Felix Philipp Ingold: Zu Felix Philipp Ingolds Gedicht „Die Unermüdlichkeit stehn Tisch…“

Autopsie

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

… und noch ein Fund aus jenem Wust von vergessenen Papieren – es handelt sich um zwei unnummerierte handschriftliche Seiten mit einem gereimten Gedicht ohne Titel, insgesamt dreimal zwei Strophen zu je vier Versen, getrennt jeweils durch einen Asterisk, dazu zwei weitere Verse (unfertige Strophe) sowie die separaten Notate „was mimt / muss irgendwie auch stimmen“ und „Flieht / vernimmt“. Die Niederschrift (schwarze Tinte) ist an manchen Stellen korrigiert (Streichungen, Zusätze, Varianten), wirkt aber insgesamt homogen. Auf beiden Seiten findet sich im Text bzw. unter dem Text ein alter Stempelabdruck mit meinem Namen und meiner Adresse; auf der Rückseite der Blätter – eine Teilkopie der Stanza II aus Gertrude Steins „Stanzas in Meditation“ in Maschinenschrift (S. 1) bzw. eine zweisprachige Gedichtkopie (italienisch/deutsch) aus nicht mehr feststellbarer Quelle (S. 2).
Ich habe keinerlei Erinnerung an die Entstehung dieses Gedichts und auch keine Vorstellung, wie es zu datieren ist.1 Aufgrund der Handschrift und der Machart des Texts steht immerhin fest, dass der Autor ich bin. Ich könnte mir denken, dass dieses poetische Fragment auf die mittleren 1990er Jahre zurückgeht, es könnte aber auch früher oder viel später entstanden sein. Obwohl ich es zeitlich nicht genauer einordnen kann, kommt es mir vor, als hätte ich noch gestern daran gearbeitet: So fremd und so befremdlich, wie der Augenschein auch ist, kann ich doch jede Wendung, jede Findung, auch jede Korrektur unmittelbar nachvollziehen, kann mir das Gedicht also problemlos zuschreiben, habe es übrigens auch sofort auf dem PC abgeschrieben, wobei ich geringfügige Änderungen vornahm und das offene Ende auf den Punkt brachte (im nachfolgenden Wortlaut unterstrichen) – so dass der Text nun wie folgt lautet:

 

Die Unermüdlichkeit stehn Tisch
und Bett viel länger durch
als diese Arve oder jede Angst. Wisch
(du!) vom Blatt den unbedarften Spruch

der nur Gelächter will und Ja.
Der wohl den Chor fürs Lob gewinnt,
nicht aber den Sopran für «fort!» und «da!».
Denn der bleibt schrill ans Hoch gepinnt.

*

Zeit und Engel sind verwandt
in komplizierter Einfachheit.
Zu zählen mit den Fingern einer Hand.
Kein Rahmen drum herum. Nicht breit

noch lang. Gemeinsam haben sie
den Südfuss und den vertikalen Wuchs.
Vollkommen ist die Opfersymmetrie
und eingeholt von seiner Spur der Luchs.

*

Da hilft kein Schmerz – kein Herz,
das eigentlich ins Buch gehört
und das nun – Faust geworden – himmelwärts
(da!) fliegt und jedes höhere Gefühl verstört.

Dort bleibt’s bestehn und ist ganz nackt
(so!) wie fast alles, was gewaltig ist.
Wie auch der Angelus, der mal Geschichte macht,
mal kurz sich unterscheidet und die Grenze ritzt.

*

Eigen – irgendwie – ist jeder Rest.
Der weisse Fleck. Die Narbe da. Die Schuld
von morgen früh, die keine Wetterfee erlässt.
(Ja…ch!) Fragt sich bloss, wer sich womit belud –

und – wozu? – und bis wohin? – und für wen
und für wie lang!

 

Die Abschrift ist also gleichermassen Nachschrift und Überschreibung. Doch wie soll sie nun datiert werden? Welche Fassung kann als Original gelten? Inwiefern darf ich das Gedicht als mein Gedicht in Anspruch nehmen, da ich doch – ausser der Handschrift – keine plausible Gewissheit über meine Autorschaft habe. Denn es könnte sich letztlich durchaus auch um eine Übersetzung handeln, zu der nur einfach die Vorlage fehlt?

Felix Philipp Ingold, 2020-09-15

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00