Eine Frage der Proportion

Im Neuen Museum Biel hat der britische Photograph Levon Biss unlängst Aufnahmen von winzigsten Insekten in menschlicher Lebensgrösse ausgestellt – ein Floh von 1,8 mm Länge, in seiner natürlichen Gestalt so gut wie unsichtbar, misst im Bild (beziehungsweise als Bild) 1,80 m, steht also ungefähr mit mir gleichauf.
Es sind missachtete, gefürchtete, mehrheitlich als Schädlinge diskriminierte Tiere, denen ich hier Aug in Aug gegenübertrete und die unversehens Qualitäten erkennen lassen, die man nie zuvor wahrgenommen hat. Die Körper dieser Zwergwesen, sind nicht nur ausgestattet mit zahlosen Gelenken, Antennen, Sinnes- und Fortbewegungsorganen, sondern auch mit – scheinbar doch – überflüssigen Eigenschaften wie Individualität und Schönheit. Tatsächlich zeigt sich bei solcher Gleichstellung die Einzigartigkeit eines jeden dieser sonst massenhaft, oft schwarmartig auftretenden Lebewesen, aber auch ihre Schönheit (Musterung, Farbe, Glanz, vielfältige Materialität), die man, da sie sich meist im Verborgenen aufhalten, nicht zu sehen bekommt und wegen ihrer Winzigkeit auch gar nicht zu sehen vermag.
Dass nicht nur wir als gewöhnliche Betrachter, sondern auch sie selbst diese – ihre eigene − Schönheit nicht wahrnehmen können, weckt die Frage nach deren Sinn und Funktion beziehungsweise nach dem evolutionären Gewinn, den sie allenfalls darstellt.
Wozu taugt, was bringt, was bewirkt Schönheit, wenn sie der Wahrnehmung entzogen bleibt?
Denn auch die unvergleichlich schönen Bilder, die ich dort zu sehen bekam und die man auch dort gesehen haben muss, weil nur vor Ort (und nicht im Katalog oder auf Kunstkarten) die gewaltige Übergrösse der Objekte zu ermessen ist, die dem normalen Wuchs eines erwachsenen Menschen entspricht. Es braucht den eigenen Augenschein – ohne die von Biss verwendeten Spezialkameras und -mikroskope hätte ich … hätten wir von diesem Schönheitsüberschwang keine Ahnung.
Kann Schönheit selbstgenügsam sein? Feiert sie sich selbst? Falls ja – was wäre ihr Ziel, ihre Wirkung?
Uns kann sie allein durch technische Vermittlung (vergrösserte, in diesem Fall zweidimensionale Bildgebung) erreichen. So gewinnt sie unser Gefallen, und wir wissen noch nicht einmal, warum uns Schönheit eigentlich gefällt.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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