Franzobel (Hrsg.): KRITZI KRATZI

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Franzobel (Hrsg.): KRITZI KRATZI

Franzobel/Rudolf-Kritzi Kratzi

Valeri Scherstjanoi - drei fliegende ichs

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Valeri Scherstjanoi

 

 

 

Die hohe Seh

entwachung

wenn das sehen könnte,
wie das beobachten wünschte,
weil das schauen möchte,
dass das starren täte.

reinhard priessnitz

Kritzi Kratzi… österr. Ausdruck für Kinderzeichnungen, Telephongekritzel, u.a., denen im öffentlichen Verständnis wenig Sinn zugeschrieben wird.

Die Idee, eine Anthologie visueller Poesie zusammenzustellen, entstand im September 1992. Die auffälligsten Motivationen dazu, soweit die Reihenfolge, in der sie aus meiner Erinnerung purzeln, stimmt, waren a) eine relative Unzufriedenheit mit den bestehenden Anthologien und Katalogen, worin eine Reihe von Fragen bzw. Zugangsmöglichkeiten vakant bleiben. Zumindest die mir bekannten verzichten auf Einteilungsversuche und beschränken sich, sofern nicht überhaupt darauf verzichtet wird, in ihren Metatexten auf diachrone Legitimierungsversuche („das gibt es bereits seit der Antike“) und Plakative der Konkreten Poesie, die, wie ich behaupte, nicht ohne weiteres auf gegenwärtige Arbeiten der visuellen Poesie angewandt werden dürfen. Dieser (egozentrisch formulierte) Versuch einer Abgrenzung, eines Neubeginns stellt sich als provokanter Publikationstitel in die Selbstironie, wodurch mehrere eingeladene Autoren ihre Bedenken daran äußerten. Skepsis, die im allgemeinen aus dem Weg geräumt werden konnte, – b) und damit in Zusammenhang stehend wird die Auswahl präsentierter Arbeiten (Autoren/Künstlerinnen) kaum begründet; sie beschränkt sich, zumindest in der überspitzten Formulierung, auf jeweils persönliche ästhetische Vorlieben aus einem vorformulierten Kanon. Daß dieser Kanon beliebig erweitert werden könnte, zeigt das gattungstheoretische Problem visueller Poesie: kaum ein bildender Künstler oder ein Literat, der (auch im weiblichen Geschlecht) mit kleineren oder größeren Interpretationsfaltungen nicht in den Kanon der visuellen Poesie aufgenommen werden könnte. Ich fände es kindisch, hier oder anderswo zu versuchen, einen Gegenkanon aufzustellen, solange es lukrativ ist, aus dem bestehenden zu schöpfen. Jedoch legitimiert sich so die Behauptung, die natürlich keineswegs Produkt dieses Minimaldiskurses ist, sondern im Gegenteil, mir bereits vorher eine Konstante war, daß die Gattungszugehörigkeit lediglich von der Selbstdefinition der Autoren/KünstlerInnen abhängt. So gesehen unterscheidet sich die hier vorliegende Auswahl bloß in Nuancen von früheren & späteren: selbstverständlich läßt sich der persönliche Geschmack nicht leugnen; warum auch? Andererseits war die Gewichtung der verschiedenen Sektionen visueller Poesie von Anfang an als ausgewogen geplant, wodurch, wie ich hoffe, eine annähernd neutrale Mischung zustande kam, in der mein persönlicher Geschmack nur noch eine untergeordnete Rolle spielt, zumindest im Konjunktiv. Nimmt man die oben besprochene relative Offenheit der Gattung zum Anlaß, stellt sich die Frage, was denn die Gattung, sofern es noch sinnvoll ist, diesen Begriff zu verwenden, imstande ist zu leisten? Einmal abgesehen von Pointen und vom sogenannten Gefallen, daß die eine oder andere Arbeit anspricht und springt, also salopp pfeift, daß Getriebe einer diffusen Ästhetik ins Rollen kommen, Empfindungen auslösen, etc. – Natürlich kann ein möglicher Erkenntnisgewinn immer nur einzelnen Arbeiten (Zyklen?) zugesprochen werden, selbstverständlich ist dieser mit den Begriffen Rezipient und Rezeptionszeitpunkt und ihren zugehörigen Referenten untrennbar verbunden, dennoch ist mir (sic!) der Rekurs auf die Beurteilungsmöglichkeiten wesentlich. Ich gehe von der Behauptung aus, daß jeder Arbeit visueller Poesie ein hermeneutisches, semiotisches, etc. Theorem überstülpbar ist, wodurch ein gegenseitiges „Sichbeweisen“ und Bejahen möglich wird. Es hängt dann nur mehr von der Zahl der persönlich verfügbaren Theoreme ab, um eine Arbeit als positiv, wenn sich ein entsprechender Platzhalter, eine Analogie findet, oder als negativ, wenn die entsprechenden Stellen bereits besetzt sind, zu klassifizieren. Natürlich ist auch dieser Gedanke aus einem Stapel Theorie angelesen – unbefriedigend bleibt er dennoch: die Sache mündet dahin, daß Qualität nicht mehr aus einzelnen Werken, sondern nur mehr aus der Beharrlichkeit, mit der ein Künstler/Autor sein Werk vertritt, ablesbar ist. So und ähnlich erkläre ich mir Schubladisierungen und Pauschalurteile in der Art von „na ja, das hat doch der oder die dort und dann bereits gemacht“ – man, ich nehme mich von dieser Praxis keineswegs aus, stellt sich so in ein überlegenes Niveau, in ein Ichweißmehralsdu, ohne zu berücksichtigen, daß der Künstler das vielleicht auch weiß, bewußt mit Epigonentum arbeitet. – So oder ähnlich ist die gesamte Kunstproduktion fein aus dem Schneider. In der Literatur, glaube ich jedenfalls, ist diese Angelegenheit etwas diffiziler, aber vielleicht ist auch das ein Trugschluß? Der augenscheinlichste Unterschied zwischen beiden besteht in der Dauer ihrer Erfassung: während man für die ungefähre Klassifikation eines Bildes bloß einen Augenblick benötigt, beansprucht das Erahnen einer literarischen Schublade das Lesen mehrerer Zeilen, Seiten. Visuelle Poesie steht (zumindest landläufig) dazwischen, markiert das Grenzgebiet. Wenn auch gesagt werden muß, daß, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, visuelle Poesie eindeutig der Literatur zuzurechnen ist: sie wird von Literaten und Literaturwissenschaftlern rezipiert und rezensiert, ihre Autoren erhalten von Literaturfonds ihre Förderungen, Stipendien oder Druckkostenzuschüsse (wie auch für diese Anthologie), auch die Arbeiten selbst operieren mit Parametern der Literatur, weshalb ich auch nichtzustimmen möchte, wenn eine Aufhebung der Gattungsgrenzen proklamiert wird. Mindestens seit der Antike gibt es (auch außerhalb des europäischen Raums) Textbilder: vor allem Emblemgedichte, die das sprachlich Bezeichnete auch im Textumriß darstellen, Gittergedichte, Kalligramme, Rebusse, etc. – die empfehlenswerteste diachrone Darstellung stammt von Jeremy Adler und Ulrich Ernst: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. Weinheim: VCH 1987. (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek; Nr. 56). In der klassischen Moderne wurde diese Tradition wieder aufgegriffen, um neue Perspektiven zu erfahren: Stéphane Mallarmé generierte mit seinem „Un Coup de Dés“ die damals neue Form der Konstellation, Guillaume Apollinaire entwickelte neue Spielarten des Technopägnions (Emblemgedicht) und löste sich (ebenso wie die Futuristen) von den klassischen Gedichtformen, durch typographische Versuche etwa eines Raoul Hausmann oder Kurt Schwitters wurden phonetische Strukturen verbildlicht – hier ließe sich die Reihe der Namen und Leistungen in die Beliebigkeit verlängern: Laurence Sterne, Arno Holz, Lewis Caroll, Christian Morgenstern als sogenannte Vorläufer bzw. Hugo Ball, Filippo Tommaso Marinetti, Tristan Tzara, usw. usf. werden als bekannt vorausgesetzt. Mit Kenneth Patchen (Schläfer erwacht. Aus dem Amerikanischen von Marc Adrian. Weinheim: März 1983 [New York: Padell Book 1946]) möchte ich noch einen relativ unbekannten Namen nennen, der bereits eine Ladung Verfahren der Konkreten Poesie vorwegnahm: Einwortgedichte, Konstellationen, Ideogramme, etc. – Die Konkrete Poesie entstand ab Mitte der 50er Jahre in Europa (Heinz Gappmayr, Eugen Gomringer, Helmut Heissenbüttel, Ernst Jandl, Franz Mon, Wiener Gruppe, u.a.) und Südamerika (Gruppe Noigandres, u.a.), deren wesentlichste Plakative sind, daß das Gedicht selbst Gegenstand und nicht Aussage über einen Gegenstand ist (E. Jandl) – also Präsentation statt Repräsentation, Internationalität, Auflösung der traditionellen Syntax, Fläche als konstitutives Element (Flächensyntax), u.a. – Christina Weiss (Sen-Texte. Zur Erweiterung des Textbegriffes in konkreten und nach-konkreten Texten. Zirndorf: Verlag für moderne Kunst 1984 – auch: phil. diss.) stellt fest, daß visuelle Poesie und konkrete Poesie nicht (wie allgemein üblich) synonymisch zu nehmen sind, ob, wie Weiss dies versucht, eine geschiedene Gattung unterstellt werden darf, sei dahingestellt. Sympathischer erscheint die Annahme, daß visuelle Poesie eine häufig verwendete Ausrichtung konkreter Poesie darstellt. Es erscheint hier wenig zielführend, diese Problematik, was als visuelle Poesie zu sehen ist und was nicht, breitzutreten, letztlich entscheidet doch erst wieder das Kriterium der jeweiligen Selbstdefinition. Spannender ist mir die Frage nach einer möglichen Einteilung, die als Motivation c) den meisten vorliegenden Zusammenstellungen fehlt. Der (mir) schlüssigste Einteilungsversuch stammt von Siegfried J. Schmidt (konkrete dichtung. texte und theorien. München: Bayrischer Schulbuchverlag 1972), welcher in A graphisch orientierte visuelle Poesie (z.B. Collagen von F. Mon), B begrifflich orientierte visuelle Poesie (z.B. Emblemgedichte Claus Bremers, H. Gappmayr), C semiotisch-ikonische Poesie (z.B. Décio Pignatari) und C symbiotisch materiale Poesie (z.B. Ugo Carrega) unterscheidet. Telos d) dieser Anthologie war es, das Spektrum der Gegenwart bezüglich dieser Einteilung zu überprüfen: welche weiteren Unterscheidungen sind notwendig bzw. sinnvoll? S.J. Schmidt geht an anderer Stelle (Theoretische Positionen zur konkreten Poesie. Hg. von Thomas Kopfermann. Tübingen 1974) davon aus, daß visuelle Poesie bloß Vorstufe einer späteren konzeptionellen Dichtung sei, die dann in der Lage sei, „komplexere Texte (als in visueller Poesie) mit einer semantisch bewußt intendierten Integration von optischen und sprachbegrifflichen Konstituenten zu erzeugen“. Als ich im Herbst 1992 mit der Zusammenstellung begann, war es mir Motivation, die Theorie dieser konzeptionellen Poesie zu überprüfen: Inwiefern fanden Weiterentwicklungen statt, läßt sich berechtigt von nach-konkreter bzw. sogar von konzeptioneller (visueller) Poesie sprechen? Als mögliche Strategie für diese Verifizierung bzw. Falsifizierung bietet sich der Vergleich einzelner Arbeiten mit dem obigen Einteilungsraster an, was dann aber die pejorative Invariante beinhaltet, daß dem Begriff der Innovation überhöhte Bedeutung zukommt, was auch als generelles Problem der experimentellen Dichtung einfällt: gerne bildet das Daswarjaschonda eine naheliegende Blockade. Wird eine Verwandtschaft zwischen konzeptioneller Poesie und Konzept-Kunst angenommen, ist zudem impliziert, daß textimmanente Interpretationsmatrixen nicht mehr angelegt werden dürfen – schließlich ist das Werk selbst bloß noch Ausdruck eines Gedankens, Konzeptes –, der Konnotationsfreiraum für den Rezipienten wird somit möglichst offen gehalten. In diese Richtung ist, sofern ich ihn richtig gelesen habe, der Begriff bei S.J. Schmidt angelegt. „Die Tatsache, daß konzeptionelle Texte nicht eindeutig auf bestimmte Bedeutungen oder ,Aussaqen‘ reduziert werden können, macht den Vorgang der Interpretation und damit auch den Interpreten selbst zu einem Thema konzeptioneller Dichtung;“ – da der Begriff aber nach wie vor nicht einheitlich verwendet wird, sehe ich mich berechtigt, weiterhin mit meiner persönlichen Bestimmung zu operieren, die eine Verlagerung in den Produktionsprozeß impliziert und unter konzeptioneller bzw. konzeptueller (ich verwende beide Begriffe synonymisch) Dichtung die Generierung von Methoden versteht, die in der Lage sind, z.B. unübliche Syntaxkonstellationen zu finden, welche den Schwall assoziativer Semantik und Aussage zumindest in die Kulisse drängen. Als exemplarische Namen fallen mir spontan Velimir Chlebnikov, Oulipo, Oskar Pastior, Franz Josef Czernin, u.a. ein. Gibt es, läutet mir Motivation e) persönliche poetische Ansätze in den Lauf, ähnliche Unternehmungen in bzw. mit visueller Poesie? Während mit S.J. Schmidts Verständnis von konzeptioneller Poesie die Zuordnung noch beim einzelnen Werk ablesbar ist, wenn auch der Unterschied zur konkreten Poesie noch sehr vage formuliert ist, läßt sich bei meiner terminologischen Juxtaposition die Verifizierung bloß noch von Zyklen bzw. Werkeinheiten ablesen, woraus sich auch erklärt, weshalb hier jeweils mehrere Blätter eine Serie repräsentieren – den Einladungen stand der Vermerk etikettiert, daß es sich um eine Anthologie konzeptioneller visueller Poesie handle. – Die Verschiedenheit der Beiträge zeigt (zumindest oberflächlich betrachtet), wieweit das Begriffs-Verständnis bereits innerhalb der Autoren auseinandergeht. Hinzu kommt, was ich erwähne, weil ich an mancher Auswahl maßgeblich beteiligt war, daß letzten Endes allerhand Arbeiten, um nicht zu sagen allen, konzeptionelle Ausrichtung, Intention, Methodik unterstellt werden kann, was auch erklärt, warum der Untertitel dann doch auf diese Klassifizierung verzichtet. Es dürfte deutlich geworden sein, trotz aller Simplifizierung, daß dieser Problematik noch kein klarer Horizont in Aussicht steht, was aber nicht daran hindern sollte, die Qualität der vorliegenden Arbeiten zu genießen.
Der nachstehenden Reihenfolge ist noch zu ergänzen, daß neben einer vagen Zuordnung in das obige Einteilungsraster auch darauf geachtet wurde, daß eine assoziative Narration, also formale oder semantische Aufeinanderbezugnahme möglich wird, die Anthologie auch als stringentes Buch lesbar ist.

Bei Franz Josef Webers Zyklus „Ohne Worte I–IV“ handelt es sich um visuelle Umsetzung von Satzzeichen, ohne daß dabei andere Zeichen herangezogen werden müßten, also: Präsentierung einer Präsentation mittels Repräsentation. Die decodierte Zeichenfolge ergibt den Signifikanten, die jeweilige Anzahl der Zeichen ergibt das Wort, das die Zeichen bezeichnet – oder, anders formuliert, das Rollenspiel zwischen Signifikat und Signifikant ist vertauscht. Die Arbeit kann als konzeptionelle Weiterführung von B (begrifflich orientierter visueller Poesie) klassifiziert werden, die ich vorerst mit B2 bezeichnen möchte.
Josef Bauers Arbeiten symbiotisch materialer Poesie sind dem Bild näher als dem Gedicht: alle Bildelemente (Marken) sind konstitutiv – im Gegensatz zum reinen Text, dem manche Marken (Schriftart, genaue Größe, Papierfarbe, etc.) kontingent sind. Ich reihe diese Arbeiten unter D2 – symbiotisch materiale Poesie mit eindeutiger Zuordnung zum Bild – im Gegensatz zu D1, wo dann folgerichtig eine eindeutige Zuordnung zum Text vorliegt. Der Reiz von symbiotischer Poesie besteht für mich vor allem darin, daß verschiedene Zeichensysteme miteinander kombiniert werden können – in Peirce’ Terminologie: sprachliche Marken können als Ikone (natürliche Zeichen) und Quali-Zeichen gelesen werden, während sich bildliche Marken auch als Symbole (Zeichen, deren Bedeutung auf Konvention beruht) und Sin-Zeichen lesen ließen.
Die Arbeiten von Heinz Gappmayr gehören zu B1 – begrifflich orientierter visueller Poesie: mit präziser Sparsamkeit wird ein Referent bezeichnet, der im Platonismus bloß als Idee existiert – z.B. ein Zwischenraum zwischen den Zahlen 0 und 1, ein Punkt, ein Quadrat. Ebenso wie Gappmayr zählt Pavel Rudolf zu den exemplarischen Vertretern der Konkreten Poesie. Auch Rudolfs Arbeiten bieten die graphische Umsetzung eines abstrakten Begriffes an, wobei allerdings die graphische Lösung selbst mehr in den Vordergrund tritt als beim Erstgenannten. Die Klassifizierung bewegt sich zwischen A1 (graphisch orientierte visuelle Poesie) und B1.
Als konzeptionell verwendetes A1b verstehe ich Fritz Lichtenauers Transformationsserie, die mit den Initialen seines Namens und, im Gegensatz zu den beiden vorigen, mit dem relativ neuen Medium Computer operiert: einer semantisch uneindeutigen Form, die als 49 F gelesen werden könnte, wird durch graphische Permutation Bedeutung zugeschrieben: das F geht fort, flöten, ferschwindet: die feste Bedeutungszuschreibung (syntaktische Disjunktheit) wird zugunsten neuer, offener Konnotationsmöglichkeiten zerstört: Faltung, Farbe, Festigkeit, Figur, usw., usf.
Andreas Hapkemeyers „Transformationen :zum Wort NIE“ (Ottenhausen: Edition Spatia 1988) bestehen eigentlich aus 28 Transparentseiten, die mit senkrechten Strichen beginnen, zum Wort NIE gelangen und als waagrechte Striche enden. Die Durchsichtigkeit der Transparentfolien sowie der materiale Charakter dieser Arbeit können hier nur annähernd wiedergegeben werden – die ausgewählten 4 Blätter stammen aus der ersten Hälfte des Buches: von den Horizontalen zum NIE. Einordnung: A1b.
Helmut Stummers „Mann“, „Tumult“ und „Fell“ sind mir Paradebeispiele für A1: aus der Gestalt einzelner Wörter entstehen graphische Bilder, die mit der ursprünglichen Bedeutung bloß noch in assoziativer Verbindung stehen, was ihren Reiz ausmacht: dann liegen schwarze Flächen der Buchstaben F, E und L tatsächlich als Felle auf dem Boden. Diese Deutung impliziert die Annahme einer (zumindest durch die Konvention denkbaren) visuellen Onomatopöie, daß dem oral der Mund offen steht, dem Flugzeug Tragflächen wachsen, das auto (sic!) auf Rädern steht.
Gerhild Ebels Neuer Versleere sind die Verszeilen, die hier nur als schwarze Balken reproduzierbar sind, eigentlich ausgestanzt – die Blätter hängen hinter und vor Glasscheiben, wodurch der eigentliche Zeileninhalt einem realen Ausschnitt aus der sogenannten Realwelt entspricht: es gibt also keine Signifikanten mehr, sondern bloß noch schnittenweise Signifikate, was, wie ich finde, eine sehr gelungene Präzisierung des oben erwähnten Axioms der Konkreten Poesie (Präsentation statt Repräsentation) darstellt. Klassifizieren will ich diese Arbeit mit C3 (semiotisch ikonische Poesie mit konzeptioneller Ausrichtung) – im Gegensatz zur reinen semiotisch ikonischen Poesie, C1, worin Sprache durch (die Sprache betreffende) graphische Ikone ersetzt ist und C2, wo Piktogramme als Sonderfälle graphischer Ikonen fungieren.
4 in toto unterschiedliche Blätter habe ich aus Reinhard Priessnitz’ vierundvierzig gedichte (Linz: edition neue texte 1978) ausgewählt, worin semantischer Sinn durch optische Elemente verstärkt wird, ohne tautologisch zu sein. Ich etikettiere die Texte mit D1 – symbiotisch materiale Poesie mit eindeutiger Nähe zum Text.
Bei Brigitta Falkner werden Palindrome mit Comics illustriert, wodurch ein Verfahren der experimentellen Poesie geschickt in eine andere Ebene „runtazogn“ wird. Einordnung D2b (Comics als spezifiziertes Bild).
Angelika Janz geht in ihren Fragmenttexten von gefundenen Texttorsi aus, die mittels kontextualer Ergänzung zu Gedichten flektiert werden. Der Thesaurus von zufälligen Wortkombinationen wird überprüft und repragmatisiert: D1.
Umgekehrt bei Hansjörg Zauner, der in seinen Gedichten ausgewählte Textstellen durch Bildfragmente ersetzt: D1. Bei seinen „Schnipslern“, die oberflächlich an Arps geschüttelten Zufall erinnern, wird mit der konventionellen Gedichtform gebrochen – nicht aber (zumindest nicht radikal) mit Lesbarkeit und Leserichtung: D2.
In den Arbeiten von Gerhard Rühm ist das skripturale Moment konstitutiv: persönliche Handschrift von einem „ich“, wodurch die Flächen und Geraden der graphisch orientierten visuellen Poesie verpersönlicht werden. An dieser Stelle zeigt sich, daß die Trennung (hier: zwischen A und B) letztlich im Bereich persönlicher Beliebigkeit stecken bleibt, was aber vorerst nicht daran hindert, eine Zuordnung zu A2 (skripturalorganisierte, graphisch orientierte visuelle Poesie) vorzunehmen. Von demselben Autor, wie auch von zahlreichen anderen (Franz Mon, Max Riccabona, u.a.), existiert auch eine Reihe präziser (Text-)Collagen (D2), die aus Kostengründen hier ebensowenig berücksichtigt werden konnten wie experimentelle Musiknotationen, welche aus semantischen Gründen nicht einbezogen wurden – aus dem gleichen Grund beschränkt sich die vorliegende Auswahl auf den deutschsprachigen Raum.
Ferdinand Schmatz’ Blätter entstanden derart, daß der an die Wand projizierte Schatten eines aufgesetzten Hutes zum Bildanlaß genommen wurde. Die hier nicht wiederzugebende Schriftfarbe bezeichne ich rostrot. Etikettierung: A2 bzw. D2.
Die Arbeiten Pierre Garniers setzen Konnotationen sprachlicher Wörter mit einfachen graphischen Formen in Verbindung, deren Interaktion Denotate vorsprachlicher Empfindung offen legt, die zu versprachlichen ich nicht in der Lage bin, benennen kann ich sie als Poesie, womit sich alle hier versammelten Arbeiten signieren ließen. Einordnen lassen sich die Arbeiten unter D2.
Das Material von Christian Steinbachers Fundkuben sind die Anweisungskästchen aus Kreuzworträtseln, wodurch auf sprachliche Lösungen verwiesen wird, die hinter der eigentlichen Materialität der Begriffe liegen. Die jeweiligen Begriffe, egal ob eher sachlich oder lukullisch, sind aber auch in eine narrative Abfolge eingebettet und als von Flächensyntax unterstützte Gedichte rezipierbar: B1.
Bei Ilse Garniers Arbeiten steht der visuelle Teil direkter mit der jeweiligen Semantik in Verbindung als bei Pierre: B1.
Die Scribentismen von Valeri Scherstjanoi sind von den handgeschriebenen Texten des russischen Futurismus (Zaum) ebenso beeinflußt wie von Carlfriedrich Claus, der hier leider nicht vertreten ist. Scherstjanoi steht in der Kalligraphie-Tradition, die er mit Erkenntnissen gegenwärtiger experimenteller Poesie verbindet, wodurch den Scribentismen (im Konjunktiv) optische Onomatopöie ermöglicht ist: A2.
Ein anderer Aspekt skripturaler Poesie gilt für die Textbilder Christine Hubers: diverse Schriftzüge werden in großer Häufigkeit und rascher Geschwindigkeit wiederholt, wodurch sich Automatisierung einstellt, die Lesbarkeit verliert sich in der Signatur, die Verbindung zwischen Motivation und individuellem Schriftzug verläuft direkt – das Verfahren könnte als kalligraphische écriture automatique benannt werden: A2b – graphisch orientierte visuelle Poesie mit konzeptioneller Ausrichtung, weil die jeweils konkrete Gestalt nur indirekt mit dem „Sinn“ des Verfahrens zusammenhängt.
Bei Fritz Widhalm (A2 bzw. D1) wird Kalligraphie in ihrer (außerhalb des Kunstkontextes) üblichsten Form verwendet: als Schulschrift. Die beiden Blätter selbst könnten – trotz der Gefahr, hier in geschwätziger Überinterpretation zertratscht zu werden – als Thematisierung visueller Poesie überhaupt verstanden werden: Die Kombination von Text und Bild, also visuelle Poesie, passiert – vom gegenwärtigen Produzenten aus gesehen – mit gebremstem Risiko; wegen der längst stattgefundenen Kanonisierung, kann nur mehr ein leichter Unfall passieren, das Experiment kann bloß noch bedingt scheitern und somit auch nur mehr unter Vorbehalt als Experiment bezeichnet werden. – Eine Problematik, die wohl für die gesamte experimentelle Literatur gilt.
Ingo Springenschmids Textarbeitet mit den Komplementärfarben rot und grün, die hier nur fett bzw. normal (schwarz) wiedergegeben werden können. Der Text selbst verzichtet auf die Wortzwischenräume, ohne daß die Wortgrenzen selbst verloren gingen, ohne daß das Suffix des einen Wortes zum Präfix im nächsten Wort würde, wie man dies etwa von Konrad Bayer kennt. Dennoch oder gerade deshalb entsteht eine eigene Lesedynamik, die zu versprachlichen hier wenig Sinn machen würde. Da es sich um reinen Text handelt, ist mir eine Klassifizierung im bisherigen Raster nicht möglich, weshalb ich mit E (reiner Text mit visuellen Elementen) erweitere. Unter E würden auch Reinhard Priessnitz Fahnen „wehendenden“ (trauriges pudern in: vierundvierzig gedichte).
Heimrad Bäckers Konstellationen, deren hintergründiges Thema ich als Widerstand am Eingeständnis sprachlicher Verstummung gegenüber der NS-Vergangenheit vermute, zeigen (gerade durch ihren radikalen Verzicht auf diese) diskursive Befangenheit narrativ didaktischer Texte. Aber vielleicht sitze ich auch hier meinen Präsuppositionen auf, auch wenn ich meine, daß die Konnotationsmöglichkeiten gerade dadurch erweitert werden, daß der semantischen Eindeutigkeiten des Palindroms keine weiteren Ebenen hinzugefügt werden: B1. Bei den ausgewählten Blättern handelt es sich um bisher unveröffentlichte Arbeiten aus der Gras-Sarg Serie (SGRA. Berlin: Rainer Verlag 1990).
Andre Vallias’ Graphiken sind das Ergebnis von mathematischen Formeln, die mit verschiedenen (abfolgenden) Zahlenwerten durchgerechnet werden. Die Abfolge der entstehenden Bilder wird eigentlich auf dem Computerbildschirm gezeigt: A1b.
Die Piktogramme und Firmenlogos von Hil de Gard befinden sich im ambivalenten Status zwischen Sprache und Bild: Prinzipiell ist die Bedeutung von Piktogrammen eindeutig, liegt ein pars pro toto Prinzip vor, ihre bedeutungstragende Einheit ist nicht weiter unterteilbar. Erst durch ihre Kombination bzw. durch Bodo Hells Text wird dieses Prinzip unterlaufen: D1 bzw., wenn Piktogramme als Sonderfälle der ikonischen Zeichen einzureihen sind: C2.
Mit einer ähnlichen Kombination (Syntaktisierung) von Piktogrammen arbeitet Karla Sachse, die mich extra darauf hingewiesen hat, ihre Arbeiten nicht zu rastern, um die spröde Materialität zu betonen: C2.
Siegfried J. Schmidts Arbeiten nehmen Bilder zum Anlaß für Texte bzw. umgekehrt und stehen so in weiterführender Tradition klassischer Bildgedichte: Text und Bild stehen gleichwertig nebeneinander, nehmen bloß in assoziativer Möglichkeitsform aufeinander Bezug: D3 (Bildgedichte als Sonderfall symbiotisch materialer Poesie).
Uwe Warnke setzt morphene Fundstücke (mittels Kopierer) in den Kunst- bzw. Literaturkontext: C1.
Die in der Fluxus-Tradition stehenden Kunst-Briefmarken von Jürgen O. Olbrich brechen demgegenüber (zumindest in ihrer Intention) mit dieser Aura: sie werden in größeren Auflagen gedruckt und wären verschickbar: D2.
Ähnlich wie S.J. Schmidt setzt Ilse Kilic Text- und Bildelemente nebeneinander, um derart die gegenseitigen Konnotationsmöglichkeiten zu verdichten: D3.
Umgekehrt verfährt Dieter Scherr, der durch Reduktion ins Minimale die Bedeutungsmöglichkeiten einfacher Elemente potenziert: D1 bzw. D2.
Als copyart (in Tradition zu Emmett Williams, u.a.) verstehe ich die Blätter von Hans Ulrich Prautzsch: D2.
Guillermo Deisler bringt semantisch formulierbare Bedeutung in ironisch visuelle Gestalt: B1.
Siegfried Holzbauer bearbeitet den Schriftzug „fontal“, der Computerschriften bezeichnet, mittels Computer, um so den Thesaurus möglicher Formeninhalte auszukosten: A 1.
Die Collagen von M. Rutt bestehen nur aus Fundstücken: die Persönlichkeit des Künstlers beschränkt sich auf Auswahl und Arrangement, auf persönlichen Kommentar wird verzichtet: D2.
Meine eigenen Blätter stehen in absichtlicher Tradition zu den Bildgedichten (Gedichte, die auf klassische Malerei gereimt wurden). Die Ölgemälde sind durch Bilder aus dem Bilderduden (Bd. 3 der zwölfbändigen Dudenausgabe. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag 1992 (4)) ersetzt. Zudem wird die Ersetzbarkeit von Bedeutungsträgern (in Bild und Text) vorgeführt: D3.
Franz Josef Czernin schließlich setzt Pfeile, die (theoretisch) unendliche Repetition seiner Gedichte (Graz: Literaturverlag Droschl, edition neue texte 1992) fordern: der Gestalt der visuellen Elemente (Pfeile) kommt kaum Bedeutung zu (die Gedichte wurden bereits im Rainer Verlag, Berlin abgedruckt, wo die Pfeile mit Geraden dargestellt wurden), dennoch können diese Gedichte auch als visuelle Poesie gesehen werden: E. – Eine phonetische Wiedergabe wäre nicht in der Lage, dieses Prinzip zu artikulieren.

Abschließend möchte ich die sich ergebende Einteilung (Produkt meiner Redseligkeit) nochmals auflisten, womit zumindest der hier vorliegenden Auswahl (wie auch allen anderen individuellen Ausprägungen visueller Poesie, die mir spontan einfallen) eine Zuordbarkeit möglich erscheint:

Franzobel, Vorwort, August 1993

Einteilung

A1     graphisch orientierte visuelle Poesie
aaaaaA1b   konzeptionell organisierte, graphisch orientierte visuelle Poesie
A2     skripturalorientierte visuelle Poesie
aaaaaA2b     konzeptionell organisierte, skripturalorientierte visuelle Poesie

B1    begrifflich orientierte visuelle Poesie
B2    konzeptionell begrifflich orientierte visuelle Poesie

C1    semiotisch ikonische Poesie
C2    Piktogramme als Sonderfälle der semiotisch ikonischen Poesie
C3   konzeptionell semiotiosch ikonische Poesie

D1    symbiotisch materiale Poesie mit Nähe zum Text
D2    symbiotisch materiale Poesie mit Nähe zum Bild
aaaaaD2b    Comics als Sonderfälle der symbiotisch materialen Poesie mit Nähe zum Bild
D3     Bildgedichte, bzw. gleichwertig organisierte symbiotisch materiale Poesie

E       reiner Text mit visuellen (phonetisch nicht artikulierbaren) Elementen

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + ÖM + IMDb + Kalliope
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Franzobel liest im Alten Kino Landseck „Die Moritat auf den krassen klassen Kassenleerer Karl Heinz…“

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