Unter den mehr als zwanzig Büchern, die der russische Schriftsteller Andrej Belyj in den Jahren 1921 bis 1923 als zeitweiliger Emigrant in Berlin hat erscheinen lassen, ist sein «Poem über den Laut» von 1922 gewiss das ungewöhnlichste. Der Werktitel Glossolalie – im originalen Wortlaut richtigerweise «falsch» orthographiert als «Glossalolie»! – verweist auf das in manchen Kulturen rekurrente Phänomen der Zungenrede, eines zwischen Pathos und Pathologie sich auslebenden, zumeist religiös motivierten Sprechfurors, für den Lyriker wie Linguisten immer wieder ihr Interesse bekundet haben, da er angeblich das rein Ästhetische, will heissen das sinnlich Wahrnehmbare an der Sprache zur Geltung bringe und damit auch deren naturhafte poetische Energie.
Belyj selbst scheint von der selbstdynamisch und eigengesetzlich sich entfaltenden Zungenrede wie auch von ihren autopoetischen Hervorbringungen so sehr fasziniert gewesen zu sein, dass er sich – nach ausgedehnten diesbezüglichen Lektüren und zutiefst geprägt durch die Lehren Rudolf Steiners – dazu entschloss, die Glossolalie nicht bloss sekundärliterarisch abzuhandeln, sondern sie gleich auch als dichterisches Verfahren zu praktizieren. Aus diesem Vorhaben ist in der Folge das «Poem über den Laut» entstanden, ein rhapsodischer, bisweilen stammelnd vorandrängender Text, in dem kühne Metaphorik und kühle Begrifflichkeit sich zu einem schwer bekömmlichen Gemenge von Glaubenssätzen, pseudowissenschaftlichen Formeln und poetischen Assoziationen zusammenbrauen. Im Vorwort zu seiner Glossolalie charakterisiert Belyj den Text, vage genug, als «eine Improvisation über einige Themen des Lautes», aber doch auch als «Modell für den Ausdruck der uns verloren gegangenen Mimik der Laute»: «Dass diese Mimik in uns aufblitzen und vom Bewusstsein beleuchtet werden wird, daran glaube ich fest. Und hinauf, dieser Zukunft entgegen, trage ich meine subjektiven Bilder, nicht als Theorie, sondern als Poem: ein Poem über den Laut.»
Belyjs essayistisches Poem, das zugleich ein poetischer Essay ist, liegt in einer sorgfältig erarbeiteten dreisprachigen Edition – deutsch/englisch/russisch – vor und eröffnet mithin auch für einen breitern Leserkreis den Zugang zu einem exzentrischen, dabei aber durchaus repräsentativen Sprachwerk des späten Symbolismus, der im nachrevolutionären Russland (wohl als Reaktion auf den dekretierten Utilitarismus und die ideologische Bevormundung der «proletarischen Kultur») stark esoterische Züge annahm, um sich jeglichem politischen Engagement zu entziehen.
Glossolalie, von Andrej Belyj als die gelungenste seiner Dichtungen bezeichnet, setzt sich zusammen aus 74 kurzen Teilstücken, die man gleichermassen als Prosagedichte wie als Mikroessays lesen kann und deren fahrige, wenn nicht fahrlässige Ausformulierung das hemmungslos ausufernde, immer wieder ins Abstruse sich versteigende Denken des Autors durchaus adäquat zum Ausdruck bringt. Das «Poem über den Laut» ist ein genialisches Kompilat, in dem angelesenes Wissen und beiläufige Assoziationen, dichterische Einbildungskraft und missionarischer Eifer, philologische Akribie und philosophische Spekulation sich zu einer wahrhaft glossolalischen Wortflut vereinigen, die Relikte – Laute, Silben, Wörter, Wortverbindungen – aus gut einem Dutzend lebender und toter Spachen wie selbstverständlich mit sich führt.
Der Leser ist mit einer symphonischen Dichtung konfrontiert, die nicht primär verstanden, sondern wahrgenommen werden will im Hinhören auf ein ur- oder universalsprachliches Raunen, das weit mehr von der Klanglichkeit der Wörter als von deren Begrifflichkeit bestimmt ist und getragen wird. Was in der Übersetzung (unter Verlust des russischen Wortlauts und damit auch mancher Klangqualitäten wie Alliteration, Assonanz oder Homophonie) etwa so klingt: «Begriffe – gibt es nicht; statt des Gedankens ist Sprudeln und Pulsieren: das ist – uolia; das ist – wolja (im tierischen Keim); er lebt in Augenblicken als – Neigung: sich wandeln, sich schaukeln und in Strömen fliessen zu können; und nomina (Bilder des Stromes, Namen) durch volo (ich will), durch nolo und durch malo – werden schon zu – animalia … Und ‹lin-len-lon› des Ergiessens wird uns in den Tätigkeiten des Engellebens zum: – ‹min-men-man!› – (das in die Feuchtigkeit herabgestiegene ‹v› ist das ‹m›) – min-owenie, men-enie, man-owenie: mine, meinen und Mann.»
Bei seiner Erstpublikation in Berlin löste Belyjs Glossolalie-Poem nur wenige, zumeist kritische Echos aus. Die einzige positive Stimme wies das Buch in einer anonymen Kurzbesprechung immerhin als «wesentliches Ereignis» aus und hielt dem Autor in schwärmerischer Diktion zugute, dass er «die Tür unserer Welt zu einer neuen, von Unklarheit und Chaos erfüllten Welt, zu jenem Ort, zu der Ewigkeit» aufstosse. Das Echo ist so schwer fassbar wie Belyjs Originalton. Letztlich lässt sich zu einem Buch wie Glossolalie alles – irgendetwas – sagen, es wird nie falsch, nie richtig, immer nur ein Widerhall sein. «Mich wissenschaftlich zu kritisieren», hatte Belyj im Geleitwort zu seinem Poem vorsorglich angemerkt, «ist vollkommen unsinnig.» Mit der Glossolalie reiht er sich ein in jene hintergründige Phalanx von «Sprachverrückten», zu der, unter vielen andern Autoren, auch Swedenborg und Wölfli, Chlebnikow und Roussel gehören.
aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern
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