Das Nichtverstehen als Verständnismöglichkeit

Leseerfahrungen mit William Faulkner

Angeregt durch eine frühe Besprechung Hans Blumenbergs habe ich mir, nebst einigen andern Titeln von William Faulkner, den Roman Sanctuary aus dem Jahr 1931 besorgt. „Die Freistatt“ heisst das Buch in der Wollschläger’schen Neuübersetzung − es ist eins der wenigen modernen Erzählwerke, das mir bei und nach der Lektüre völlig unzugänglich bleibt. Ich könnte den Text weder resümieren noch gar kommentieren.
Die vielen Personennamen haben nicht mehr Gewicht als irgendwelche rekurrente Substantive, ausgenommen Temple Drake, eine achtzehnjährige, ebenso dämonische wie unbedarfte, von Männern gejagte und geschundene Herumtreiberin, die allerdings nur wenige Auftritte hat. Alle andern Protagonisten verschwimmen und verschwinden mir beim Lesen, sind kaum unterscheidbar, bleiben physisch wie auch ihrer Sprache nach im Status eines − kollektiven − Prototypen befangen: Ecce homo! So ist der Mensch, so sind die Menschen; so sind wir eben … Ein klägliches Geschlecht, kaum des Redens mächtig, dafür stets bereit herumzubrüllen, zu lügen, zu betrügen, zu stehlen, zu saufen, zu schlagen, auch zu töten. Der Mensch, wie er − nicht nur in den Südstaaten, nicht nur in den USA − grossmehrheitlich leibt und lebt.
Man erinnert sich an das Erzählwerk Fjodor Dostojewskijs, an dessen desolates, dennoch christlich grundiertes, für Trost, Hoffnung, Erlösung offenes Menschenbild, in das Schurken aller Art − auch der schlimmsten − sich doch immer noch einpassen lassen. Doch bei Faulkner fehlt jeder Trost, jede Hoffnung, von Rettung zu schweigen. Die Stelle, die Macht Gottes bleiben leer. Einsicht, Vergebung, Gnade gibt es nicht.
Doch nicht dies ist der Grund meines Unverständnisses (oder Missverstehens). Und wie sollte ich erklären können, was ich weshalb nicht verstehen kann?
Ich bin gegen diesen Text − anders als beispielsweise bei Faulkners Licht im August oder Schall und Wahn − gleichsam imprägniert, heisst: nichts prägt sich mir ein, nichts wirkt in mir fort.
Die Freistatt kommt mir jetzt, unmittelbar nach der Lektüre, wie ein bereits wieder vergessener Traum vor: Ich weiss wohl, dass ich geträumt habe, weiss nur nicht was. Ausser einigen deskriptiven Details, die für die Handlung irrelevant sind, habe ich aus der Lektüre nichts behalten. Wenn ich das Buch (das über weite Strecken aus Dialogen − genauer: aus Gerede − besteht) nun noch einmal durchgehe und auf meine Unterstreichungen achte, sind es stets beschreibende Passagen, die − mit Verlaub − ebenso gut einem andern Buch entstammen könnten, die also für sich stehen. Merken kann man sich (kann ich mir) derartige Passagen schwerlich, sie bieten sich jedoch − als gleichbleibendes Faszinosum − zu wiederholtem Nachlesen an. Mit dem Romangehalt haben sie nichts zu schaffen, es sind subtil ausgearbeitete, subtil eingestreute Miniaturen, die in meiner Wahrnehmung den trostlos nomadisierenden Plot überstrahlen.
Ein leuchtendes Beispiel dafür ist, unter andern, der nachfolgende Absatz aus dem achtzehnten Kapitel des Romans − es könnte auch ein selbständiges Prosagedicht sein: Es war ein heller, sanfter Tag, ein fröhlicher Morgen, erfüllt von kaum glaublichen, sanften Farben des Mai, von der Aussicht auf Mittag und Hitze, von hohen, fetten Wolken, die leicht dahinschweben, Schlagsahnetupfern gleich, wie Bilder in einem Spiegel, und deren Schatten gelassen über die Strasse schlendern … Die Obstbäume, die weiss aufblühenden, hatten schon kleine Blätter gehabt, als die Blüten trieben; sie hatten nie die strahlende Weisse vom letzten Frühjahr erreicht, und auch der blutrote Hartriegel war erst zu voller Blüte gelangt, nachdem sich die Blätter gezeigt hatten, in grünem Krebsgang vor dem Crescendo. Doch Flieder und Glyzinie und Judasbaum, selbst die schäbigen Himmelsbäume waren nie schöner gewesen, blendender, gleissender, und ein brennender Duft wehte wohl hundert Yards weit mit der wandernden Luft von April und Mai …
Zum Verständnis des Werks insgesamt tragen solche deskriptiven Diskurse kaum etwas bei. Der zitierte Abschnitt nimmt sich aus wie ein plötzliches Gleissen, das den Horror unsäglicher menschlicher Niedertracht für einen Augenblick ausblendet, bevor erneut die finstere Gewalt der normalen Alltäglichkeit hereinbricht.
Ist womöglich, frage ich mich nach dieser Leseerfahrung, das Nichtverstehen (oder auch das Missverstehen) eine spezifische Spielart des Verstehens?

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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