Wider die Konsensfähigkeit schöner Literatur 

Ein Grossschriftsteller als Ehrenbürger

Der Ehrenbürger ist kein starker, kein unterhaltsamer und auch kein witziger Film, wie die Kritik ihn mehrheitlich sehen will, aber doch ein Film, der (und das ist sein ambivalentes Hauptverdienst) mehr zu denken als zu sehen gibt. Die Regie bleibt durchweg in Konventionalität befangen, ebenso die Kamera, die Wahl der Schauplätze.
Ein Gleiches gilt für den Plot: Ein weltbekannter argentinischer Schriftsteller, geadelt als Nobelpreisträger, kehrt, nach jahrzehntelanger Abwesenheit, aus Europa in sein Geburtsdorf zurück, um dort die Ehrenbürgerschaft entgegenzunehmen und einige seiner Schul- und Jugendfreunde – unter ihnen seine erste Liebe – wiederzusehen. Aus der Konfrontation von Weltläufigkeit und Provinzialität werden possenhafte Episoden entwickelt, die sich wie Revuenummern aneinanderreihen, vorhersehbar und meist stark überzeichnet.
Demgegenüber tritt der Protagonist, klischeehaft porträtiert als rechthaberischer Intellektueller und eitler Starautor, unentwegt mit lehrhaften Reden auf, die sein elitäres Kunstverständnis erläutern und rechtfertigen sollen – alles, was diesem Verständnis widerspricht, wird als Kitsch abgefertigt, wenn nicht gar kriminalisiert. Das Selbstverständnis der unbedarften Provinzler desavouiert der Herbeigereiste als falsches Bewusstsein, und seine einzige Ambition scheint darin zu bestehen, dieses falsche, dabei ganz normale Bewusstsein bei jeder sich bietenden Gelegenheit richtigzustellen.
Als ein enthusiastischer Leser, der in einem seiner Romanhelden einen nahen Verwandten entdeckt zu haben glaubt und ihn, den Autor, zum Dank für die „Verewigung“ zu sich nach Haus zum Essen einlädt, beschimpft er ihn auf offener Strasse und macht ihm weis, dass Kunst nichts, aber auch gar nichts mit erlebter Wirklichkeit zu tun habe und dass jeder, der dieser naiven Fehleinschätzung anhängt, als Banause gelten müsse.
Der abgehobene Nobelpreisträger hat sich offenkundig die postrealistische Poetik der europäischen Moderne zueigen gemacht und er kann sie auch plausibel begründen, doch vergisst er dabei, dass er eine Autorenpoetik vertritt, die für seinen gutmeinenden Leser irrelevant und deshalb in keiner Weise nachvollziehbar ist. Der Dialektiker wird zum Opfer seines eigenen Rigorismus, der stets vom Entweder-oder ausgeht und sich die Möglichkeiten des Sowohl-als-auch entgehen lässt.
Es mag zur Normalität modernistischer Schriftstellerei gehören, die äussere Welt zu vereinnahmen und bis zur Unkenntlichkeit zu verfremden, für den Durchschnittsleser (und wohl noch mehr für die Leserin) gilt jedoch nach wie vor, dass sich Literatur grundsätzlich durch einen affirmativen Weltbezug zu legitimieren und das Gebot der Widerspiegelung zu befolgen hat. Aufgabe der Kritik wäre es, zwischen diesen konträren Positionen zu vermitteln, eine Aufgabe, die sie heute zunehmend vernachlässigt, indem sie die naiv realistische Betrachtungsweise der mehrheitlichen Leserschaft übernimmt.
Der verkannte Starautor und Ehrenbürger wird von den Einheimischen entweder vorbehaltslos bewundert oder vorbehaltslos gehasst, doch auch ihm gelingt die Vermittlung nicht, und er ist daran auch gar nicht interessiert – er lässt sich von den Ereignissen treiben und beschränkt sich darauf, das bald ins Lächerliche, bald ins Brachiale ausartende Geschehen in brillanten Monologen zu kommentieren, ohne sich im Geringsten vereinnahmen zu lassen. Dabei wirkt er wie ein Missionar oder ein Ethnologe, der pritimitive Eingeborene mit europäischem Geist aufzuklären versucht, bis er schliesslich, nur knapp einer mörderischen Hetzjagd des örtlichen Gangsterkonsortiums entkommen, ernüchtert in sein Exil nach Barcelona zurückkehrt, um das Erlebte und Erlittene literarisch aufzuarbeiten.
Auch wenn der Film als solcher nicht überzeugen kann, verweist er doch auf einige rezente Fragen der zeitgenössischen literarischen Kultur. Wenn der Nobelpreisträger in seiner Dankesrede die hohe Auszeichnung als Tiefpunkt seines Künstlertums bezeichnet mit der Begründung, dass ein Werk, das globale Zustimmung finde und von Laien wie von Kritikern und Akademikern gleichermassen geschätzt werde, keinen nachhaltigen Wert haben könne, ist das, wenngleich ironisch gedämpft, als frontale Polemik gegen den internationalen Literaturbetrieb zu verstehen, der schon lange nicht mehr von künstlerischen Kriterien dominiert ist, sondern von Ratings, Likes, unprofessionellem Konsens und unbedarften Slogans.
Obwohl der Preisträger seine Kritik als Selbstkritik kaschiert, indem er sein eigenes Werk eben wegen dessen Konsensfähigkeit für obsolet erklärt, nimmt er die Urkunde des Nobelkomitees und den ihm zugesprochenen Geldbetrag noch so gern entgegen. Zwar stösst er die Preisjury, die Kulturprominenz und, nicht zuletzt, die schwedische Königsfamilie mit seinen Aussagen gezielt vor den Kopf, doch tut er es im Wissen, dass man ihn auch dafür mit grossem Applaus belobigen wird. Damit beweist er seinem Publikum wie sich selbst, dass das Wort des Schriftstellers ebenso ambivalent und potentiell lügenhaft ist wie das eines jeden Normalverbrauchers.
Die Selbstkritik des Autors erweist sich letztlich auch nur als risikolose Selbstironie und als sarkastische Verhöhnung künstlerisch anspruchsvoller Literatur: Mit einer Handvoll herausgerissener Seiten aus einem seiner Bücher entfacht er auf dem Weg – dem Irrweg – in sein Heimatdorf nächtens ein Feuer, um in der Dunkelheit die erhofften Retter auf sich aufmerksam zu machen, und ein paar weitere Seiten reisst sein Fahrer heraus, um sich damit nach der Notdurft am Wegrand den Hintern zu wischen. Damit wird eben die Literatur als Müll schlechtgemacht, die der Nobelpreisträger in der Folge vor seinem unverständigen und widerstrebenden Publikum vehement gegen jegliche nutzbringende Vereinnahmung verteidigt.
Als einziger unter den Dorfbewohnern bewundert zuletzt nur noch ein junger Hotelangestellter den neuen „Ehrenbürger“ – er übergibt ihm ein Bündel selbst verfasster Kurzgeschichten mit der Bitte, sie zu lesen und ihm dazu seine Meinung mitzuteilen.
Der Nobelpreisträger zeigt sich davon so sehr angetan, dass er den Jungautor umstandslos mit Kafka vergleicht und ihm nicht nur eine Publikationsmöglichkeit, sondern sofort auch einen Vorschuss verschafft.
Damit ist die literarische Welt für den gescheiterten Ehrenbürger und gefeierten Nobelpreisträger wieder in Ordnung – er nimmt das Schreiben erneut auf, bleibt weiterhin erfolgreich und lässt sich den Erfolg auch weiterhin gefallen, im Wissen darum, dass breiter, durch Ratings, Bestsellers und Auszeichnungen beglaubigter Erfolg die Literatur als Kunst nicht bestätigt, sondern, im Gegenteil, sie in Misskredit bringt. 

[A Distinguished Citizen (2016). Regie: Gastón Dupret, Mariano Cohn. Hauptdarsteller: Oscar Martinez.] 

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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