Autorschaft; Autors Haft

I

Nach den vielstimmigen Vermisstmeldungen und Totsagungen des künstlerischen, vorab des literarischen Autors in den 1970er, 1980er Jahren – die Erinnerung an die damaligen, höchst kontroversen Debatten ist weitgehend verblasst – findet seit geraumer Zeit eine Renaissance, zumindest eine Aufwertung des Schriftstellers als Person statt. Heutige Autoren, Autorinnen haben offenkundig kein Problem mehr damit, «ich» zu sagen, also im eignen Namen zu sprechen und zu schreiben, eigne Erfahrungen und Befindlichkeiten frontal mitzuteilen, die eigne Meinung über Gott und die Welt vorzutragen, die eigne Lebensgeschichte, die Geschichte der eignen Familie, des eignen Vaters, der Mutter, des jüngern Bruders, der ältern Schwester zum Besten zu geben, oft mit dem Anspruch, gleich auch noch die Geschichte einer Epoche, den Roman einer Generation, wenn nicht überhaupt den Roman des Jahrhunderts vorzulegen. Gern werden ausserdem fremde Biographien angeeignet, mit persönlichem Erleben und Empfinden unterlegt, dann aber doch in historischen Kulissen und mit historischem Kolorit vorgeführt – die grossen literarischen Erfolge der jüngsten Zeit wurden fast ausnahmslos aus der Amalgamierung von biographischem und autobiographischem Schreiben gewonnen, meist in Verbindung mit geschichtlichen, auch zeitgeschichtlichen Themen und Stoffen. Die Belletristik – nicht nur die deutschsprachige – wird dadurch um ein hybrides Genre bereichert, das Fiktion und Dokumentation, Erzählung und Reportage, Selbsterlebensbeschreibung und Essayistik zusammenführt.
Das Rückkommen auf den Autor als Autorität ist zu einem globalen Trend geworden, der in Schweden und Peru, in Kanada und Japan gleichermassen zu beobachten ist, der aber – man liest und staunt – keineswegs zu einer Vervielfältigung der Personalstile geführt hat, sondern umgekehrt zu einem mehr oder minder einförmigen (narrativen wie lyrischen) Zeitstil, der neuerdings auch weltweit an nationalen und regionalen Literaturinstituten gelehrt wird. Dieser aktuelle Zeitstil ist primär auf Markttauglichkeit und Publikumsgeschmack, aber auch auf leichte Übersetzbarkeit von Sprache zu Sprache und von Medium zu Medium (Literatur/Hörbuch, Literatur/Film usf.) angelegt, muss also in einen vorgegebnen ausserliterarischen Erwartungshorizont eingeschrieben werden und lässt für individuelle Neuerungen nur wenig Spielraum. Literarische Originalität gilt, zumal dort, wo sie sich im Formalen auslebt, fast schon grundsätzlich als Zumutung, als zu «anspruchsvoll», als «schwierig» oder «elitär», wohingegen bewusste, bestenfalls ironisch überhöhte Klischeebildungen und Trivialismen weithin belobigt, wenn auch nicht als solche benannt werden. Dass die sogenannte Wiederkehr des Autors gerade nicht zu stilistischer Diversifizierung, vielmehr zur globalen Unifizierung auktorialen Redens geführt hat, ist ein be­merkenswertes Paradox, dessen pragmatische Auflösung keinerlei 
Schwierigkeiten macht, dessen eigentliche Problematik jedoch kaum wahrgenommen wird.
Vordergründig manifestiert sich die Wiederkehr des Autors in der Art und Weise, wie er – ausserhalb der Literatur – auftritt und sein Image pflegt. Auf dieser Ebene ist Originalität durchaus gefragt, sie wird erwartet bei Lesungen, in Umfragen, Interviews, öffentlichen Diskussionen, und sie wird eingelöst durch ein entsprechend modelliertes Outfit, das individuelle Akzente setzen und Unverwechselbarkeit sichern soll. Wer derartige persönliche Qualitäten erfolgreich einsetzt, und sei’s auch bloss auf einer Lesereise durch die deutschen Literaturhäuser, ist Anwärter, Anwärterin auf einen eigens dafür geschaffnen Preis, der nichts mit Literatur, aber sehr viel mit Selbstdarstellung zu tun hat.
Durch ihr Image und ihren Auftritt weisen sich Autoren heute als effiziente Ego-Firmen aus. «Dreh die Zeit zurück: Schau, da bist / du wieder, am Anfang», heisst es in einem späten Gedicht von Charles Bukowski: «Willst Schriftsteller werden, kein grosser / nur einer, der Geld dafür kriegt und / davon lebt …» Doch als Ego-Firma braucht der heutige Autor keineswegs bloss das Geld zum Überleben, er steht in ständiger Konkurrenz mit andern, muss Aufträge, Erfolge, Preise requirieren, bemüht sich um seine Präsenz in führenden Literaturzeitschriften, bei hoch kotierten Verlagen und publikumsträchtigen Veranstaltungen; seine Qualität weist er mit Vorliebe – auf Klappentexten, in Personalnotizen – durch Quantitäten aus, das heisst durch möglichst «zahlreiche» Veröffentlichungen, durch «zahlreiche» Preise, Stipendien, Werkaufträge, gern auch durch «zahlreiche» vorgängige Berufe (vom Torfstecher bis zum Entwicklungshelfer) und, nicht zu vergessen, durch «zahlreiche» Reisen, durch Studien- und Arbeitsaufenthalte im Ausland, schliesslich durch Übersetzungen in möglichst «zahlreiche» Sprachen. Der Vergleich, der Wettbewerb findet also nicht auf dem Terrain der Literatur statt, nicht zwischen Texten, sondern zwischen Autoren, die sich dafür naturgemäss möglichst vorteilhaft aufzustellen versuchen.
Das Image des Autors und seine Präsenz im Betrieb scheinen in manchen Fällen dem Werk vorgeordnet zu sein, dieses wiederum muss als Produkt der jeweiligen Ego-Firma im Gespräch gehalten werden, man muss es «gesehen», nicht unbedingt gelesen haben, und wo es Anlass zu Diskussionen gibt, geht es in aller Regel um Inhalte, um persönliche Meinungen, um politische oder ideologische Positionen, aber kaum je darum, was den betreffenden Text als ein Werk künstlerischer Literatur auszeichnet.
Die Tatsache, dass Literaturwerke mit zunehmender Häufigkeit zu corpora delicti und damit zur Pflichtlektüre für Juristen werden, macht deutlich, wie realitätsnah und wie kunstfern heute gemeinhin geschrieben wird. Von Kunst ist dann erst die Rede, wenn es – im Gerichtsfall – darum geht, verletzte Persönlichkeitsrechte oder die Kolportage vertraulicher Dokumente durch vorgeblich «künstlerische» Notwendigkeiten zu legitimieren.
Schon um 1950 hatte der Schriftsteller Julien Gracq diese Entwicklung in ihren ersten Ansätzen dingfest gemacht und sie in seinem Pamphlet über Die Literatur für den Magen (La Littérature à l’estomac) harsch kritisiert. Gracq warnte vor der allgemeinen Geschmacks- und Stilnivellierung nach unten, vor zunehmender Anpassung mancher Schriftsteller an das breite Publikum, das Autornamen nur mehr als Markenzeichen begreife und Bücher, falls überhaupt, so konsumiere, als handelte es sich dabei um Ess- oder Schleckwaren. Besonders hart ging er mit jenen Literaten ins Gericht, welche sich – schon damals – in Starpose gefielen und nur noch daran interessiert waren, mit dem Zeitgeist und also auch mit den Medien gemeinsame Sache zu machen, um ein Erfolg versprechendes Image aufzubauen. Gracqs resolute, wiewohl vergebliche Infragestellung des Autors als Trendsetter und Medienklon erweist sich nun, angesichts des globalisierten Literaturbetriebs, als ebenso weitsichtige wie präzise Prognose, die an Aktualität nicht nur nichts verloren, sondern einiges dazugewonnen hat.

II

In manchen einschlägigen Publikationen der jüngsten Zeit wird die «Wiederkehr des Autors» (nicht anders als die «Wiederkehr des Körpers») thematisiert, oft mit Erleichterung kommentiert und als Beglaubigung menschlicher Subjektivität belobigt, dies wohl nicht zuletzt im Gegenzug zur dramatischen Entmächtigung des Subjekts durch Neurobiologie und Genforschung, die im Begriff sind, das Ich als Fiktion zu entlarven, ihm den freien Willen, das moralische Urteil, die persönliche Verantwortung und Schuldfähigkeit, aber auch die auktoriale Kreativität abzusprechen.
Wenn individuelle Selbstbestimmtheit heute von Seiten der exakten Wissenschaften in Frage gestellt wird, so war es um und nach 1968 der antiautoritäre Grundimpuls einer linksintellektuellen Protestbewegung, welcher jede Form privater Autorschaft kritisch unterlief, sie als Machtanmassung verwarf zu Gunsten kollektiven, also anonymen Schöpfertums. Nicht irgendein individueller «Phantast» – ob Dichter oder Diktator – sollte das Sagen haben, vielmehr die Phantasie selbst: «L’Imagination au pouvoir!» Und so wird auch nachvollziehbar, dass sich damals die Überzeugung durchzusetzen vermochte, der Autor habe seine Autorität an die Sprache abzugeben, die er ohnehin nicht beherrschen könne, von der er sich vielmehr tragen und lenken lassen müsse wie von einer anonymen, eigengesetzlich waltenden Macht.
«Schreiben», so lautete die von Edmond Jabès geprägte poetologische Formel dazu, «heisst geschrieben werden.» Noch 1988 hat Jacques Derrida diese Formel wortreich ausgeschrieben, indem er die Poesie selbst in der Ich-Form sich artikulieren liess: «Ich folge einem Diktat, ich bin ein Diktat, als Diktat bin ich eins, verkündet die Dichtung, lerne mich auswendig, schreibe mich (ins Reine) ab, wache bei mir und schütze mich, sieh mich an, diktiert, als Diktat, vor deinen Augen: Tonspur, wake, Lichtschweif, Photographie der Feier, die trauert. Der Antwort wird 
diktiert, dichterisch zu sein, sie wird diktiert und erfährt sich als solche – als diktierte –, weil sie dichterisch ist.»
Man mag sich heute über derartige Sophismen belustigen oder auch ärgern, Tatsache ist, dass die dichterische Autorschaft in damaligem Verständnis nicht als eine spezifische Weise des Diktierens begriffen wurde, sondern umgekehrt als ein Diktat in der Leideform – der Dichter ist der, der unter Diktat steht, der sich seinen Text als Fremdtext diktieren lässt, der nicht vor-, sondern nachschreibt, dem es folglich nicht mehr darum geht, schreibend eine Spur zu hinterlassen, sondern das Schreiben als Spurensuche zu praktizieren. Die Zeit, da der Autor noch etwas zu verkünden hatte, ist – nach Paul Valéry – abgelöst worden durch eine Zeit des Erkundens, des Scannings, des Zusammenschneidens bereits vorhandener Texte, ein Verfahren, das für manche (in ihrer Art ganz unterschiedliche) Dichter des 20. Jahrhunderts prägend geworden ist und das auf zwei viel frühere Grundimpulse zurückgeht, nämlich auf die Abseitsstellung des Subjekts als «etwas Anderes» durch Arthur Rimbaud und auf die Totsagung Gottes durch Friedrich Nietzsche. Das eine hängt mit dem andern insofern zusammen, als der zum Genie, zum Olympier, zum Propheten, zum Demiurgen überhöhte Autor zuvor in aller Regel vom Nimbus säkularer Göttlichkeit umgeben war – als «allwissende», «allpräsente» schöpferische Instanz, die ab ovo oder ex nihilo operiert. Eine starke Dichterin wie Emily Dickinson muss nun erkennen und beklagen, «wie elend es ist, jemand zu sein», und sie schlägt damit den Kammerton an, der im europäischen Modernismus ständig wiederkehren wird, nicht selten ins Wehleidige gedehnt wie bei T.S. Eliot: «Die Entwicklung des Künstlers besteht in einem unaufhörlichen Selbstopfer, in stetiger Tilgung der eigenen Persönlichkeit.» Usf.
Die weit verbreitete Auffassung von wortführender und wegweisender Autorschaft wurde somit zurückgestuft auf ein primär handwerkliches (oder technisches) Verständnis, wie es einstmals für die mittelalterlichen Skribenten galt, hat aber, darüber hinaus, die sinnlichen Qualitäten von Sprache (Klang, Rhythmus usf.) 
gegenüber der konventionellen Funktion des Bedeutens hervorgehoben, wenn nicht gar – wie im Dadaismus oder Futurismus – davon abgekoppelt. «Nichts ist so uralt und im übrigen natürlicher als dieser Glaube an die eigentümliche Kraft des Wortes, von dem man annahm, es wirke weniger durch seinen Tauschwert als durch irgendwelche Resonanzen, die es in der Substanz der Menschenwesen wecken musste», hatte einst Valéry im Rückblick auf Mallarmé notiert: «Die Wirksamkeit dieses Zaubers lag nicht in der sich aus ihren Worten ergebenden Bedeutung, sondern vielmehr in ihren Klängen und den Eigentümlichkeiten ihrer Form. Selbst die Dunkelheit gehört fast zu ihrem Wesen.»
Diese neoprimitivistische, man könnte auch sagen: neoadamitische Sprachauffassung wurde im späten 20. Jahrhundert massiv aufgerüstet zu einem strukturalistischen Theoriegebäude, an dem Poetologen, Linguisten, Philosophen, Ethnologen gleichermassen beteiligt waren und zu dessen Inventar attraktive Konzepte wie Autopoiesis, Intertextualität, Rezeptionsästhetik, Semanalyse gehören, aber auch – von Lévi-Strauss als primitive Alltagstechnologie beglaubigt und einprägsam beschrieben – die Bastelei («bricolage»), die aus zufällig vorhandnen Versatzstücken immer wieder neue Verbindungen, mithin auch immer wieder neue Strukturen schafft. «Ich finde nur Worte», so hat einst – als Leser wie als Autor – Émile Chartier gen. Alain diesen Vorgang knapp charakterisiert: «Aber die Anordnung der Wörter ist es, die das Werk ausmacht …» Nicht der Autor ist in solchem Verständnis der Schöpfer, und nicht das Werk ist das Neue, «neu» sind die neu arrangierten funktionalen Verknüpfungen zwischen den jeweils verwendeten Teilelementen.
Der Text, so begriffen, kann nicht mehr in Funktion zum Autor beziehungsweise in Abhängigkeit von diesem gesehen werden; die Relation verkehrt sich in ihr Gegenteil, der Autor seinerseits wird zu einer Funktion des Texts, er «verschwindet», er ist «tot» als schöpferische Autorität mit eigenmächtigem Anspruch auf Werk­herrschaft.
Es ist bemerkenswert, dass selbst ein Schriftsteller wie Botho Strauss, der doch durchaus «etwas zu sagen haben» möchte und dies mit betont autoritärer Rhetorik auch tut, schon früh jene an­tiautoritäre Poetik sich zu eigen gemacht hat; ein Schriftsteller also, der seine Präsenz bekanntermassen durch beharrliche Absenz vom Literaturbetrieb markiert, macht sich zum Fürsprecher des poeta otiosus, eines Aussenseiters ohne Ambition und ohne Wirkungskraft, eines Autors, der den Akt des Schreibens – angeblich – nicht durchsetzt, vielmehr geschehen lässt. Die Funktionsbestimmung dieses Dichtertyps wirkt bei Strauss, dessen unentwegte Produktivität und herrisches Weltverständnis man hinreichend kennt, wie eine Selbstparodie, hinter der sich womöglich seine Idealvorstellung abzeichnet: «Der zurückgetretene, der nutzlos gewordene, der in Vergessenheit geratene Ursprüngliche. – Seine Musse ist die ganz entbundene, ruhend-ruhlose Wache. – Seine Ataraxie: die Wörter sich finden zu lassen und nicht einzugreifen. (So viele sind mit so vielen noch nie in Berührung gekommen!) Das absichtslose Auge im Hintergrund.» Entscheidend für diese müssige, abwartende, loslassende und zulassende Art von Autorschaft ist das, was in Klammern steht, nämlich die Feststellung, dass der Dichter die Wörter in immer wieder neue Wechselbeziehungen entlassen soll, statt sie nach bestimmten Vorgaben und im Dienst vorbestimmter Aussagen aufzureihen.

III

Gleichzeitig mit der Verabschiedung des Autors durch die 68er Generation wurde die damals weithin vergessne Anagrammtheorie von Ferdinand de Saussure wiederentdeckt, der russische Formalismus und der tschechische Strukturalismus erlebten in Europa und den USA eine machtvolle Renaissance, die neue Poetik wurde zu einer Disziplin der Sprach- und Zeichenforschung, in der Poesie erkannte man eine vorwiegend grammatisch und phonologisch determinierte Textsorte – lauter Theoriebildungen, welche die Funktion Autor auf die Sprache zu übertragen, sie in ihr zu verankern suchten, so dass vorübergehend die Literarität vor der Literatur Vorrang gewann.
Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie sehr individuelle Autorschaft vor gar nicht so langer Zeit an der internationalen literarischen Front verpönt gewesen ist und dass man sie auf den «Nullpunkt des Schreibens» hat zurückführen können. Wortkünstler wie Georges Perec, Pierre Garnier, Jacques Roubaud, Bohumila Grögerová, Ladislav Novák, Gerhard Rühm, Eugen Gomringer, Oskar Pastior traten auf den Plan und wurden zu Protagonisten für die «konkret», «visuell» oder «auditiv» genannte Poesie, generell für eine kombinatorische Dichtkunst, als deren zentrales Laboratorium sich der Werkkreis für potentielle Literatur (Oulipo) in Paris etablierte. Eine ähnlich dominante Stellung gewann im Bereich der Prosa der «Neue Roman» (Nouveau roman) mit Alain Robbe-Grillet, Michel Butor, Robert Pinget, Claude Simon, Nathalie Sarraute, eine vorwiegend deskriptive, oft seriell sich entfaltende Schreibweise, die ohne psychologische Motivation und chronologische Ordnung, vollends aber ohne Ich-Perspektivierung auszukommen versuchte. Es war auch die Zeit, da Michel Foucault als «Philosoph ohne Namen» oder als «Philosoph mit Maske» von sich reden machte, die Zeit auch des höchsten Ruhms von und für Maurice Blanchot, des dunklen Autors, der sich nie in der Öffentlichkeit zeigte, nie einen Preis annahm, nie ein Bild von sich oder private Papiere zur Publikation freigab und explizit erklärte, er sei «als Autor ein Mensch ohne Gesicht», da «das Werk seit langem die Gestalt ausgelöscht und jede Biographie unlebbar gemacht hat».
Was in solchen Aussagen und an solchem Verhalten elitär oder hermetisch anmutet, kann – muss wohl auch – im Rückblick auf 1968 «kulturrevolutionär» begriffen werden als Abdankung individueller Diskursherrschaft zu Gunsten kollektiven Sprechens und anonymen Schaffens. «Dichter gibt es überall» (Il y a des poètes partout) oder «Poesie muss von allen gemacht werden!» 
(Poetry must be made by all!) – so und ähnlich lauteten die Slogans der damaligen linken Literaturszene, die in Paris und Stockholm, in Bologna und Berlin gleichermassen hochgehalten wurden. Und Joseph Beuys’ sanftes Diktum, wonach «jeder ein Künstler» sei, war implizit zu verstehen als Absage an jegliches originell und exemplarisch sein wollende Künstlertum.

IV

Im zeitgenössischen Literaturbetrieb sind solche Konzepte, ob elitär oder populär ausgeformt, nicht mehr gefragt. Zur Funktion Autor gehören heute, nebst regelmässiger Textlieferung, Auftritte in Literaturhäusern und Buchhandlungen, auf Messen und Festivals, bei Talkshows und in Quizsendungen, Auftritte, die mehr auf Human Touch angelegt sind denn auf Literaturvermittlung, deutlich mehr auf die Person des Autors denn auf dessen Werk. Allerdings ist der Autor als Person in vielen – den meisten – Werken ohnehin ganz vordergründig präsent und entsprechend leicht erkennbar, sei’s in Gestalt des Ich-Erzählers oder eines Protagonisten, sei’s als lyrisches oder als empirisches Ich, die im Übrigen, beide, auch als Du oder als Wir in den Text eingeführt werden können. Mit der individuell perspektivierten Ich-Rede kontrastiert ausserdem die Neigung jüngerer und jüngster Schriftsteller, sich zu Interessen- und Aktionsgemeinschaften zusammenzufinden. Der Autor als Outcast oder Einzelgänger scheint sich überlebt zu haben, spielt jedenfalls im Betrieb keine Rolle mehr.
Autobiographische Selbstvergewisserung macht einen Grossteil aktuellen Erzählens aus, sie findet, bei aller Ich-Bezogenheit, ihren bemerkenswert einförmigen Niederschlag in Familiengeschichten, Kindheitsgeschichten, Vatergeschichten, Schwestergeschichten, Freundschaftsgeschichten, Liebesgeschichten, Ehegeschichten, Krankheitsgeschichten, Reisegeschichten und dergleichen mehr. Peter Kurzecks Grosserfolg mit seinem (auf 4 CDs) gekonnt und einnehmend vorgetragnen Selbsterfahrungs
bericht Ein Sommer, der bleibt aus den 1950er, 1960er Jahren ist beispielhaft für die geradezu triumphale Wiederkehr des Autors als Person. Konsequent am Ich-Diskurs wie auch an der Ich-Perspektive festhaltend, gibt Kurzeck eine durchweg biedere, dabei penetrant beschönigende Geschichte zum Besten, die aus ihrem freundlichen, dialektal stark eingefärbten Plauderton eine ganz und gar private Aura gewinnt und eine heile Welt evoziert, in die man sich angesichts der gegenwärtigen Weltlage noch so gern einlullen lässt. Der Rezipient, ob Hörer oder Leser, sieht sich hier zurückversetzt in die Unmündigkeit, zurückverwiesen auf eine passive Erwartungshaltung, die keinerlei Anstrengung des Verstehens oder der Sinnbildung erfordert, die sich auf flüchtige Aufmerksamkeit beschränken kann und dennoch vollumfänglich befriedigt wird. Das bedeutet, literaturästhetisch gesehen, einen Rückschritt um mehr als ein Jahrhundert, ist aber insofern ernst zu nehmen, als sich heute ein breites Publikum erneut (oder noch immer?) dazu bereit findet, dieser reaktionären Ästhetik zu folgen, sich also damit begnügt, vom Autor, der nun fraglos wieder als Autorität anerkannt, ja gefordert ist, sich unterhalten und belehren zu lassen –
– eine Haltung, welche der allgemeinen Tendenz zu interaktiver Mediennutzung zuwiderläuft, sie vielleicht gar konterkarieren, sie zurückbiegen soll auf die sattsam bekannte Einbahnstrasse zwischen dem Autor (der etwas zu sagen hat) und dem Rezipienten (der etwas zu verstehen bekommt). Man sollte allerdings nicht vergessen, dass diese Tendenz auch von mehreren einst wortführenden Vertretern des Neuen Romans – Robbe-Grillet, Sarraute, Simon – in ihren alten Tagen beiläufig unterstützt wurde durch eine Reihe von autobiographischen Grosserzählungen, die statt der neutralen Optik des Kamerablicks die subjektive Sicht des jeweiligen Ich-Erzählers zur Geltung brachten. Damit war, wie ein Kritiker vor vierfünf Jahren hochgemut verkünden konnte, definitiv auch «der Tod des Autors begraben».
Fakt ist, dass die radikalen Literaturrevolutionen der europäischen Moderne die Tradition realistischen Erzählens ebenso wenig zu brechen vermochten wie die Souveränität individueller Autor­schaft. Als Grund dafür muss man wohl den diesbezüglichen Konservatismus des lesenden Publikums annehmen, ausserdem (und eben dadurch bedingt) das mehrheitliche Bedürfnis der Autoren, beim Publikum anzukommen, der Kritik zu gefallen, den allgemeinen Geschmack zu treffen, kurz: vom Schreiben le­ben zu können und durch das Schreiben sich einen Namen zu machen, der in der Folge metonymisch das Werk repräsentiert: «Walser lesen», «der frühe Grass», «ein neuer Handke». Auch der Literaturbetrieb untersteht – heute mehr denn je – der Lenkung durch die unsichtbare Hand des freien Markts, und das Wechselspiel zwischen Nachfrage und Angebot hat sich schon immer zu Gunsten konventionellen Dichtens und Trachtens ausgewirkt, ganz anders als in sämtlichen Wirtschaftsbereichen sonst, wo Innovationen sehr viel rascher und nachhaltiger rezipiert werden, derweil überholte Verfahren und Produkte ebenso rasch und nachhaltig in Vergessenheit geraten.
Auch die neuen Medien und Techniken des Schreibens scheinen zur künstlerischen Literatur kaum etwas beigetragen zu haben, es sei denn, man halte die Verluderung der Sprachform, die Kürzel und Jargonismen, die in E-Mailtexten gang und gäbe sind, für einen literarisch relevanten Innovationsgewinn. Erstaunlich bleibt, dass selbst medienversierte Autoren – solche, die den Umgang mit neuen Medien nicht nur souverän beherrschen, sondern ihn auch literarisch thematisieren – stilistisch in aller Regel weit hinter den medialen Möglichkeiten zurückbleiben und sich mit alltagssprachlichem Parlando, mit Fach- und Trendvokabular begnügen, auch dort, wo sie sich in utopischen oder phantastischen Welten bewegen. Texte aus Unterhaltungsmagazinen und aus Literaturzeitschriften sind einander in sprachlicher wie in kompositorischer Hinsicht mehrheitlich zum Verwechseln ähnlich. Selbst wo in Ich-Form über lauter Privatissima berichtet 
wird, bleibt die Erzählweise – trotz reichlicher Verwendung von Neologismen und Jargonismen aller Art – zumeist konventionell und scheint auch, wie manche Erfolgsromane der jüngsten Zeit belegen, den Kitsch nicht zu scheuen; sicherlich ist Kitsch heute in weiten Kreisen «geiler» als Kunst, das literarische Klischee «gefragter» als jeder Innovationsversuch, der Kalauer «origineller» als die subtilste poetische Formulierung.

V

Elektronisches Schreiben, Verarbeiten, Edieren erbringt gegenüber den fast schon obsolet gewordnen Techniken hand- und maschinenschriftlicher Textproduktion eine Vielzahl von Neuerungen, welche einerseits die üblichen manipulativen Schreibvorgänge (Korrigieren, Durchstreichen, Überschreiben, Umstellen u.a.m.) sowie die gestalterischen Möglichkeiten (Hervorhebungen wie kursiv oder unterstrichen, Einsatz verschiedner Schrifttypen, Schriftgrade, Schriftfarben, Integration von Sonderzeichen und Bildern u.a.m.) betreffen, anderseits – sehr viel einschneidender – die Funktion Autor insgesamt, die nun interaktiv verquickt ist mit der Funktion Leser, so dass der Akt des Schreibens und der Akt des Lesens in manchen Fällen ebenso wenig zu trennen sind wie die im Netz kooperierenden Schreiber und Leser.
Man könnte den vernetzten Textproduzenten provisorisch als «Lektautor» bezeichnen; im Englischen hat sich für diese neue Funktion der Begriff «Wreader» (aus «reader» und «writer») durchgesetzt, im Französischen spricht man von «écrilecture» (aus «écriture» und «lecture») – die hybriden Begriffskontaminationen bringen die zunehmende Funktionsverschränkung zwischen Lesen und Schreiben ebenso anschaulich wie zutreffend zum Ausdruck und … aber wieder ist hier anzumerken, dass die neue Begrifflichkeit keineswegs für ein neues Verfahren steht; dass der synergetische Kurzschluss zwischen Lesen und Schreiben einer althergebrachten Erfahrung entspricht, die für jegliche literarische 
Arbeit schon immer konstitutiv war und es notwendigerweise auch bleiben wird. «Bücher werden aus Büchern geschrieben», hat einst Georg Christoph Lichtenberg notiert: «Unsere Dichter werden meistenteils Dichter durch Dichter-Lesen.»
Auf der gleichberechtigten Wechselbeziehung zwischen Autor und Rezipient beruht übrigens auch der Produktionsprozess zeitgenössischer Poesiemaschinen (oder Maschinenpoesie) vom Typ Babel­-Poetry. Der Autor kann bei diesem Prozess einzig die Struktur «auktorial» bestimmen, indem er den Code der Textherstellung programmiert. Erst im interaktiven Zugriff auf das Programm werden die Texte – hier also Gedichte – entworfen und generiert; ob sie dann auf dem Monitor erscheinen oder auf Papier ausgedruckt werden sollen, ist Sache des konkreativen Empfängers, entzieht sich dem Willen und Einfluss des Autors.
Einen wesentlichen Anteil an der Aktualisierung von Computerpoesie hat, vom Autor und vom Nutzer des Programms gleichermassen unabhängig, die vernetzte Maschine selbst, die ihrerseits Texte erzeugt, deren Form und Inhalt weder der Nutzer noch der Autor vorhersehn, geschweige denn bestimmen können. Als zusätzliche Autorität etabliert sich demnach der Automat, der Computer also, der das Programm trägt, ein Programm, das beliebig viele Möglichkeiten (Kombinationen, Permutationen, Serien) der Textgenerierung bereithält, so viele, dass letztlich, allen hardware- und softwarebedingten Einschränkungen zum Trotz, der Zufall zum determinierenden Faktor wird.
Elektronisches Schreiben ist, im Unterschied zur herkömmlichen Schriftkultur, nicht mehr vorrangig auf die Fertigstellung und Stabilisierung des Texts angelegt, sondern auf dessen Verflüssigung, das heisst auf die stetige Modifikation des Corpus durch Umschichtung, Verschiebung, Löschung, Wechsel des Schrifttyps u.a.m. Die stetige Unfertigkeit dichterischer Werke, von der schon Francis Ponge weitläufig gesprochen hat, scheint sich neuerdings in vielen Bereichen der Textproduktion als Normalität durchzusetzen; sie ergibt sich – soll man sagen: naturgemäss – aus den 
neuen funktionalen Möglichkeiten elektronischen Schreibens, war aber in den avancierten literarischen Schreibverfahren des 20. Jahrhunderts bereits vorgebildet, auch wenn diese damals noch im Kopf konzipiert und von Hand praktiziert wurden. – Heute benennt man diese Verfahren mit Begriffen wie «Cut & Paste», «Hyper-Scriptions», «Hypertext», «Hyperfiction», «Cyberfiction», «Concreativity», «schwebendes Schreiben» u.ä.m., doch all das geht über die längst erprobten Techniken von Schnitt und Montage, von Serialität und Permutation, wie die klassische Moderne sie entwickelt hat, nur unwesentlich hinaus.

VI

Die Übernahme manch einer auktorialen Funktion durch den Computer (dem immerhin noch zugestanden wird, ein «persönlicher Rechner» zu sein) hat unter praktizierenden Schriftstellern auch nicht ansatzweise zu einem kollektiven «Verschwinden» geführt. Der «Tod» des Autors ist ein Skandalon geblieben und hat, je mehr die digitale Schreibtechnologie ihn zu bestätigen schien, die antiquierte Vorstellung individuellen Schöpfertums wieder aufkommen lassen. Obwohl heute so gut wie alle Texte elektronisch erarbeitet werden, auch jene, die nachfolgend im Druck erscheinen, halten die meisten Literaturschaffenden an ihrer Subjektstellung fest und glauben weiterhin, sie beherrschten nicht nur ihr Textverarbei­tungssystem, sondern auch die Sprache, in der sie – vorzugsweise in der ersten Person der Einzahl – erzählen und dichten.
Unter der apparativen Einwirkung des Personalcomputers wandelte sich Literatur zu einem rhizomatischen «System ohne General», das heisst ohne die Zentralinstanz persönlicher Autorität und Autorschaft. Der PC hätte die Schriftstellerei endlich auf ihre Grundlagen – genauer: auf die kritische Erkenntnis ihrer Grundlagen – zurückführen können, auf das Alphabet als den elementaren sprachlichen Zeichensatz, aus dem sich durch immer wieder neue Kombination und Serialisierung beliebig viele 
Wörter, Sätze, Texte generieren lassen und der auch alle virtuel­len Texte, Sätze, Wörter in sämtlichen alphabetischen Sprachen als Möglichkeitsform bereithält; eine Erkenntnis, die allerdings nur für Maschinenpoesie beziehungsweise deren Programmierung grundlegend und hinreichend ist, nicht aber, versteht sich, für die Wortkunst generell. Diese sollte zwar stets das Bewusstsein dafür wachhalten, dass sie niemals Neuschöpfung sein kann, dass sie in jedem Fall mit vorgegebnen Elementen zu operieren hat, nämlich mit dem lexikographisch erfassten (erfassbaren) Sprachmaterial und der jeweils aktuell gesprochnen Rede einerseits, mit literarischen, durch vorgängige Lektüre erschlossnen Texten anderseits. «Natürlich schreibt auch der Leser im Schreiber», schreibt Theo Kneubühler in seinem Buchwerk Atem frei für Etwas von 2008, «doch der Schreibende weiss es stets ein bisschen anders. Schliesslich entsteht das Geschriebene nach neunundneunzigmaligem Lesen und hundertmaligem Schreiben – der einmalige Unterschied des Sinns.» Dass dieser Vorgang als ganz «natürlich» gelten soll, ist hier natürlich mehr als eine unverbindliche Redensart.
Die auktoriale Schreibgeste besteht darin (und beschränkt sich darauf ), diese unabsehbar reichhaltigen, jederzeit vorhandnen sprachlichen und literarischen Vorgaben «in den Griff» zu bekommen, eine bestimmte Auswahl zu treffen, Wertungen und Prioritäten zu setzen, vor allem aber immer wieder neue Verbindungen zwischen den benutzten Versatzstücken zu schaffen, so dass daraus auch immer wieder neue klangliche, rhythmische, semantische Konstellationen entstehn können. Der Autor ist mithin keineswegs, wie seine gängige Funktionsbestimmung es will, als «Schöpfer von Neuem» gefragt, vielmehr als jemand, der allgemein zugängliches Material neu arrangiert, der also die Entstehung von Neuem durch kombinatorische Mehrung des bereits Vorhandnen lediglich ermöglichen, nicht jedoch eigenmächtig durchsetzen kann – was im Übrigen zurückverweist auf die ursprüngliche Bezeichnung des Autors (auctor) als eines «Mehrers» 
und «Förderers» (von lateinisch augere). «Originell» wird ein Autor von all jenen genannt, welche – so hat es einst Paul Valéry resignativ notiert – «von der heimlichen Verwandlung andrer [Autoren] in ihm nichts wissen», weil sie (und sie sind das grosse Publikum) die Abhängigkeit dessen, was ein Autor macht, von dem, was andre Autoren vor ihm gemacht haben, nicht durchschauen, nicht ermessen können.
Im digitalen Schreiben konkretisiert sich diese althergebrachte Funktionsbestimmung von Autorschaft mit frappierender Deutlichkeit. Wer auf dem PC schreibt, aktualisiert einen vorgegebnen unsichtbaren Urtext, indem er ihn überschreibt; einen programmierten Text, der auf Abruf via Tastatur jedes mögliche Gedicht, jede Erzählung, auch jeden Essay, jede Abhandlung, jede Übersetzung freigibt, Sekundärtexte allesamt, die während ihrer Entstehung vom Rechner selbst – freilich auf «Befehl» des Autors – formatiert, kontrolliert, korrigiert oder auch gelöscht werden können, die praktisch zeitgleich mit dem entsprechenden Tastendruck immateriell auf dem Monitor erscheinen und im Bedarfsfall durch den mit dem PC verschalteten Drucker problemlos zu materialisieren sind. Der Autor ist hier nicht nur – wie bei der Hand- und Maschinenschrift – der erste Leser des von ihm je Geschriebnen, er ist auch einer von beliebig vielen Nutzern, die sich des Schreibprogramms bedienen, das seinerseits als virtueller Vor- oder Urtext immer schon «eingeschrieben» ist und folglich die Basis zu jeglichem daraus entfalteten Schrifttext bildet.
Die spezifische Interaktion zwischen Autor und Rechner relativiert demzufolge die Funktion Schreiben und die Funktion Lesen sehr weitgehend, und sie kompliziert sich überdies dadurch, dass der Rechner ja nicht nur vorschreibt, sondern auch nachliest und allenfalls berichtigt, was der Autor als Text eingibt, so wie der Autor den vom Rechner teils befehlsgemäss, teils automatisch produzierten (projizierten) Text beim Nachlesen überarbeitet, worauf wiederum der Rechner zum Leser und Befehlsempfänger, aber auch zum Rewriter wird. Fast könnte man daraus jene 
«Glückseligkeit» zurückgewinnen, die es schon lange vor der digitalen (mein Ausdruck:) «Lektautorschaft» gab und die Jorge Luis Borges in seinem späten Vortrag über Das Buch an der «dichterischen Schöpfung» festgemacht hat. Schreiben wäre demnach «eine Mischung aus Vergessen und Erinnern dessen, was wir je gelesen haben.» Damit korrespondiert, wiewohl auf andrer Ebene, die Tatsache, dass Autoren auf Dichterbildnissen – gemalt oder photographiert – schon immer und auch heute noch in erster Linie als Leser dargestellt werden, sei’s über ein Buch gebeugt, sei’s mit einer Bücherwand als Hintergrund; dass der Autor beim Schreiben dargestellt wird, bleibt – abgesehn vom altbekannten Motiv des «Hl. Hieronymus im Gehäus» – die Ausnahme.
Schriftsteller, die mit dem PC aufgewachsen und als digitale Schreiber zu Autoren geworden sind, bilden heute unter den Literaturschaffenden sicherlich die Mehrheit. Dass aber das gewandelte, technisch hochgerüstete Schreibgerät die Textproduktion – nicht als Verfahren, sondern im Ergebnis – nur unwesentlich modifiziert und auch die Poetik kaum berührt hat, ist belegt durch eine Vielzahl aktueller Publikationen, welche insgesamt – meist beglaubigt durch Kritiker und Juroren – die «zeitgenössische Literatur» ausmachen, zumal die deutschsprachige.
Und da stellt man nun erstaunt fest, dass das erzählerische oder lyrische «Ich» seligen Angedenkens nach wie vor fröhliche, bisweilen auch wehleidige Urständ feiert; dass es den Schreibenden mehrheitlich und vorrangig um die Kommunizierung privater Befindlichkeiten oder Erfahrungen geht; dass dafür jedoch (wiederum mehrheitlich) entweder auf kanonisierte Stilformen und Textsorten zurückgegriffen oder ein rezenter, in hohem Mass formelhafter, syntaktisch schwacher Alltagsdiskurs bemüht wird, der in Schriftfassung – da die Intonation entfällt – subjektive Einfärbungen weitgehend vermissen lässt, obwohl unentwegt «ich» gesagt wird und auch «ich» gemeint ist.

VII

Tatsächlich haben manche (die meisten) heutigen Autoren, Autorinnen ihre persönlichen oder besser vielleicht: ihre privaten Investitionen in das Geschäft des Schreibens und in die Erwartungen, die von Publikum und Kritik an Literatur gestellt werden, neuerdings massiv erhöht. Als einen kollektiven, in allen Künsten «grassierenden Selbstausdruck» bringt der Medienphilosoph Hans Ulrich Reck dieses Phänomen in seinem Index Kreativität auf den Punkt. Es handelt sich dabei um eine gross angelegte, äusserst detailreiche Bestandsaufnahme von Kreativitätstheorien und -praktiken der vergangenen drei Jahrzehnte, die unter alphabetisch aufgereihten Stichwörtern abgehandelt, durch Querverweise verlinkt, durch Bilddokumente vergegenwärtigt und durch umfängliche Literaturhinweise ergänzt werden.
Bei der Durchsicht von Recks Index fällt zunächst auf, dass es zu «Autor» oder «Autorschaft» keinen Eintrag gibt; man findet zwar das Stichwort «Autorenangaben», doch beziehn sich diese Angaben ausschliesslich auf den Verfasser des vorliegenden Werks, der hier – in Er-Form – sein Curriculum und sein Schriftenverzeichnis offenlegt. Auch Begriffe wie Originalität oder Priorität, Verfremdung oder Schock, die für die europäische Moderne zwischen Charles Baudelaire und den «Kunstismen» der 1910er, 1920er Jahre bestimmend waren, fehlen bei Reck. Kreativität wird stattdessen über solche Phänomene, Verfahren und Konzepte erschlossen, die dem üblichen Verständnis von «Schöpfertum» strikt zuwiderlaufen: «Echtfalsch», «Epigonenoriginalität», «Imitieren als Kreieren», «Kreativdestruktion», «Lob der Nachahmung», «Rezeptionsproduktivität», «Serendipity», «Verschwendungskunst».
Das Stichwort «Neuschöpfung» (das einzige, das sich mit «kreativer» Autorschaft verbinden liesse) hat bezeichnenderweise keinen Bezug zu zeitgenössischen Kunst- oder Schreibpraktiken, bietet vielmehr einen Rückblick auf die wissenschaftshistorische 
Debatte um den sogenannten Paradigmawechsel als Fortschritts- und Innovationsmotor sowie auf die bis in die Antike zurückreichende Geschichte des Rang- und Prioritätsstreits unter den Künsten. Kreativität, so muss man daraus wohl schliessen, ist auf die Funktion Autor nicht mehr angewiesen und hat sich von Kriterien wie Originalität, Einzigartigkeit oder Neuheit emanzipiert.
Heutiges «kreatives Schreiben» rekurriert vielfach auf die Lehrangebote von Literaturinstituten und einschlägigen Workshops, deren Dozentenschaft insofern Autorität repräsentiert, als sie sich in aller Regel aus «bekannten», aus «erfolgreichen» Schriftstellern, Schrift­stellerinnen zusammensetzt, die das «Geschäft» kennen und das «Metier» beherrschen, die also vermitteln können, wie und was man zu schreiben hat, aber auch, wie man «aufgestellt» sein muss, um sich im «Betrieb» durchsetzen und halten zu können. «Es geht», nach Hans Ulrich Recks Beobachtung, «um Animation, Initiation und Begleitung, Förderung von Schreibvorgängen und der Imaginationskraft generell. […] Der Kreativitätsbegriff bezieht sich in diesem Kontext auf einen Neuigkeitswert bezüglich der angewandten Schreibverfahren, benutzten literarischen Formen und der dabei erarbeiteten Probleme, Gedanken und Erfahrungen der Schreibenden, nicht jedoch auf eine unbedingte ästhetische Innovation bezüglich der literarischen Kontexte oder gar eines etablierten avantgardistischen Publikums (und seines komplexen, ausdifferenzierten Erwartungshorizontes). Also geht es um persönliche Initiierung, nicht um revolutionäre Praxis im literarischen Feld.»
Autorschaft, verstanden als persönliche Profilbildung und optimale Anwendung von standardisierten Vorgaben, kann demnach erworben, in der Folge auch genutzt werden als Grundkapital für eine literarische Ego-Firma, die sich dann bloss noch vernetzen muss mit Agenten, Lektoren, Juroren, Verlegern, Rezensenten, Festivalkuratoren u.a.m. «Kreativität ist nicht Ressource und nicht ‹Innen›», hält Reck unterm Stichwort «Paradoxon» fest: «Sie wirkt immer in Konstellationen, ist also relational. Ähn
lich den Bezugssystemen der Intentionalität knüpft sie an bereits interpretierte Problemlagen an und ist nicht eine ‹von irgendwo›, aus dem Dunkel und Geheimnisvollen emanierende Kraft, die in diese einbricht.» Damit ist auch klargestellt, dass die gegenwärtig in Gang befindliche «Wiederkehr des Autors» in Wahrheit als dessen definitive Verabschiedung zu gelten hat.
Denn was da «wiederkehrt» und sich machtvoll in Ich-Form etabliert, ist keineswegs der Autor als Autoritätsträger und Innovator, sondern der Autor als Funktionär, der stets für «ein Anderes» steht, der Vorgegebnes und Vorgeschriebnes nachschreibt, der mit fremden (erlernten, entlehnten, übersetzten, modifizierten … ) Worten in «eigner» Sache spricht. Somit erweist sich auch das heute gängige Verständnis beziehungsweise Selbstverständnis von Autorschaft lediglich als eine Variante dessen, was «Schöpfertum» schon immer gewesen ist, auch wenn man es immer wieder anders – und durchaus gegensätzlich – hat verstehen und praktizieren wollen.

VIII

Ob der Autor als Demiurg, Theurg, Prophet, Genie oder Meinungs­führer auftritt, ob er sich als Skribent, Kopist, Handwerker, Techni­ker oder Spieler geriert – er bleibt in jedem Fall auf Vorgaben und Vorschriften und Vorbilder angewiesen, sei’s auch nur in der vergeb­lichen Absicht, sich davon abzugrenzen, sich darüber hinwegzuset­zen. Dies noch einmal zu unterstreichen, mag müssig sein, hat doch bereits vor etlichen hundert Jahren Francesco Petrarca in seiner Schrift Vom freiwilligen Handanlegen (1353) die schlichte Tatsache durch eine architektonische Metapher auf den Punkt gebracht, dass nämlich in dem «Haus, wovon du doch das Holz und die Steine nicht gemacht hast, schliesslich ausser der Baumeisterei nichts dein Werk ist». Die doppelte Negation steht hier für das Ungemach, eine Selbstverständlichkeit wie diese überhaupt festhalten zu müssen, doch zur Selbstverständlichkeit ist dieses poetologische Axiom bis heute nicht geworden. Denn tatsächlich ist es so, dass jede Relativierung auktorialen «Schöpfertums» noch immer weithin – unter Autoren ebenso wie unter Lesern – als eine Generalattacke auf das Ich als Festung menschlicher Subjektivität missdeutet wird. Gern ziehe ich an dieser Stelle, um weitere Wiederholungen zu vermeiden, ein knappes Diktum von Niklas Luhmann als Argumentationshilfe heran. In einem erst kürzlich aus dem Nachlass publizierten Skript über Literatur als fiktionale Realität führt Luhmann den genannten, eigentlich doch trivialen Sachverhalt darauf zurück, dass «am Kunstsystem ebenso wie am einzelnen Kunstwerk die konstitutive Bedeutung von Zeit» insofern durchschlägt, als bei jeder künstlerischen (somit auch bei jeder literarischen) Operation eine Zäsur gesetzt wird, welche das in der Vergangenheit Entstandene und das in der Zukunft Herzustellende zugleich auseinanderhält und verbindet: «Was schon vorliegt, wird als Beschrän­kung akzeptiert oder verworfen, was noch zu tun ist, als Gelegenheit ergriffen.» Präziser und klarer lässt sich die umstrittene, letztlich aber unbestreitbare These wohl nicht auf den Punkt bringen.
Bemerkenswert ist im Übrigen, dass die chinesische Schriftkultur – Hans Ulrich Reck macht darauf in einem kritisch vergleichenden Exkurs zur Praxis und Technik des Schreibens aufmerksam – die Funktion Autor schon immer (und ausschliesslich) auf die Geste des Arrangierens beschränkt hat, die vorgegebne ideographische Module durch Kombination und Permutation äusserst präzise mit Sinn auflädt, obwohl hier, im Unterschied zu den alphabetischen Sprachen, kein vorab bedeutungstragendes Vokabular verfügbar ist. Die ideographische Schreibbewegung oder Textherstellung gleicht dem Zusammentragen eines Puzzles, welches so beschaffen ist, dass sich aus dem disparaten Baumaterial immer wieder andre Bilder (Ansichten, Anschauungen) gewinnen lassen. Alle denkbaren Kombinationen sind demnach möglich, gleichberechtigt und gleichwohl – kraft der zeichnerischen Schreibbewegung – individuell ausgeprägt.
Originalität und Innovation bleiben in China, selbst (und gerade) im Bereich der Dichtung, auf die Handhabung eines grossen Sets von Modulen und auf die Ausdifferenzierung einer persönlichen Schönschrift beschränkt. «Es wundert nicht», meint dazu Reck, «dass die chinesische Zivilisation, verstanden als eine psychomentale wie zugleich apparativ-semiotische Technologie, Kreativität mit dem Gedanken der Modularisierung verbindet, und eben deshalb die wertgeschätzte schöpferische Leistung der Künste im engeren Sinne (Kalligraphie, Landschaftsmalerei, Zeichnung, Poesie usf.) nicht privilegiert dem Diskurs der Kreativität unterzieht.» Das chinesische Verfahren der Modularisierung liesse sich – im Hinblick auf das westliche Konzept von Autorschaft – durchaus mit einer Art von «Schöpfertum» vergleichen, die als ein Ausschöpfen sprachlicher und literarischer Vorgaben praktiziert würde, und eben nicht als individuelle «Schöpfung» eines dazu berufenen oder sich selbst dazu aufwerfenden Autors.
Inwieweit ein solcher Vergleich zwischen ideographischer und alphabetischer Schriftkultur für die Literatur valabel sein kann, muss hier dahingestellt bleiben. Ich vermute aber doch, dass durch das Zusammendenken, das Zusammenlegen westlicher und fernöstlicher Konzeptionen von Autorschaft der gemeinsame Nenner für ein revidiertes, global gültiges Verständnis von literarischem «Schöpfertum» zu finden wäre. Die Position des individuellen Au­tors würde dadurch noch einmal erheblich geschwächt zu Gunsten einer Poetik der Nachbereitung, welche die künstlerische Literatur auf immer schon vorhandene – sprachliche, stilistische, metaphori­sche und sonstige – Bauformen zurückführt, die durch immer wieder neue Kombinationen, Varianten, Abstriche und Ergänzungen in immer wieder neuem Arrangement ins Werk gesetzt werden.
Dem entspricht doch auch das, was Rainer Maria Rilke seinen Malte Laurids Brigge oder Paul Valéry seinen Monsieur Teste schon im frühen 20. Jahrhundert bedenken lässt, dass nämlich die Zeit des originären Schreibens vorbei sei und nun abgelöst werde durch ein ferngesteuertes Geschriebenwerden, das seinen 
Impuls aus der Sprache selbst und … oder aus dem Geist (esprit) andrer, älterer Texte gewinnt. – Bei Rilke findet sich dafür das einprägsame, dennoch fast schon vergessne Bild einer weitab von der Person des Autors operierenden Schreibhand. «Da liegt es vor mir in meiner eigenen Schrift, was ich gebetet habe, Abend für Abend», notiert Brigge: «Ich habe es mir aus den Büchern, in denen ich es fand, abgeschrieben, damit es mir ganz nahe wäre und aus meiner Hand entsprungen wie Eigenes.»
Hans-Jost Frey, der dieses Notat ebenso subtil wie dezidiert ausgedeutet hat, schreibt dazu in seinem fundamentalen Werk über Lesen und Schreiben: «Gleichzeitig ist aber das, was der Abschreiber schreibt, ‹als wäre es meiner Hand entsprungen wie Eigenes›, ein Fremdes, das ihn ebenso in Besitz nimmt, wie er es sich aneignet. Dem abschreibend Schreibenden wird sein zu Schreibendes diktiert. Er wird von einem andern geschrieben. Abschreiben als eine Tätigkeit, in der sich das ängstliche Bekenntnis zum Bekannten mit der Auslieferung an das Fremde verbindet, ist sowohl Aufschreiben als auch Geschriebenwerden …» – Was hier in strengem Duktus ausgeführt wird, bestätigt der rumänische Erfolgsautor Mircea Cărtărescu (der von der Kritik nicht etwa als Sprachtüftler, vielmehr als Vollbluterzähler gefeiert wird); in einem Interview hat er unlängst dargelegt, dass und wie er sich beim Schreiben von unwillkürlich über ihn hereinbrechenden «Stimmen und Bildern» leiten lasse: «Sie können es nennen, wie Sie wollen – Gott, Inspiration, Chemie des Gehirns, Unterbewusstsein. Es kommt von ausserhalb des Ich. Kunst und Poesie sammeln sich an wie in einem Schwamm. Irgendwann braucht man nur noch zu drücken, und es fliesst. Ich habe dafür keine Erklärung. Es ist eine grosse Kraft, und ich bin in der Mitte davon. Es ist grösser als ich, es schreibt in mir. Und je grösser das ist, was einen bewegt, desto grösser ist das Werk. Als Künstler kann man nur dankbar sein.»
Obwohl der Autor hier wiederum eine zentrale Stellung einnimmt, fungiert er keineswegs als «Schöpfer» seines Werks, son
dern als ein Medium, das die Entstehung des Werks ermöglicht; das aus der Vernetzung von fremden Stimmen und Bildern einen ganz und gar «eigenen» künstlerischen Kosmos entstehen lässt. Und eben das ist’s, was literarisches Schreiben seit jeher ausgemacht hat und auch weiterhin – über den angeblichen Tod des Autors und über das digitale Zeitalter hinaus – bestimmen wird.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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