Lichtplastik

Kürzlich konnte ich – in einem halbkugelförmigen Zeltbau vor dem Landesmuseum – zum erstenmal eine holographische Projektion sehen, eine Lichtplastik, die sich in dem Maß und in dem Sinn erschließt, wie ich mich zu ihr verhalte, mich in ihr bewege. Als Vorlage dient – zum Beispiel – ein Presse- oder Fernsehbild von der Ermordung John F. Kennedys in Dallas, vom Karneval in Rio, von einer Friedensdemonstration in Berlin. Werden solche zweidimensionale Bilder nun durch eine Laserkamera wirklichkeitsgroß in einen dreidimensionalen Raum übertragen, so kann ich in die jeweilige Szene eintreten, kann sie begehen und auch verändern, indem ich sie durch meinen Blick dynamisiere. Wo ich hinsehe, da befinde ich mich; und erst wenn und weil ich hinsehe, existiere ich als Teil der Szene; und mehr als das – statt bloß Betrachter zu sein, werde ich zum Augenzeugen, denn historische Szenen (also jegliches Abbild von Wirklichkeit) erfahre ich im Hologramm als Aktualität, ich bin – jetzt – dabei.

Abgesehen davon, daß durch die holographische Projektion erstmals in der Geschichte der Kunst und der Reproduktionstechniken ein Bild ohne Bildträger, somit reine Phänomenalität möglich wird (was nicht ohne tiefgreifende Einwirkungen auf alle Bereiche der Simulation – etwa im Unterricht, in Werbung und Propaganda, in der Kriegstechnik – bleiben kann), hat sich mir hier erstmals ein philosophisches Konzept plastisch veranschaulicht und ist sinnlich erfahrbar geworden: die cartesianische Meditation als Kinoplausch!

 

aus: Felix Philipp Ingold: Haupts Werk Das Leben
Ein Koordinatenbuch vom vorläufig letzten bis zum ersten Kapitel.

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