Gezählt

Joseph Brodsky hat mir einst vom Auftritt einer polnischen Autorin in seinem Seminar an der Michigan University berichtet. Er hatte die Frau – den Namen weiss ich nicht mehr – zu einer Lesung eingeladen. Kaum jemand im Publikum, das vorwiegend aus Studierenden der Russistik bestand, hatte irgendwelche Polnischkenntnisse, aber alle hörten der Autorin, wie Brodsky betonte, gespannt zu, einige waren zu Tränen gerührt.
Die Diskussion nach der Lesung wurde in russischer Sprache geführt, und jemand wollte, naturgemäss, wissen, was denn gerade eben vorgelesen worden sei.
«Ich habe», antwortete darauf die Dame, «von 1 bis 100 gezählt.»
Diese Aufzählung, berichtete Brodsky, sei wegen ihres hoch emotionalen Vortrags wie ein Gedicht rezipiert worden und habe auf klanglicher Ebene auch als solches funktioniert.
Man kann vermuten, dass zur poetischen Wirkung (oder Qualität) der Zahlenreihe unter anderm die partiellen Wiederholungen und die assonantische Ähnlichkeit mancher Zahlwörter beigetragen haben; und schliessen lässt sich daraus, dass ein Text keine Aussage haben beziehungsweise nicht verstanden werden muss, um als «poetisch» empfunden zu werden.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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