Signatur als Gedicht 

In den frühen 1970er Jahren arbeitete Pier Paolo Pasolini an einem auf rund 2.000 Druckseiten angelegten Erzählprojekt, mit dem er sich, nach einer Reihe skandalöser Filmerfolge, ultimativ als Grossschriftsteller etablieren wollte. Das geplante Romanwerk – Pamphlet, Prophetie und verkapptes Selbstbekenntnis in einem – blieb unvollendet.
Als 1975, mit Pasolinis Ermordung, die Schreibarbeit vorzeitig abbrach, lagen zwar einige hundert Seiten vor, doch ein kohärenter Text war daraus noch nicht zu ersehen. Erst 1992 erschienen die disparaten Fragmente in der italienischen Originalfassung unter dem Titel Petrolio als Buch, 1994 folgte die deutsche Übersetzung.
Ich habe mir vor kurzem die Taschenbuchausgabe von Petrolio (2015) besorgt, nachdem ich auf einen Hinweis gestossen war, demzufolge Pasolini mit seinem Roman zumindest teilweise Fjodor Dostojewskijs Dämonen überschrieben habe oder jedenfalls habe überschreiben wollen. Zwar wird Dostojewskij und wird auch sein grosser Roman über das Ringen der russischen „Nihilisten“ mit ihren konservativen Vätern bei Pasolini beiläufig erwähnt, doch zu einer produktiven Auseinandersetzung mit dem berühmten Vorbild kommt es im Werkentwurf nicht.
Pasolini begnügt sich mit beiläufigen Notizen, überlegt sich, wie er den anarchistischen Fürsten Stawrogin in die italienische Gegenwart versetzen könnte, kommt bei diesen Überlegungen jedoch über Vorfragen und Ansätze nicht hinaus. Das gilt ebenso für das Romanprojekt insgesamt und entspricht einem frühen poetologischen Statement, das er (Leopardi paraphrasierend) wie folgt auf den Punkt brachte: „Ich mache kein Werk, ich mache lediglich Versuche, um unentwegt zu präludieren …“
Für den Autor des Petrolio scheint die Erkundung der sexuellen Kampfzone zwischen Arschloch (Anus), Möse (Vulva) und Pimmel (Penis) klaren Vorrang zu haben – über Hunderte von Seiten widmet er sich den erotischen Phantastereien und den schwulen Vorlieben seines Protagonisten Carlo, den er, stets präsent als Icherzähler, unverkennbar als sein Double in Szene setzt. Der klassenkämpferische Sound der kleinteiligen Texte, die sich zum Roman hätten fügen sollen, bleibt vergleichsweise moderat, und auch die eingestreuten beschreibenden Passagen (Naturbilder, Strassenszenen, Intérieurs usw.) kommen über fahrige Skizzen kaum je hinaus.
Der enorme editorische Aufwand, mit dem man dieses unfertige, über weiteste Strecken uninteressante Werk publik gemacht hat, ist einzig mit Pasolinis Kotierung als herausragender Filmkünstler und einflussreicher politischer Publizist zu erklären; zu rechtfertigen ist er nicht. Die Skripten zu digitalisieren und sie somit für die Forschung zugänglich zu machen, hätte durchaus genügt.
Und dennoch wollte ich das Buch nach mehrtägiger Lektüre nicht einfach weglegen. Auf Seite 465 setzte ich mich von der Aussagebene des Erzählwerks ab, verlegte meine Aufmerksamkeit von den zahllosen „Wichsern“ und „Arschfickern“ auf die Textoberfläche, achtete also mehr auf das Wortmaterial und dessen Gebrauch denn auf das, was Pasolini mit graphomanischem Furor hat „sagen“, darstellen, wahrhaben wollen. Auf selbiger Seite findet sich im Übrigen das überraschende Diktum, wonach „jede Wortkombination ein Gedicht“ sei – der Erzähler wird hier vom Lyriker (der Pasolini schon immer war) in geradezu programmatischer Weise sekundiert, und tatsächlich finden sich in Petrolio an manchen Stellen ingeniöse Wortspielereien, die ansonsten von politisch engagierten Autoren eher gemieden werden.
Unter diesem Gesichtspunkt erweist sich Pier Paolo Pasolini allein schon durch die Wahl seines Werktitels als feinsinniger Dichter, feinsinnig im Kontrast zu seinem vierschrötigen Erzählstil. Der Titel – Petrolio – war ein Zufallsfund: Pasolini ist das geläufige Wort (für „Erdöl“) im Frühjahr oder Sommer 1972 bei der täglichen Zeitungslektüre erstmals als solches aufgefallen. Einerseits steht Erdöl (Petroleum) unter klassenkämpferischem Gesichtspunkt für Kapitalismus und Ausbeutung, anderseits lässt die Lautgestalt des Begriffs „Petrolio“ diverse Assoziationen aufkommen, die Pasolini durchaus willkommen waren und die er denn auch bewusst zu nutzen versuchte.
„Petrolio“ soll erstens auf den antiken Dichter Petronio (Titus Petronius Arbiter) und dessen Hauptwerk, das Satyricon, verweisen, das zu Pasolinis wichtigsten Textvorlagen gehörte, und es soll zweitens das italienische Wort „troia“ (Sau) beziehungsweise „troiai“ (Sauerei) evozieren, das zu den Inhalten des geplanten Romans und seiner erzählerischen Intonation bestens passt. Und nicht zu vergessen: „Petrolio“ ist ausserdem, wenn man den Begriff buchstäblich nimmt, ein (unvollständiges) Anagramm des Autornamens Pier Paolo Pasolini – der Werktitel gewinnt mithin zusätzlich die diskrete Funktion einer Signatur, und mehr als dies: „Petrolio“ ist als mehrdeutige Laut- und Buchstabenkombination nach Pasolinis eigenem Dafürhalten ein Gedicht.
Allein deswegen hat sich für mich der Gang durch den Steinbruch des unvollendet gebliebenen Romans gelohnt. Auch im Scheitern war Pasolini ein Meister, ein Gewinner.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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