Aleksandr Blok

DER KÜNSTLER

Im Sommerglast und wenn die Winterfröste sengen,
Auf jeder Hochzeit und bei jedem Totenfest
Ersehne ich mir jene leichten nie gehörten Klänge,
Die meinen Überdruss verdrängen ohne Rest.

Ein Klang ist plötzlich da. Und ich – ganz Ohr – versuche
Eiskalt ihn festzuhalten, zu begreifen ein für allemal.
Noch während ich hellhörig prüfend nach ihm suche,
Spannt er kaum merklich seinen fadendünnen Strahl.

Ist es die Meeresbrise? Sind’s die leisen Lieder
Der Vögel aus dem Paradies? Pausiert die Zeit?
Versprüht der Apfelbaum wie alle Jahre wieder
Den Blütenschnee? Ist es ein Engel, der vorübereilt?

Die Stunden dehnen sich durchs Weltgebäude.
Bewegung, Licht und Töne reichen weit und breit.
Vergangenheit starrt in die Zukunft, fiebrig, freudig.
Das Jammertal der Gegenwart bleibt in Vergessenheit.

Und endlich, kurz vor der Empfängnis völlig neuer,
Ganz unverhoffter Kräfte, fährt ein Fluch herab
Und rafft die Seele rasch dahin wie Himmelsfeuer:
Der Schöpfergeist erstarkt und siegt auf einen Schlag.

In meinem Kältekäfig setze ich gefangen
Den leichten Vogel, der von Freiheit singt.
Er kam im Flug, den Tod zu bannen,
Er ist’s, der für die Seele Rettung bringt.

Da steht er, mein Käfig aus Stahl – eine Festung,
Die golden erstrahlt in abendlicher Dämmernis.
Und da ist der Vogel, so heiter noch gestern –
Jetzt schwingt er den Ring und singt am Fenstersims.

Die Flügel gestutzt und alle Lieder nachgesungen.
Machen Sie kurz mal unterm Fenster halt!
Ob Ihnen die Lieder gefallen? Sie sind misslungen!
Nichts Neues zu hören – mich lassen sie kalt.

aaaaaaaaaa(1913; aus dem Russischen)

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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