Dichtermund

Mehr und mehr werden Texte avancierter Poesie, die wegen ihres ausdrücklichen Interesses an Sprache und Form gemeinhin als schwierig gilt, in der Aufmachung von Hörbüchern zugänglich gemacht. Dem Leser eröffnet sich dadurch die Möglichkeit, Dichtungen, die ohnehin primär als Klangereignisse angelegt sind, in der Diktion und Intonation ihrer Autoren kennen zu lernen. Ich nenne beispielshalber die zahlreichen Studio- und Liveaufnahmen von Oskar Pastior, aber auch, weiter zurückgreifend, die Lesungen von Ghérasim Luca oder Kurt Schwitters, ganz zu schweigen von den wenigen Tondokumenten aus der Zeit des Expressionismus oder Futurismus, die erhalten geblieben und heute wieder greifbar sind.
Was all diese lautpoetischen Dokumente trotz mancherlei strukturellen Unterschieden verbindet, ist deren primäre Orientierung auf die Sprach- beziehungsweise Klanggestalt des dichterischen Texts bei gleichzeitiger, oft programmatischer Vernachlässigung, wenn nicht Suspendierung sowohl einer kohärenten Aussage wie auch eines erkennbaren Rückbezugs auf die Person des Autors. Von daher wird der Zugang zu solch alogischer Dichtung sicherlich erleichtert, wenn in der Tonaufzeichnung der Autor kraft seiner unverwechselbaren Stimme und der persönlichen Art des Vortrags gleichsam durch die Hintertür wieder ins Rezeptionsfeld eintritt.
Die Erleichterung besteht darin, dass nun eben jenes Menschliche, Persönliche, das ansonsten hinterm Text – oder in ihm – verborgen geblieben wäre, wieder greifbar wird; dass nun also doch jemand da ist, der als Autorität das Sagen hat, der über das Sagen wie das Gesagte verfügt, es interpretativ vorträgt und es dabei durch entsprechende prosodische Gestaltung, mithin durch Rhythmus, Tempo, Betonung usf. strukturiert.
So gut ich das nachvollziehn und auch würdigen kann, es scheint mir dennoch – mit Blick auf die Texte als solche – verfehlt zu sein; verfehlt, einen realen human touch einzubringen, wo die zugrund liegende, vom Autor ja eigens gewählte Poetik solch ausserliterarische Annäherung klar abweist, und dies, wohlverstanden, zum Vorteil und Gewinn des Lesers, der für das Persönliche, Menschliche nun selbst zuständig sein sollte; dem die Autorität zuerkannt (aber auch überantwortet) wird, das zu leisten, was er sonst allzu gern dem Autor überlässt – Sinnbildung.
Wenn ich aber Schwitters wie einen krakeelenden Korporal rezitieren höre, wenn Luca mit bedrängendem Pathos seine wortspielerischen Kompositionen vorträgt oder Pastior mit gewinnender, stets auf Einverständnis abzielender Freundlichkeit einen Vers an den andern reiht, fühle ich mich, ob ich’s will oder nicht, in jedem Fall auf eine bestimmte Lesart verwiesen, die nicht die meine ist und die mich aber auch daran hindert, eine eigne Lesart 
aus dem jeweiligen Text zu erschliessen und durchzusetzen.
Weder die Ursonate noch der Tinnitus oder vergleichbare Dichtungen sollten nach meinem Dafürhalten mehr sein wollen als das, was mir Schwarz auf Weiss als Text vor Augen steht. Die Tonspur dazu ist entbehrlich; sie ist zu viel des Guten und gerade deshalb, entschieden, von Übel.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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