2005-10-10

Noch ein später Oktobertag von heiterer Pracht. Das flache Frühlicht streift den bewaldeten Hügel von Envy und lässt ganz allmählich, so scheint’s, die leicht bewegten Wipfel in Flammen aufgehn – das satte Grün wird messinggelb und mangorot eingefärbt. Ich frühstücke auf der Terrasse, habe mein kleines portables Radiogerät neben mir auf der Sitzbank, erfahre von einem gewaltigen Erdbeben im Grenzgebiet zwischen Indien und Pakistan, das gestern Zehntausende von Toten und ebenso viele Verletzte gefordert haben soll, höre vom Unentschieden («fast ein Sieg») der Schweizer Nationalelf gegen Frankreich, von Angela Merkels Bestätigung als bundesdeutsche Kanzlerin. Auf der Terrasse wird es bald schon sommerlich warm. Die Luft hängt als bläulicher Schimmer diffus zwischen den Dächern. Der Vormittag verweht wie ein grosser schöner Wunsch, doch er hinterlässt, kaum merklich, ein bitteres, irgendwie bedrohliches Arom. Ich schreibe zwei, drei Briefe, gehe zum Lunch in den «Dorfsalon»; danach Lektüre auf der Gartenbank, Stifters Sonnenfinsternis mit meinen Anstreichungen aus einem andern, weit zurückliegenden Herbst; mir fehlt jedoch, wie meistens beim Lesen unter freiem Himmel, die Konzentration; ich lehne mich zurück und starre über die Tischkante zur Hecke hinüber, die den Garten vom Schulhof trennt. Schon kurz nach vier Uhr nachmittags steht der nach oben endlos offne Raum zwischen Gemeindehaus und Alter Schmiede im leicht getrübten Gegenlicht. Die Hecke sprüht von Ungeziefer, zahllose winzige Wespen wühlen sich durch die blassgelben Dolden oder stehn als wabernde Wolke darüber in der Luft. Drei, vier Admirale mit samtschwarzen, bunt gepunkteten Flügeln dringen immer wieder taumelnd in die Wespenwolke ein, zerteilen sie mit präzisen Schlägen; im flachen, fast waagrecht einfallenden Abendlicht, wenn sie sich zuoberst auf der Hecke niederlassen und ihre Flügel für Sekunden reglos aufgeklappt sind, blüht die Farbmusterung mit einer Intensität auf, wie ich sie sonst nur bei mittelalterlichen Glasscheiben wahrgenommen habe. Eigentlich mag ich Buntheit nicht, aber so lasse ich sie mir gefallen. Während jenseits der Hecke der normale Horror wütet.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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