorlose Technik der Textverfertigung mehr und mehr durch, behält jedoch den hergebrachten Anspruch, als „künstlerische“ Manifestation zu gelten und so auch akzeptiert zu werden. Hier offenbart sich, wenn man von Kenneth Goldsmiths „antiidentitärer“ Poetik ausgeht, ein fundamentaler Widerspruch: Wie kann man den individuellen Autor und dessen Kreativität verabschieden und gleichzeitig darauf bestehen, als Kopist ein Künstler zu sein und seine Kompilate unter eigenem Namen gedruckt zu sehen? – Kein Adept des angeblich neuen „unkreativen“ Schreibens scheint sich bislang bereitgefunden zu haben, seine angeeigneten Werke anonym herauszubringen und damit die Poetik des Plagiarismus zu beglaubigen.
Goldsmith wie auch Shields bestehen darauf, dass die traditionellen Medien, die den Anspruch der Authentizität, der Originalität oder gar der Wahrheit erheben, nichts anderes als Fiktionen zu liefern vermögen: Echtheit könne bloss behauptet, nicht aber mit sprachlichen Mitteln erreicht und beglaubigt werden. Tatsächlich habe jeder Erfahrungsbericht, jedes Tagebuch, jede Autobiographie als ebenso fiktiv zu gelten wie jeder Roman, und keine noch so objektive Geschichtsschreibung könne verlässlicher beziehungsweise realistischer sein als eine künstlerische Erzählung. Damit wird freilich nur wiederholt, was schon Witold Gombrowicz einst notiert hat, dass nämlich die aufrichtigste Schreibweise stets auch die verlogenste sei.

Doch darüber hinaus soll nun also neuerdings die These gelten, wonach ausschliesslich bisher verpönte Verfahren wie eben das Imitat, das Plagiat, das Kompilat als echt und originell gelten könnten. Denn nur bereits vorliegende Texte, nicht jedoch textexterne Wirklichkeitsausschnitte liessen sich ohne Verlust literarisch wiedergeben, und insofern sei die Kopie jedem auktorialen Originalwerk überlegen. Es handle sich in diesem Fall – Stichwort: Sampling um „wirklichkeitsbasierte Kunst fast ohne Kunst“. Folglich wäre „unkreatives Schreiben“ fast keine Kunst, und der Kompilator dennoch ein ganzer Künstler?

 

 

 

Die hier zusammengeführten „Erkundungen

zu Sprache und Literatur“ gehen auf ganz unterschiedliche Anlässe zurück und haben auch durchaus unterschiedliche Zielsetzungen. Insgesamt sind sie aber, alle gleichermaßen, darauf angelegt, Literatur und Sprache „von unten“ zu erkunden, von ihren elementaren Gegebenheiten und Funktionen her, statt die Gesamtheit oder bloß inhaltlich zu betrachten und daraus verallgemeinernde Schlüsse zu ziehen. Literatur- und sprachtheoretische Ambitionen, treten zurück hinter das Interesse an Detailfragen des literarischen Sprachgebrauch.
Im Vordergrund stehen Praktiken des Schreibens wie auch der Lektüre, exemplifiziert an Erzähl- und Gedichttexten der euro-amerikanischen Moderne, von der „Literaturrevolution“ des frühen 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, sowie am Gesamtwerk und an der Poetik ausgewählter Gegenwartsautoren.

Moloko Print, Klappentext, 2023

 

Beitrag zu diesem Buch:

Timo Brandt: Literatur ist keine Maßnahme, …
Instagram, 25.3.2024

 

 

Jan Kuhlbrodt: Versuch über Ingold
poetenladen.de, 28.10.2012

Jan Kuhlbrodt: Vom Abtragen der Monumente oder das Wesen der Chronologie

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Ulrich M. Schmidt: Das Leben als Werk
Neue Zürcher Zeitung, 25.7.2012

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Magnus Wieland: Der Autor, der die Autorschaft hinterfragt
Berner Zeitung, 25.7.2022

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