Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1965 – Nelly Sachs

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1965 – Nelly Sachs

Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1965 – Nelly Sachs

EINER
wird den Ball
aus der Hand der furchtbar
Spielenden nehmen.

Sterne
haben ihr eigenes Feuergesetz
und ihre Fruchtbarkeit
ist das Licht
und Schnitter und Ernteleute
sind nicht von hier.

Weit draußen
sind ihre Speicher gelagert
auch Stroh
hat einen Augenblick Leuchtkraft
bemalt Einsamkeit.

Einer wird kommen
und ihnen das Grün der Frühlingsknospe
an den Gebetmantel nähen
und als Zeichen gesetzt
an die Stirn des Jahrhunderts
die Seidenlocke des Kindes.

Hier ist
Amen zu sagen
diese Krönung der Worte die
ins Verborgene zieht
und
Frieden
du großes Augenlid
das alle Unruhe verschließt
mit dem himmlischen Wimpernkranz

Du leiseste aller Geburten.

 

 

 

Laudatio

anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Nelly Sachs, im Oktober 1965

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, einen Dichter zu erledigen. Die freundlichste, freilich auch die hinterhältigste ist die: man spendet ihm Beifall, und zwar unter allen, besonders gern unter festlichen Umständen. Das nennt man „Laudatio“. Haben wir es bei der Verwirklichung dieser Möglichkeit nicht etwa bis zur Meisterklasse gebracht? Ich sage „Wir“. Ich bitte Sie, das nicht als einen pluralis maiestatis aufzufassen. Ich meine wirklich nicht nur mich. Und damit könnte ich für diesmal, ein wenig beirrt, mein Heft schließen; und wir dürften überhaupt nach Hause gehn. Aber das wäre auch wieder zu einfach. Wir wollen lieber versuchen, vor einem Dichtwerk – genauer: vor dem Dichtwerk der Nelly Sachs zu bestehen. Nun ist es nicht leicht zu sagen, wie man sich heutzutag vor einem Dichtwerk so im allgemeinen benimmt; denn meist ist man bei der Konfrontation allein mit dem Gegenüber. Ausgenommen im Theater. Da allerdings ist nicht nur das Spiel öffentlich, auch unser Verhalten ist es. Wir sitzen, wenn ich so sagen darf, in der moralischen Anstalt; und wir lassen uns hier nicht ungern von Zeitgenossen anreden, von Frisch zum Beispiel, oder von Dürrenmatt oder von Walser oder Weiss oder Hochhuth. Und die sagen uns nicht nur nichts Bequemes, sondern, wenn ich nicht irre, auch kaum etwas Anmutiges; sie drängen vielmehr auf ein ziemlich hartes Gespräch; sie wollen uns nicht schmeicheln, und sie möchten uns auch nicht bekehren; sie sind aufs Zeigen erpicht, in der Hoffnung, daß im genauen Zeigen schon Kraft genug sei, unsern Sinn zu ändern, uns anders – sagen wir: uns aufmerksamer im Dasein, und das heißt schon fast, uns für einmal besser zu machen, als wir sind. Haben Sie den Eindruck, daß wir die moralische Anstalt, wo Dichter uns anreden, jeweils moralischer verlassen? Hat sich irgend etwas in uns geändert? Oder waren wir gleichgültig? Das nun gewiß nicht. Unser Beifall beweist es. Er pflegt in der Regel lang und ausgiebig zu sein. Aber er ändert nichts an der ein wenig beirrenden Empfindung, die moralische Anstalt ähnele eher einem respektablen Stundenhotel für Moral. Der Dichter hat uns mehr oder weniger trefflich unterhalten. Und was tun wir? Wir lassen ihn in die Polsterung unseres Beifalls rennen. Das tut ihm nicht weh; aber es macht ihn müde, vielleicht so müde, daß er es mit der Zeit aufgibt, für uns, gegen uns, mit uns etwas zu leisten.
Daran dachte ich, als ich eben sagte, die freundlichste, freilich auch die hinterhältigste Möglichkeit, einen Dichter zu erledigen, sei der Beifall. Und jetzt muß nur noch präzisiert werden: der zynische Beifall, in den wir uns flüchten, um nicht ins Gespräch verwickelt, um nicht durch den Dichter in die volle Verantwortung gefordert zu werden. Habe ich mit alldem übertrieben? Oder dürfte jemand sagen, es sei rundweg nicht wahr? Ich möchte, daß es rundweg nicht wahr wäre – oder daß wir wenigstens jetzt, in dieser Stunde, uns entschlössen, es nicht mehr wahr sein zu lassen; denn nur so gelangen wir auf den Stand, wo das Gespräch mit dem Dichter, wo die Feier für einen Dichter mehr darstellt als eine „Laudatio“, mehr als ein festliches Divertimento.
Wir treten mit Nelly Sachs ins Gespräch. Und nun läßt uns diese Frau durch das Beispiel ihres Lebens und durch das Zeugnis ihres Werks gar keine Möglichkeit zum Wegschleichen ins rein literarische Reden. Es wäre nicht übertrieben schwierig, sie in den Gang der Literatur einzuordnen; aber schwer ist es, die Auskunft ihres Werks dem eignen innern Dasein zu verbinden; denn fürs erste brächte das Schmerz – erst beim zweiten Schritt auch Befreiung. Ich glaube, es ist in dieser Stunde, bei diesem Anlaß besonders wichtig, daß wir uns darüber Gedanken machen.
Einmal kamen wir im Gespräch auf Matthias Claudius. Jeder von uns konnte das eine und andere auswendig hersagen: liebe, schöne und bisweilen vollkommene Verse. Nelly Sachs hörte zu, und ich werde nie vergessen, wie ihr Blick an Gegenwart verlor und unheimliche Bereiche widerspiegelte, als jemand, ohne viel Aufwand, aber biedermeierlich entzückt, die Strophen vortrug, die unter dem Titel „Ein Wiegenlied beim Mondschein zu singen“ zum Paradestück der Häuslichkeit und des wohlbehüteten Wandels geworden sind. Sie erinnern sich; das Gedicht beginnt mit den Worten – „So schlafe nun, du Kleine! / Was weinest du? / Sanft ist im Mondenscheine / Und süß die Ruh.“ Der Mond ist hier bei Claudius nicht nur ein alter Rabe, sondern auch ein sehr rechter und freundlicher Mann, der zuschaut, wie die Geschlechter heranwachsen, eins nach dem andern; er empfängt die Bitten und die Hoffnungen von der Erde her, vergißt nicht, was sich die Leute da unten wünschten und immerzu wünschen; und was er dem einen gibt, das darf der andere auch erwarten: er „gießt freundlich schöne Gaben / von oben her“; mehr noch: er „scheint von hoch hernieder / mir lauter Glück“. Nun werden die Bitten der Leute da unten nicht viel anders geworden sein im Lauf der Zeit; nur hat der Mond (oder wie immer das Bild heißen mag, an das man sich hält) – nur hat der Mond auf einmal nicht mehr übertrieben freundliche Gaben von obenher geschickt. Das Wiegenlied unserer Zeit, Wiegenlied beim Mondschein zu singen, heißt:

O der weinenden Kinder Nacht!
Der zum Tode gezeichneten Kinder Nacht!
Der Schlaf hat keinen Eingang mehr.
Schreckliche Wärterinnen
Sind an die Stelle der Mütter getreten,
Haben den falschen Tod in ihre Handmuskeln gespannt,
Säen ihn in die Wände und ins Gebälk −
Überall brütet es in den Nestern des Grauens.
Angst säugt die Kleinen statt der Muttermilch.

Zog die Mutter noch gestern
Wie ein weißer Mond den Schlaf heran,
Kam die Puppe mit dem fortgeküßten Wangenrot
In den einen Arm,
Kam das ausgestopfte Tier, lebendig
In der Liebe schon geworden,
In den andern Arm, −
Weht nun der Wind des Sterbens,
Bläst die Hemden über die Haare fort,
Die niemand mehr kämmen wird.

Das ist ein Gedicht von Nelly Sachs. Die Gegend, die hier im Wort gefaßt ist, erschien uns gespiegelt in den Augen der Dichterin, damals, aIs das andere Mondlied aus ferner, fast nicht mehr glaubwürdiger Zeit heraufgeholt wurde in die Gegenwart des Gesprächs. Die Hauptsache heißt nun nicht mehr Glück; sie heißt, Angst. Und noch die Geretteten sagen im Chor, daß die Würmer der Angst an ihnen essen. Aber was ist es denn für eine Angst? Es ist die Angst, die dann in unser Leben einbricht, wenn eben dieses Leben durch Untat und Verrat verdächtig geworden ist im Besten, was es hat: verdächtig in der Liebe, in der Wahrheit, im Recht und in der Freiheit – verdächtig, weil es möglich wurde, daß Haß und Lüge, Knechtung und Gewalt in greulicher List und Bosheit schönrednerisch zur Herrschaft gebracht werden konnten, zur Herrschaft, deren Zeichen allemal Verfolgung, Qual und Mord sind. Wir wissen jetzt alles, wissen im besondern, was das heißt: Das Leiden Israels. Und seit wir es wissen, hindern uns Schreck und Scham, den natürlichsten Glücksruf des Menschen von den Vätern ohne Zögern zu übernehmen – ich meine den Ruf: „Ich danke Gott und freue mich / Wie’s Kind zur Weihnachtsgabe, / Daß ich bin, bin! Und daß ich dich, / Schön menschlich Antlitz! habe.“ Gibt es aber einen stärkeren Anlaß zur Angst im Dasein, als diesen, daß das bloße Nennwort „schön menschlich Antlitz“ einen durch Fragwürdigkeit erschreckt? Davon handelt das Werk der Nelly Sachs. Ich könnte auch sagen: das sei ihr Thema – aber nur, um spürbar zu machen, daß es so nicht stimmt. Denn das Leiden, dem Nelly Sachs Wort und Stimme gibt, ist kein Thema, das man sich nimmt; dieses Leiden nimmt sich den Menschen, um in ihm selber Wort und Stimme zu werden. Von daher kommt die erschütternde Kraft dieser Dichtung.
Leo Adler hat die Frage aufgeworfen, ob das jüdische Volk noch einmal die Künderkraft eines Moses aufzubringen vermöge, um den gehäuften Welt-Ungeist zu durchbrechen wie voreinst im Auszug aus Ägypten. Und dann fährt er mit den Worten fort:

In zweitausend Jahren vergangener jüdischer Geschichte lebte keine Generation, die dem Auszug aus Ägypten, was Leid, Aufgabe und Erfüllung anbetrifft, nähergestanden wäre als die unsrige. Vielleicht sind die Wunden noch zu frisch für die Verwirklichung dessen, was Israel unter Mose vollbrachte.

− Welt-Ungeist durchbrechen. Dafür lebt Nelly Sachs, und Leben heißt für sie: das Wort finden. Was sie gefunden hat, das ist verwahrt in ihren Versen und in ihren szenischen Dichtungen. Wie Wegweiser stehn die Titel da: In den Wohnungen des Todes, Sternverdunkelung, Und niemand weiß weiter, Flucht und Verwandlung, Fahrt ins Staublose, Noch feiert Tod das Leben.
Von Baudelaire stammt die Empfehlung: es sollten beim Umgang mit einem Gedicht die Wörter herausgehoben werden, die an verschiedenen Stellen unter verschiedenen Bedingungen immer wieder erscheinen – so komme man auf den Kern. Im Werk der Nelly Sachs tritt ein Wort stärker als alle andern hervor. Das Wort „Sand“. Ist es nun wirklich auch ein Zeichen, das uns zum Kern hinleitet? Wir wollen ein Beispiel aus der Fülle nehmen, ein Gedicht aus dem Band In den Wohnungen des Todes. Es heißt:

Wer aber leerte den Sand aus euren Schuhen,
Als ihr zum Sterben aufstehen mußtet?
Den Sand, den Israel heimholte,
Seinen Wandersand?
Brennenden Sinaisand,
Mit den Kehlen von Nachtigallen vermischt,
Mit den Flügeln des Schmetterlings vermischt,
Mit dem Sehnsuchtsstaub der Schlangen vermischt,
Mit allem was abfiel von der Weisheit Salomos vermischt −
Mit dem Bitteren aus des Wermuts Geheimnis vermischt
O ihr Finger,
Die ihr den Sand aus Totenschuhen leertet,
Morgen schon werdet ihr Staub sein
In den Schuhen Kommender!

Es gibt Wirkungen im Wort, die nur möglich sind, weil in ihnen das tiefste Menscheitserinnern mittätig ist. Wir hören „Wandersand“, „Brennender Sinaisand“ – und sind plötzlich angeschlossen an die Geschichte des erwählten Volks, das aus den Lagern der Qual weggeführt wird, auf den Weg zu sich selbst. Was an Tod, Plage, Zweifel, Unsicherheit denkbar ist, geht mit bis zum Ort, wo dem wandernden Volk nicht nur sein Dasein, sondern auch der Sinn seines Daseins geschenkt wird: am Sinai. Im Buch Exodus heißt es:

Gedenket an diesen Tag, an dem ihr aus Ägypten, aus dem Diensthause gegangen seid, daß der Herr euch mit mächtiger Hand von hinnen hat ausgeführt.

In diesem „Gedenket“ ist die Pflicht zusammengefaßt, die Geschichte als den Offenbarungsweg Gottes zu erinnern – Erlösung nicht im Verborgenen, sondern im Leben der sichtbaren Gemeinschaft. Von da her kommt die ruhige, ernste Heiterkeit in die Gedichte der Nelly Sachs. Ihre Worte geben Bericht von den „Qualenmeilen“ auf Gott hin; doch dieser Bericht steht unter dem oberen Leitwort, das uns aus dem „Chor der Toten“ entgegentönt:

Wir Toten Israels sagen euch:
Wir reichen schon einen Stern weiter
In unseren verborgenen Gott hinein.

Nelly Sachs hat vor eines ihrer Gedichte das Wort gestellt, die Zahl der Tora-Gebote entspreche der Zahl der Knochen des Menschen, die Zahl der Verbote entspreche der Zahl der Adern. „So deckt das ganze Gesetz den ganzen Menschenleib.“ Und wir dürfen sagen: So deckt dieses Gesetz auch das Gedicht der Nelly Sachs. Und nun, vielleicht, sind wir im stand zu begreifen, wie es möglich wurde, daß ein Mensch dieser Zeit, verletzt von der apokalyptischen Bosheit in dieser Zeit, zu Worten kommt, welche den Haß nicht kennen, den Rachegedanken nicht vortragen, die Klage voller Würde sagen und die Anklage unterlassen: Es sind Worte unter dem Gesetz. Dafür gibt der Talmud ein Gleichnisbild von unvergeßlicher Stärke; es heißt dort, Gott habe, als das Volk am Sinai die Gebote empfing, den Berg wie ein Faß, mit der offenen Seite nach unten, über dieses Volk gehalten. Was bedeutet das? Leo Adler hat es in einer seiner Predigten folgendermaßen ausgelegt:

Der Geist der Tora gleicht einem mit der Öffnung zur Erde gekehrten Gerät. Was noch im Gefäß zurückbleibt, das ist der Inhalt wahrer Religion, was aber herausfällt, das sind die vergänglichen und tödlichen Dinge, welche die Erde an sich zieht, so wie sie der Erde entsprungen.

In solcher Religion gehalten, konnte Nelly Sachs das Böse der Zeit im Gedicht melden, ohne daß ihr dabei das Wort selbst böse geworden wäre. Menschenjagd, Vernichtungslager, Leichengrube – ihr ist die Kraft gegeben, dies alles zu sagen; und das unsäglich Miserable der Tatsachen kann ihr nichts antun, kann sie nicht herabziehn. Denn sie hat Sicherheit im Gesetz.
In ihren Gedichten gibt es ein immer wiederkehrendes Zeichen für den heilenden Anruf. Es ist der Schofar, das Widderhorn. Luther setzte dafür das Wort „Posaune“. Wir lesen den Bericht über Donner und Blitz und hören vom sehr starken Ton der Posaune am Tag, da Mose am Sinai redete und Gott ihm Antwort gab. Und da die zehn Gebote gesprochen sind, heißt es weiter: „Alles Volk sah den Donner und den Blitz und den Ton der Posaune und den Berg rauchen.“ Wir wollen es festhalten: das Volk sah den Ton der Posaune – der Ruf des Schofar ist das Ereignis, in welchem sich die Sinne verbinden zum Erfahren, zum Einverleiben des Gesetzes. Es ist das Gesetz, in dem sich das Dasein noch in seiner äußersten Gefährdung als unteilbar und zur Erlösung bestimmt erkennt. Der Schofar, das Widderhorn, ist ein Heimholerhorn – aber durch seinen Schall wird auch die Erinnerung wachgerufen an die Last, welche der Mensch nicht los wird, weil er Mensch ist. Ich höre dazu die Stimme der Frau, mit der wir hier, verehrend und unablässig empfangend, im Gespräch stehn; ich höre Nelly Sachs sagen:

Land Israel,
nun wo dein Volk
aus den Weltenecken verweint heimkommt
um die Psalmen Davids neu zu schreiben in deinen Sand
und das Feierabendwort „Vollbracht“
am Abend seiner Ernte singt −

steht vielleicht schon eine neue Ruth
in Armut ihre Lese haltend
am Scheidewege ihrer Wanderschaft.

Aus solchem Leben, in welchem die Sinnenseele sich gegen nichts verschloß: das Licht holder Tage“ in sich aufsog, den Einfall der Dunkelheit ertrug, die täglichen Dinge zerbrechen sah, den Einsturz der Wohnstätten hörte, Leiber fallen spürte – aus solchem Leben kommen die Worte herauf, welche um den Lichtkern kreisen, den Verse wie die folgenden in seinem Wesen zeigen:

Aber im Alter ist alles ein großes Verschwimmen.
Die kleinen Dinge fliegen fort wie die Immen.

Alle Worte vergaßt du und auch den Gegenstand;
Und reichtest deinem Feind über Rosen und Nesseln die Hand.

Wozu sind wir hierhergekommen? Wir sind hergekommen, um Nelly Sachs im Zeichen zu danken, dem ihr Dasein, dem ihr Wort zu Sinn und Leben verhilft – im Zeichen des Friedens. „Friede.“ Das ist ein gutes Wort. Aber haben wir es nicht sehr verbraucht und vernützt? Ist es nicht fast eine Zweckvokabel geworden? Entstellt durch Heuchelei und List? Solche Fragen sind im Grunde Fragen nach der Sprache, nach der deutschen Sprache, nach dem Zustand dieser deutschen Sprache.
Ich kenne kaum etwas, das mir in solchem Zusammenhang ebensoviel erschütternde Einsicht in den Sachverhalt gegeben hätte wie ein Wort, das Gershom Scholem „An einem denkwürdigen Tage“ sprach. Mit der Wendung „An einem denkwürdigen Tage“ ist jener Tag im Jahr 1961 gemeint, an dem die Übersetzung der Bibel ins Deutsche, welche Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig Jahrzehnte vorher begonnen hatte, abgeschlossen vorlag. Scholem rückte in seiner Rede das besondere Wesen der Buberschen Leistung ins Licht. Der erfahrene Kenner begab sich in Unterhaltung mit der schöpferischen Tat eines andern Vielerfahrenen und verschaffte dadurch seinem Dank und seinem Glückwunsch starkes Gewicht. Aber Scholem konnte nicht mit Dank und Glückwunsch aufhören. Am Ende seiner Rede war vielmehr ein besorgtes Fragen. Die Sprache, in die Buber übersetzte, so sagt Scholem, sei nicht die Sprache des deutschen Alltags, und es sei auch nicht die Sprache der deutschen Literatur der zwanziger Jahre. „Es war ein Deutsch, das als Möglichkeit, aus alten Tendenzen sich nährend, in dieser Sprache angelegt war.“ Die Bibelübersetzung sei, so fährt Scholem fort, etwas wie das Gastgeschenk, das die deutschen Juden dem deutschen Volk „in einem symbolischen Akt der Dankbarkeit noch im Scheiden hinterlassen konnten.“ Und nun wird, in direkter Anrede zu Martin Buber hin, die Frage gestellt:

Was die Deutschen mit Ihrer Übersetzung anfangen werden, wer möchte sich vermessen, es zu sagen? Denn den Deutschen ist mehr widerfahren, als der Dichter voraussah, als er sagte:

und nicht Übel ist, wenn einiges
verloren gehet, und von der Rede
verhallet der lebendige Laut.

Der lebendige Laut, auf den Sie die deutsche Sprache angesprochen haben, ist für das Gefühl von vielen von uns verhallt. Werden sich die finden, die ihn aufnehmen?

So hat Gershom Scholem an jenem denkwürdigen Tag zu Ehren Martin Bubers gefragt. Sie spüren, warum ich daran erinnere. Es leitet uns zum Ort, wo über die eine Sorge nachgedacht wird, wie wir unsere Sprache wieder finden könnten, den lebendigen Laut, der am Ende nichts mehr und nichts weniger darstellt als das Leben in jener Würde, welche dem Menschen möglich ist, von dem man sagen darf, daß er guten Willens sei, „bonae voluntatis“.
Wiederherstellung der Sprache: das ist unsere Pflicht. Natürlich reden wir, schreiben wir und brauchen Worte mehr denn je. Und in diesem Brauchen ist viel Nachlässigkeit, Leichtfertigkeit und Verrat, weil wir das Wort, dessen Wesen aufs Zeigen angelegt ist, mehr zum Verstecken und zu listigen Verführungen brauchen. Das gehört zum Sündenfall der Diktaturen. Wir wissen es. Aber am schärfsten wissen es die Dichter dieser Zeit. Die einen zerbrechen daran; andere versuchen die Lage in kritischen Gängen wenigstens sichtbar zu machen – Sichtbarmachen als eine Vorstufe der Bereinigung. Und dann sind da die Seltenen, die der Rede den lebendigen Laut wieder zu geben vermögen, in welchem das Meinen und das Sagen sich in moralischer Ordnung halten. Zu diesen Heilern der Sprache gehört Nelly Sachs. In einem Gedicht aus dem Kreis Sterneverdunkelung ruft sie uns an:

Völker der Erde
ihr, die ihr euch mit der Kraft der unbekannten
Gestirne umwickelt wie Garnrollen,
die ihr näht und wieder auftrennt das Genähte,
die ihr in die Sprachverwirrung steigt
wie in Bienenkörbe,
um im Süßen zu stechen
und gestochen zu werden −

Völker der Erde,
zerstöret nicht das Weltall der Worte,
zerschneidet nicht mit den Messern des Hasses
den Laut, der mit dem Atem zugleich geboren wurde.

Völker der Erde,
O daß nicht Einer Tod meine, wenn er Leben sagt −
Und nicht Einer Blut, wenn er Wiege spricht −

Völker der Erde,
lasset die Worte an ihrer Quelle,
denn sie sind es, die die Horizonte
in die wahren Himmel rücken können
und mit ihrer abgewandten Seite
wie eine Maske dahinter die Nacht gähnt
die Sterne gebären helfen.

Wiederherstellung der Sprache. Das ist der Vorsatz – halb mystische Fügung, halb rechnende Tat −, nach welchem Nelly Sachs das Wort ergreift, dem Worte dient. In der Bewegung ihrer Sätze ist die Bewegung des Menschen eingeschlossen, welchem Freude, Trauer, Qual und jede andere Form der Berührung durch Alltägliches die Gebärden bestimmen. Und immer wieder tritt dieser Mensch in ihrer Dichtung stumm hervor, wie ausgeatmet vom Wort, und erzählt uns mimisch weiter seinen Weg. Wie erzählt er? „Immer bedacht, das Unsägliche auf eine transzendente Ebene zu ziehen, um es aushaltbar zu machen und in dieser Nacht der Nächte eine Ahnung der heiligen Dunkelheit zu geben, in der Köcher und Pfeil verborgen sind.“ Köcher und Pfeil des treffenden Gottes. – So sagt es Nelly Sachs im Anhang zum Mysterienspiel Eli.
Wiederherstellung der Sprache ist Mitarbeit zur Versöhnung. Sollen wir sagen zum Frieden? Es ist jedenfalls das Zeichen, unter dem wir die verehrte Frau hier grüßen, Nelly Sachs, in Verbundenheit, in Dankbarkeit.

Werner Weber

Danksagung

Wenn ich heute, nach langer Krankheit, meine Scheu überwunden habe, um nach Deutschland zu kommen, so nicht nur, um dem deutschen Buchhandel zu danken, der mir die Ehre erwiesen hat, mir den Friedenspreis zu verleihen, sondern auch den neuen deutschen Generationen zu sagen, daß ich an sie glaube. Über alles Entsetzliche hinweg, was geschah, glaube ich an sie. Viele Begegnungen mit einzelnen deutschen Menschen sind mir unvergeßlich geworden und zeigten nur, wie auf einer Sternenkarte, das Entstehen eines neuen Zeichens, daraus Hoffnung und Frieden sich wieder entwickeln können.
Und wir alle, was sollen wir tun mit dem Wort, das uns geschenkt wurde, als es an seinen Wurzeln zu packen und es beschwörend den Erdball überziehen zu lassen, auf daß es seine geheime, einigende Kraft hingibt an eine Eroberung die einzige Eroberung auf der Welt, die nicht Weinen, die Lächeln gebiert: die Eroberung des Friedens.
Lassen Sie uns gemeinsam der Opfer im Schmerz gedenken und hinausgehen aufs neue, um wieder und wieder zu suchen – von Ängsten und Zweifeln geplagt zu suchen, wo vielleicht weit entfernt, aber doch vorhanden, eine neue Aussicht schimmert, ein guter Traum, der seine Verwirklichung in unseren Herzen finden will.

Nelly Sachs

 

DIE VERSCHWUNDENEN
Für Nelly Sachs

Nicht die Erde hat sie verschluckt, war es die Luft?
Wie der Sand sind sie zahlreich, doch nicht zu Sand
sind sie geworden, sondern zu nichte. In Scharen
sind sie vergessen. Häufig und Hand in Hand,

wie die Minuten. Mehr als wir,
doch ohne Andenken. Nicht verzeichnet,
nicht abzulesen im Staub, sondern verschwunden
sind ihre Namen, Löffel und Sohlen.

Sie reuen uns nicht. Es kann sich niemand
auf sie besinnen: Sind sie geboren,
geflohen, gestorben? Vermißt
sind sie nicht geworden. Lückenlos
ist die Welt, doch zusammengehalten
von dem was sie nicht behaust,
von den Verschwundenen. Sie sind überall.

Hans Magnus Enzensberger

 

 

Jürgen P. Wallmann: Deutsche Lyrik unter jüdischem Dreigestirn, Merkur, Heft 225, Dezember 1966

Peter Hamm: Besuch bei Nelly Sachs, einer „Schwester Kafkas“

Arne Grafe: „Der Tod war mein Lehrmeister“ Begegnung mit Nelly Sachs – Ein Gespräch mit Gisela Dischner

„Ich habe mich den Gedichten geöffnet, ihren Stimmen und auch ihrem Schweigen“ – Gespräch mit Christine Rospert

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Nelly Sachs

 

 

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Eberhard Haufe: Weltdichtung aus jüdischem Geist
Thüringer Tageblatt, 10.12.1966

Zum 30. Todestag der Autorin:

Hubert Gaisbauer: Der Himmel übt an dir Zerbrechen
Die Furche, 11.5.2000

Zum 125. Geburtstag der Autorin:

Christiana Puschak: Dichterin der leisen Töne
junge Welt, 9.12.2016

Eva Pfister: Lyrikerin und Symbolfigur der deutsch-jüdischen Versöhnung
Deutschlandfunk, 10.12.2016

 

Zum 50. Todestag der Autorin:

Wolf Scheller: Dichterin Nelly Sachs: Mit der Mutter auf der Flucht
Der Standart, 11.5.2020

Marie Schmidt: Vor uns in der blauen Luft
Süddeutsche Zeitung, 11.5.2020

Dina Mastai: „Wir sind die Ränder einer Wunde“
Jüdische Allgemeine, 17.5.2020

Zum 130. Geburtstag der Autorin:

Monika Buschey: Der Geburtstag der Dichterin Nelly Sachs
SR, 10.12.2021

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Friedenspreis +
Archiv + Internet Archive + Kalliope + KLGIMDb + UeLEX
Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachruf auf Nelly Sachs: TAT

 

Nelly Sachs – Ausstellung „Flucht und Veränderung“.

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