Gottfried Benn: Statische Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gottfried Benn: Statische Gedichte

Benn-Statische Gedichte

STATISCHE GEDICHTE

Entwicklungsfremdheit
ist die Tiefe des Weisen,
Kinder und Kindeskinder
beunruhigen ihn nicht,
dringen nicht in ihn ein.

Richtungen vertreten,
Handeln,
Zu- und Abreisen
ist das Zeichen einer Welt,
die nicht klar sieht.
Vor meinem Fenster,
− sagt der Weise −
liegt ein Tal,
darin sammeln sich die Schatten,
zwei Pappeln säumen einen Weg,
du weißt – wohin.

Perspektivismus
ist ein anderes Wort für seine Statik:
Linien anlegen,
sie weiterführen
nach Rankengesetz −
Ranken sprühen −,
auch Schwärme, Krähen,
auswerfen in Winterrot von Frühhimmeln,

dann sinken lassen −

du weißt – für wen.

 

 

 

Elegien für einen Irrtum

1
Drei Jahre nach Kriegsende erscheint in der neutralen Schweiz der schmale Band eines deutschen Dichters, der, wäre es mit rechten Dingen zugegangen, nie hätte gedruckt werden dürfen. Sein Verfasser galt einigen als verunglückter Nazi, anderen als intellektueller Schwerverbrecher, wieder andere sahen in ihm den Musterfall des typischen Kulturbolschewisten, der in seinen Versen allerlei Obszönitäten, Ekelerregendes und Zersetzendes verbreitete. Der berüchtigte Expressionist Gottfried Benn: Eben noch galt er als verschollen, unter der Glocke des Tausendjährigen Reiches verstummt, man hatte ihn abgeschrieben im In- und Ausland, seine Spur verlor sich seit Mitte der dreißiger Jahre im anschwellenden Riesenheer der deutschen Wehrmacht. Die Emigranten hatten ihn abgeschrieben als Verräter an sich selbst, der gleichgeschalteten Leserschaft zu Hause war er schon kein Begriff mehr, nun war der so vielfach Belastete also wieder auf die Bühne zurückgekehrt, und die Empörung war groß. Noch größer aber war die Begeisterung – „ein grandioses comback wie es im Boxsport heißt“, schrieb sein Verleger im Jahre 1949, nachdem die Statischen Gedichte nun auch in Deutschland erschienen waren. Lyrik, die zarteste literarische Gattung, und der Ruf eines moralischen Monstrums – wie ging das zusammen?

Ganz offenbar war hier ein Mann der starken Dissonanzen am Werk. Einer, dem das Umstrittensein zur zweiten Natur geworden war. Es gibt nicht wenige Belege für den eisigen Trotz, mit dem der Dichter auf die Diskriminierung reagierte, die ihm von allen Seiten zuteil wurde. Man hat den Eindruck, er selbst habe bewußt an diesem Image des Aussätzigen gestrickt. Zumindest verstand er einiges vom Nutzen negativer Reklame. Benn war zeitlebens stolz darauf, früh zur Avantgarde eines schöpferischen Expressionismus (Benedetto Croce) gehört zu haben. Seine Losung war die Artistik ohne Rücksicht auf Inhalte, der reine Ausdruckseffekt, Kunst als autonome Wirklichkeit. Unverzeihlich für die engagierten Künstler seiner Zeit war seine Verachtung des Politischen. Er hielt mit dem Hinweis auf Geschichte und ihre Sinnwidrigkeit im ganzen dagegen, erinnerte an die „Schaurige Welt, kapitalistische Welt, seit Ägypten den Weihrauchhandel monopolisierte und babylonische Bankiers die Geldgeschäfte begannen“. Es ist dies eine der Konstanten in seinem Leben, die Überzeugung von der Dauerhaftigkeit, auch Unaufhebbarkeit der sozialen Krisen und Kämpfe, über alle geistigen Abenteuer hinweg. Ganz kalt lassen ihn der Klassenkampf und der Zickzackkurs des deutschen Proletariats – einmal links, einmal rechts, und zuletzt stehen alle wieder vor einem Scherbenhaufen. Unerhört! Dieser Dichter glaubte nicht an die Veränderbarkeit der Welt – das große marxistische Credo, und er sprach seine Ansicht mit einiger Kaltblütigkeit aus. Können Dichter die Welt verändern, wird gefragt, und frappierend antwortet er: Nein, das können sie nicht.
Es sind solche Provokationen, neben den anstößigen Stellen in der frühen Dichtung, den Szenen aus Leichenschauhaus und Krebsbaracke, die seine Gegner bis aufs Blut reizen konnten. Egon Erwin Kisch, der rasende Reporter und Spanienkriegsberichterstatter, beschimpft ihn als ästhetischen Aristokraten (was der Gescholtene als Auszeichnung nimmt). Johannes R. Becher, wie er Lyriker des expressionistischen Jahrzehnts, in Moskau vom Saulus zum kommunistischen Paulus gewandelt, klebt ihm das Etikett der schönen Seele an. Benn begegnet dem mit der Miene des trainierten Stoikers, er hat schon ganz andere Vorwürfe eingesteckt. Doch zeigt sich: In seinem künstlichen Stoizismus hat das Konzept einer statischen (entwicklungsfernen) Dichtung sich lange vorbereitet. „Im Tempo jener zärtlichen Langsamkeit“, die ein Notizbucheintrag festhält. Irritiert ist er nur, als sein Flirt mit dem Immoralismus ihm eines Tages zum moralischen Schandfleck wird. Hitlers Machtergreifung mit der Naivität des begeisterten Sportzuschauers begrüßt zu haben, wird seinen Ruf für immer ramponieren. Es war seine größte, eine unverzeihliche Dummheit, und sie machte ihn, für den Rest seiner Tage, angreifbar und verletzlich. Einer, der es wissen mußte, sein langjähriger Korrespondenzpartner F.W. Oelze, spricht von einem fundamentalen Mißverständnis. „Unversöhnlichen Feinden hat es nicht nur zur charakterlichen Diffamierung des Dichters dienen müssen.“

2
Mit seinen Rundfunkreden auf die neue Ordnung hatte Benn gegen den guten demokratischen Geschmack verstoßen. Er hatte aber auch sein Gewissen belastet, als er denen, die zu den ersten Opfern des Regimes gehörten, die Solidarität aufkündigte in seiner spektakulären „Antwort an die literarischen Emigranten“. Dabei war er noch immer der, der er war: ein Dichter der exzessiven Einsamkeit, ein verbaler Hochseilartist. Um so rätselhafter ist sein Rückfall in die Barbarei. Man lese noch einmal diese Feuerpredigten von 1933 und 1934 – unheimlich allein die Titel („Der neue Staat und die Intellektuellen“ oder „Züchtung“), befremdlicher noch ihr antikisierendes Pathos, dies Geraune von Führerbegriff und dorischer Welt. Es ist Leni Riefenstahls Olympia-Film, vorweggenommen in essayistischer Form. Ein Mann steht am Straßenrand und beißt die Zähne zusammen beim Anblick der braunen Bataillone, die durch die Hauptstadt marschieren. Ein Individualist erlebt, schaudernd vor den entfesselten Gewalten, erstmals die Wonnen des Kollektivs.
Man lese dann aber auch, was derselbe unabhängige und keineswegs völkische Beobachter schon wenig später, den eigenen geistigen Absturz mitbedenkend, notierte.

Ein Volk in der Masse ohne bestimmte Form des Geschmacks, im ganzen unberührt von der moralischen und ästhetischen Verfeinerung benachbarter Kulturländer… läßt eine antisemitische Bewegung hoch, die ihm seine niedrigsten Ideale phraseologisch vorzaubert, nämlich Kleinbausiedlungen, darin subventionierten, durch Steuergesetze vergünstigten Geschlechtsverkehr; in der Küche selbstgezogenes Rapsöl, selbstbebrüteten Eierkuchen, Eigengraupen; am Leibe Heimatkurkeln, Gauflanell und als Kunst und Innenleben funkisch gegröhlte Sturmbannlieder.

Hier wird nun endlich Tacheles geredet. Der kalte Ausdrucksfuror, ein Markenzeichen der Bennschen Prosa, richtet sich gegen eine Volksgemeinschaft, die über dem Dichter wie eine Falle zugeschnappt ist. Eine Kultur wird da beschrieben, in der die Blockwarte nachts die Staffeleien kontrollieren, die Gestapo die Ateliers betreut, ein „ästhetisches Sing-Sing“, das „teutonische Kollektiv auf der Grundlage krimineller Sozietät“. Es sind Sätze, die ihren Verfasser den Kopf hätten kosten können, wäre das Konvolut mit der Überschrift „Kunst und Drittes Reich“ in die falschen Hände gefallen. Bemerkenswert früh hat dieser Dichter sich den Ärger von der Seele geschrieben, nicht erst im nachhinein, als es vorbei war und mancher, in weniger scharfer Selbstkritik, nach dem Persilschein schielte. Hier war kein Trost mehr zu haben. Der gefallene Dichter erkannte sehr klar, wo hinein er sich da verrannt hatte.
Denn schnell war der Rausch verflogen: Das moderne Ich zu verleugnen, hatte wenig Anerkennung gebracht, Vorteile keinen. Das geistige Opfer, peinlich genug, hatte ihn nicht davor bewahren können, von den Nazis zum alten Eisen geworfen zu werden. Eine Lyrik wie seine galt selbst als Entartete Kunst, ein Relikt der verachteten Weimarer Zeit. Man hatte keine Verwendung für ihn, und bald wurde es existenzbedrohend. Er gibt seine Praxis als Kassenarzt auf (Haut- und Geschlechtskrankheiten) und nimmt Zuflucht beim Militär, dem er in preußischer Vorzeit seine Ausbildung verdankte, auch den Kriegseinsatz in Brüssel 1914, und dessen Korpsgeist er, als typischer Bürger auf Widerruf, noch immer verbunden ist. Seit April 1935 steht er als Sanitätsoffizier in den Reihen der Wehrmacht. Noch erscheint ein Aufsatzband – Kunst und Macht −, der sein Hin- und Hergerissensein durchblicken läßt, da greift in der SS-Postille Das Schwarze Korps das gesunde Volksempfinden den „Selbsterreger“ an. Ein Anonymus denunziert die kühnen expressionistischen Frühgedichte als „drastische Schweinerei“, ein böswilliger Akademiebruder spekuliert über jüdische Familienhintergründe, der Name Benn kommt ins Gerede bis hinauf zu Heinrich Himmler, der die Kampagne schließlich abblockt. Wenig später wird der Dichter aber dann doch, im Einvernehmen mit dem Propagandaminister Goebbels, aus der Reichsschrifttumskammer (ehemalige Preußische Akademie der Künste, deren Mitglied zu sein er so stolz gewesen war) ausgeschlossen – wegen „Nichteignung zum Schriftsteller“, wie es im neuen Aktendeutsch heißt, Und die Jagd geht weiter. Im Völkischen Beobachter ist von Entgleisungen die Rede, der Autor gilt nun auch offiziell als Ferkel und Pornograph. Solche wie ihn hat man eben noch ins KZ gesteckt oder ins Ausland verjagt. Er kann von Glück sagen, daß man die Causa wegen Geringfügigkeit irgendwann fallenläßt. Fortan herrscht Sendepause, er wird, per Anweisung an alle Presseorgane, literarisch für tot erklärt. Von nun an ist seine Isolation vollkommen, er führt ein Leben unter der Tarnkappe, und dieser Zustand hält an, bis das teutonische Sparta in Schutt und Asche liegt, und noch Jahre darüber hinaus.
Denn der Bann, der auf diesem Werk lag, wirkte fort. Gottfried Benn gehörte zu den zweifach Verdammten. Die alliierten Kontrollbehörden hielten das Publikationsverbot mißtrauisch aufrecht. In der französischen Verwaltung in Süddeutschland saß ein persönlicher Gegner, Alfred Döblin, dreifacher Kollege von einst, den allein schon der Name des dichtenden Arztes in Rage brachte. In der sowjetischen Besatzungszone tauchte Benn auf der Liste der auszusondernden Literatur auf, neben Vertretern von echtem Nazi-Schund. Dabei wird man bei ihm die Blut-und-Boden-Metaphorik, die der Echtermeyer jener Jahre (die maßgebliche Anthologie deutscher Dichtung) reichlich bereithält, vergeblich suchen. Es gibt keine Führerhymnen, kein Besingen des neuen Germanentums, auch nicht die kriegstreiberische, nordische Härte, jene stereotypen Brekerschen Ausdrucksformeln in seiner Rhetorik. Dieser Vertreter einer lyrischen Internationale sendete, wo er heimlich weitersang, wie sein Guru Friedrich Nietzsche, auf südlichen Wallungswellen, mediterranen Frequenzen.

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Und was hat das alles mit den Gedichten in dieser Sammlung zu tun?
So mag ein Lyrikliebhaber sich fragen, und so gingen damals auch die ersten zaghaften Fürsprecher des Dichters an die Sache heran. Hier war einer der Großen der europäischen Poesie, ein Mann, den man getrost neben Paul Valéry und T.S. Eliot stellen konnte – die Quarantäne mußte doch einmal ein Ende haben. Es entwickelte sich eine gewisse Geschäftigkeit um sein verborgenes Werk. Verehrer seiner Verse besuchten ihn in der schäbigen Berliner Wohnung (Praxis im Nebenzimmer), einige schrieben Artikel, andere leisteten Botendienste. Der getreue Oelze sammelte alles an Manuskripten, was ihm der Misanthrop in seiner unverminderten Produktivität zukommen ließ, gab es bei Bedarf wieder her und beriet bei der Auswahl, als es endlich ernst wurde und ein Schweizer Verlag sich zum Abdruck entschied. Radioaktives Material? „… erwarten Sie nicht zuviel davon“, schrieb der literarisch Überlebende an einen der verstummten Weggefährten aus frühen Expressionistentagen, den illustren Geschäftsabenteurer Egmont Seyerlen (dessen Biographie eine deutsche Rimbaud-Karikatur abgeben würde). „Ich persönlich bin z.Z. mehr auf Prosa gestellt u. gestimmt, meine neuen Prosasachen sind entschieden frappanter u. avantgardistischer als die Lyrik. Aber in der Schweiz muss ich mich zunächst etwas als sanfter Heinrich einführen lassen, um nicht sofort Anstoss zu erregen.“ Als er schließlich aus der Versenkung auftaucht, geschieht dies mit einer schmalen Sammlung von 44 Gedichten. Die darin enthaltenen Verse haben alle einen gemeinsamen Nenner, ihr Titel wird zum Programm. Es sollen, geht es nach dem Willen ihres Verfassers, statische Gebilde sein.
Der ausgefuchste Eremit war also keineswegs publikationsmüde geworden, im Gegenteil, er hatte sein Comeback mit der äußersten Umsicht des Reklameprofis vorbereitet. In der Weimarer Zeit war er, wie nur wenige seines Fachs, in Presse und Rundfunk beheimatet gewesen. Statische Gedichte: Es wäre naiv zu glauben, daß ein Titel, der so unüberhörbar programmatisch klang, nicht seine biographischen Aspekte gehabt hätte. Auch Stile haben ihre zeitpolitischen und historischen Hintergründe. In diesem Fall war die Rückkehr zu den gemäßigten Formen, das Wiederanknüpfen an die traditionsreiche vierzeilige Reimstrophe einerseits, das temperierte Parlando der freien, von lauter Apropos gesteuerten Zeilen andererseits, Ausdruck einer Resignation vor dem Gang der Geschichte. Menschheitsgeschichte als Bankrotterklärung – doch diese (nicht weiter wichtig genommene) Einsicht wird nun von einem der Untergegangenen des Abendlandes als gewissermaßen fernöstliche Weisheitslehre verstanden, darin besteht die neue Poetik. Der Dichter erklärt, nach allem, was ihm widerfahren ist, und nach den Schwachheiten, die er selbst sich erlaubt hat, aus den Zeitläufen austreten zu wollen. Er peilt eine überzeitliche Sphäre an, in der die Gegenwartsmomente sich wie Gipfel über Fernen hinweg grüßen. Es ist die konservative Wende im Leben des Gottfried Benn.
Der selbstbewußte Avantgardist läßt sich zurückfallen, er pflegt nun die langen retardierenden Blicke, gibt den Landschaften Raum und Widerhall im Gedicht, den Jahreszeiten und Blumen, den Göttern Griechenlands und selbst der Liebe. Er weiß jetzt alles darüber, keiner macht ihm mehr etwas vor. Gesucht wird, mit jeder aphoristischen Formel, jedem regelmäßigen Reim, der Ruhepol in den wandernden Wortbedeutungen, Betont wird das Dauerhafte, das Wiederkehrende, das scheinbar Unveränderliche. Benns Gedichte des letzten Lebensdrittels sind Seelenbalsam für die von Krieg und technischem Fortschritt Gebeutelten, die Gescheiterten und Enttäuschten der Massenkultur. Ihnen ruft er seine Lehre vom amor fati zu, sein Keiner weine, sein Erkenne die Lage. Immer öfter kommt er, in Brief und Prosa, auf den späten Goethe zu sprechen, auf Hamsun und Pascal, auf Nietzsche, den heroischen Untergeher. Menschliche Größe zeigt sich ihm nun im Dulden und Überstehen.
Der Vers operiert dabei endgültig im Modus des Monologs, auch dort, wo ein Du angesprochen wird. Das Ich schottet sich ab gegen die Welt und ihre Zumutungen. Das Gedicht ist zum Rettungsanker der Psyche geworden, ein leiser Triumph der Meditation, in dem mancher Leser, auf den Trümmern der eigenen Existenz, sich privat angesprochen und erbaut fühlen durfte. Antidynamisch ist seine Struktur. Der Magier setzt sie bewußt gegen allerlei neue, jenseits der Sprachgrenzen aufkommende Trends moderner Lyrik. Die Herren Pound, T.S. Eliot, Auden, Saint-John Perse – er wird ihre Werke alle erst nach dem Krieg kennenlernen. Die Experimente laufen anderswo ab, so in Paris bei den Surrealisten (deren Wirken er ebenso registriert hat wie das der Futuristen in den Jahren der Formation), so in Amerika, England und Spanien mit Imagismus und Hermetismus. Er hat sich nun zurückgezogen von der weiteren Formentwicklung, schon aus Mangel an Information. Ferne zu den aktiven Zirkeln, ihren Magazinen, Anthologien, Autorenabenden. Auch aus Trotz: Statische Gedichte schreibt, wer dazu verurteilt ist, für die Schublade zu produzieren, ohne Hoffnung, jemals wieder erhört zu werden. Auch seine Maximen vom verborgenen Leben, augenzwinkernd die Ideale der griechischen Stoiker imitierend, sind Konsequenz dieses Kaltgestelltseins, nur daß der moderne Epikuräer im totalen Staat sich nicht in Palmengärten und Orangenhainen erging, sondern gezwungen war, in der Uniform unterzutauchen, unterm militärische Tarnnetz, sein Bier in Hinterzimmern zu trinken, Mimikry in der Masse zu treiben. Statische Gedichte schreibt, wer alles künstlerische Rampendasein aufgeben mußte, die Varietes und die Cafés des Westens. Die revolutionären Zeiten im Asphaltdschungel der zwanziger Jahre lagen hinter ihm, von nun an wird er als soignierter Herr eine Nischenexistenz führen.

Der Autor hat das Dilemma seiner Lage sehr bald erkannt. Nicht ohne Selbstironie vermerkt er die müde Altersmilde, die sich da in den Vers eingeschlichen hat. Das Marktschreierische der expressiven Punk-Phase war verschwunden, mit ihm waren aber auch die raffinierten Dissonanzen dahin, die Wort-Ungetüme, das ganze synästhetische Feuerwerk des Mediziner-Mephisto und Drogenexperten Dr. Benn. Die Stimme ist nun herabgedimmt auf Wohnzimmerlautstärke. Da sitzt einer bei der Lampe auf dem Sofa und beginnt, das Menschenleben zu resümieren. Einer der traurigsten Oelze-Briefe (vom 24. Januar 1936) hält die Verwandlung fest. „Unendliche Scham über meinen Abstieg und zu langes Leben, Über-leben, unendliche Trauer über den Verrat, den ich an mir zu begehn plante, warf mich um.“ Er hat noch einmal in den Gesammelten Gedichten (Ausgabe von 1927) geblättert, und bestürzt muß er feststellen, auf welchem Tiefpunkt er angelangt ist.

Was für eine ungeheure Fraglosigkeit eigenen Seins, eigener Wurzeln, eigener Früchte; Sicherheit ohne zu zaudern, vielfach: ohne zu wissen; Greifen und Finden, Sehn u. Ausdruck finden ganz für sich allein, in seine eigene, noch nie erschienene, von niemandem geteilte Welt. […] „Plakat“. „Instrument“. „Psychiater“, wie bin ich bloß auf so unglaubliche Vergleiche, Worte, Zusammenstellungen, Erlebnisse gekommen, wie beweglich muss noch alles in mir gewesen sein…

Nun aber ist er unter die Statiker gegangen, man könnte auch sagen, er hat sich ausbalanciert, das nervöse Gehirn ist zur Ruhe gekommen. Er hat den Zustand endgültiger geistiger Autonomie erreicht. Wenn die Einteilung im Fall eines Dichters, in dessen Werk die Motive wie Webmuster wiederkehren, überhaupt statthaft ist, dann hatte hier die lyrische Spätphase begonnen. Und gerade die wohltemperierten, elegischen Verse waren es, die seine Popularität begründen sollten. Ein kleines Wunder geschah: der verstockte Solitär traf auf eine Leserschaft, viele von ihnen Mitläufer von gestern, die sich nun an den Reimereien des Unpolitischen wie an Schlagermelodien berauschte. Die süßen Bitterkeiten des von der Geschichte Enttäuschten versprachen Labung für Gemüter, denen es ähnlich ergangen war und die nun getrost ihren neuen Geschäften nachgehen konnten. Mit den Statischen Gedichten und allem, was ihnen noch folgte, war er beim großen Publikum angekommen.

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Die Wandlung läßt sich einigermaßen genau datieren. Im Roman des Phänotyp findet sich unter der Zwischenüberschrift Zusammenfassung eine Beschreibung der persönlichen Umstände, unter denen die Umkehr sich vollzog. Der Autor war als Militärarzt für eine Reihe von Monaten „in einer östlichen Kaserne“ stationiert, Landsberg der Ort, im damaligen Warthegau, polnischer Korridor, und während die Ostfront zurückrollt und im Westen die Alliierten Boden gewinnen, fließt das Leben auf der burgartigen Feste beschaulich dahin, mit den Reihenuntersuchungen der Rekruten und den Exerzierübungen vor dem Fenster von Block II, Zimmer 66. Hier nun werden die Bestände gesichtet, der Dichter wagt sich an ein Fazit des Lebens. „Das Alter nahte ihm, die Tage des Überblickens, die Stunde der Gewißheit, daß niemand mehr kommen würde, zu deuten und zu raten, nichts mehr, etwas aufzuklären, das man nicht selbst erklärte.“ Und weiter: „Etwas Stillstehendes trat in ihn ein, trat hervor, da es wahrscheinlich immer da war, ein unsichtbarer, mit Namen nicht zu nennender Gott, der zu den Ländlichen gehörte…“ Dieser Gott ist der Gott der Statik, wahlweise auch Stundengott genannt. In seiner Nähe vollzieht sich die Einkehr ins Gehäuse der Melancholie. Unter seiner Ägide geht es hinab in die Schattenreiche und hinein in die Blütenkelche, hinüber in den Mittelmeerraum und an die Nietzsche-Gedächtnisorte Turin und Sils-Maria, und zurück, wieder zurück zu den Feldersommern der Kindheit, einer Kindheit auf dem pommerschen Lande. Zum Dienst an dieser Gottheit bedarf es der äußersten Zurückgezogenheit – Benn hat alle Verbindungen zur Kunstwelt abgebrochen, lebt nun auch weitgehend monogam. Und zur Andacht gehört auch das Stillhalten inmitten der Strömung, nach Art der Reiher, die Bilder an sich vorüberziehen lassen, bis der Moment zum Zupacken da ist. Denn es kommt nun durchaus auf den richtigen Augenblick an, um aus der Dauer (Bergsons durée) Bruchstücke einer Gesamtvision zu schöpfen. Was ist das einzelne Wort – für Benn zentral: das Substantiv – in einer solchen Poetik? Wir erfahren es in dem gleichnamigen Gedicht, das in der Mitte des Bandes Auskunft gibt über die angewandte Methode:

Ein Wort – ein Glanz, ein Flug, ein Feuer,
ein Flammenwurf, ein Sternenstrich −
und wieder Dunkel, ungeheuer,
im leeren Raum um Welt und Ich.

Drei Jahre nach Kriegsende wird das Geschäft also wieder angekurbelt. Auf Vermittlung Erhard Hürschs, eines Winterthurer Journalisten, ist die Sache ins Rollen gekommen. Er ist es, der von der Militärverwaltung eine Reiseerlaubnis erhält, in Hamburg zufällig die Tochter des Dichters trifft, Nele Sörensen, eine Kriegskorrespondentin in dänischer Uniform, von ihr Adresse und Telephonnummer des Vaters erhält – kurz darauf saß er in Benns Wohnung, Bozener Straße, im Westsektor Berlins. Er war es auch, der sich bei Aushändigung der Transitpapiere von Alfred Döblin, der als französischer Presseoffizier in Baden-Baden Dienst tat, anraunzen lassen mußte: „Wie können Sie einen Nazi besuchen?“ Dank Hürschs Überredungskünsten und seinen Vollmachten war man schnell handelseinig. Er übernahm die Kurierfahrten, brachte die Manuskripte nach Zürich und das fertige Buch, das nach einigem Hin und Her mit dem Verleger und Abstrichen auf seiten des Autors zügig zustande kam, zuletzt nach Berlin.
Es war, abgesehen von einem stillen Privatdruck der Statischen Gedichte 1946, die erste reguläre Gedichtsammlung seit zwölf Jahren. Auf der Rückseite des Titelblatts fand sich der Eintrag: „Diese Gedichte sind fast ausnahmslos in den Jahren 1937-1947 entstanden“. Datierungen sind immer Indizien, sie verraten manches über die Buchführung des Dichters, seine Einstellung zum Entstehungsmoment, Spuren werden verwischt oder aufbewahrt. So stammt das älteste Gedicht der Sammlung aus dem Jahr 1927; es steht, sicher nicht zufällig, unter der Überschrift „Liebe“. Der alte Vogelfänger hatte die Netze möglichst weit aufspannen wollen. Im Jahr zuvor erst hatte er sich zum dritten Mal verheiratet. Diesmal war es eine Kollegin mit zahnärztlicher Praxis ganz in der Nähe, die sehr viel jüngere Dr. Ilse Kaul. Man bildet bald eine Praxisgemeinschaft, wie es sie heute vielfach noch dort in Berlins Bayerischem Viertel gibt. Im März des darauffolgenden Jahres erscheint der Band dann auch, leicht verändert, in einer deutschen Lizenzausgabe, bei Limes in Wiesbaden.

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Er beginnt mit der Silbe „Ach“ und endet mit einer Einflüsterung: „du weißt – für wen“. Ein Stoßseufzer lädt den Leser ein, mitzureisen in das „Ferne Land“, mit dem die Herkunft gemeint ist, das verlorene Ufer der Kindheit. Dahinter erheben sich schon die Hügel mit den Gräbern der großen Idole des Jahrhunderts – heute sind es Hollywood und die „Hall of Fame“ für die Stars der Popmusik, damals war es „zum Beispiel Asolo, wo die Duse ruht“. So geht es fort mit einem Portrait Frédéric Chopins, Liebling der Konzertsäle, Fixstern im Repertoire über die Zeiten hinweg, zwar „schwacher Liebhaber“ (im Gegensatz zum Verfasser), „nie eine Oper komponiert / keine Symphonie“ (auch dessen Sache waren bekanntlich eher Etüden, Nocturnes, Impromptus, Stücke träumerischen und elegischen Charakters), „Ansichten waren nicht seine Stärke“ (was, Benn für seine Person scharf hätte zurückweisen müssen), eine Portrait also, geschrieben nicht ohne autobiographisches Kalkül.

„Orpheus’ Tod“ ist die Geheimbotschaft, die nur der biographisch Eingeweihte ganz verstehen kann, das persönlichste Gedicht des Bandes. Geschrieben wurde es nach dem tragischen Selbstmord der vorletzten Ehefrau Herta Benn, geb. von Wedemeyer, die sich aus Furcht vor den heranrückenden russischen Truppen 1945 in einem Dorf an der Elbe das Leben genommen hatte. Wahrhaftige, tiefempfundene Trauer spricht aus den Zeilen. Ein kundiger Spurensucher und Kulturdiagnostiker wie Klaus Theweleit gewinnt ihr ein ganzes Buchprojekt ab, in dessen Zentrum, Gottfried Benn exemplarisch als der durch Schrift Überlebende aufersteht, einer der wenigen Modernen, denen glaubhaft gelang, den Verlust einer Eurydike zu beklagen. „Wie du mich zurückläßt, Liebste –“, so beginnt es, dann sträubt das Gedächtnis sich, bäumt sich auf gegen die allgemeine Unfähigkeit zu trauern, wie es später, rückblickend auf diese Zeit, im Psychoanalytikerjargon heißen sollte. „Nein, du sollst nicht verrinnen“, verspricht das Gedicht, datiert auf den 11. August 1946, und labt sich doch an dem Eingeständnis:

Drei Jahre schon im Nordsturm!
An Totes zu denken, ist süß…

Es folgen Stücke, die, wieder nüchtern, und so für Kenner dieser ausgeglühten Materie Poesie aufregend, Titel tragen wie „Verse“, „Gedichte“ und „Bilder“. „Am Saum des nordischen Meers“, 1930 komponiert, zunächst vierstrophig, die erste Strophe wird 1933 hinzugefügt, gibt einen Bericht vom Lebensstandard der dänischen Tochter und des Schwiegersohnes in ihrem Landhaus am Oeresund. Ein Gesangsabend hatte stattgefunden, eine Schubertsche Litaney erklingt, man war noch einmal in freier Runde, sehr international, am Bechstein-FIügel zusammengekommen, zu Hause blühte schon der Hitlerirrsinn und die Chance auf den eigenen, folgenreichen Fehltritt – seinen Weltanschauungsunfall, wie einer der ersten Rezensenten nach dem Krieg schreiben sollte. Benn hatte immer von den mondänen Sphären geträumt – und war dann doch lieber hinterm heimischen Ofen geblieben (es waren auch Neid und soziales Ressentiment des Geringerverdienenden, die ihm den Abschiedsbrief an die literarischen Emigranten diktierten: Er sah nur die Villenbesitzer nicht die staatenlosen Clochards, die sich nicht an der Côte d’Azur, sondern schon bald in den Auffanglagern sammelten).
„V. Jahrhundert“ peilt noch einmal zurück in jene dorische Welt, die ihm so viel bedeutete, daß er mit ihr alle weither geholten, auch die fatalsten Assoziationen verbinden konnte. Danach geht es abermals um „Alle die Gräber“, das Leitmotiv wird wieder aufgenommen, abermals taucht ein Höhenzug auf, „In Memoriam Höhe 317“. Letzteres war ursprünglich mit einer Widmung versehen, die dann gestrichen wurde: „in Erinnerung an einen armseligen kleinen gefallenen Bruder von mir, der als kommender Fußsoldat in einem Massengrab auf den galizischen Höhenzügen liegt“. Benn hat dessen Portrait in einem der Oelze-Briefe für die Nachwelt festgehalten, in seiner unbestechlich klaren, schmerzhaften Notationsart: „Grauer Sonntag, – Allerheiligen, 1915, traf ich mich zum letzten Mal mit einem kleinen Bruder von mir in Brügge, ich kam von Brüssel, er aus der Flandernfront: Kriegsfreiwilliger, 140 Schlachten u. Gefechte, darunter Langemarck, die Yserkämpfe, 22 Jahre, stiller Junge, schwarz, sehr französisch aussehend, weder E.K. noch Unteroffizier geworden, zu einfach, bescheiden; sass mit mir in einem verdunkelten Café, schweigsam; hoffnungslos, vertiert, sämtliche Kameraden von 1914 tot, kein Tag Urlaub bisher, von einer unsäglichen Traurigkeit wir beide. Kurz darauf kam er nach Galizien u. fiel auf ,Höhe 317‘“ (Brief vom 1. November 1936). Und wieder geht es um Gärten und Nächte, späte Blicke, um, „Abschied“ und um das „Leben – niederer Wahn“.

Doch man selbst war durchaus noch lebendig und erotisch aktiv. Schon das zweite Gedicht hatte im Liebeswerben seine Funktion zu erfüllen gehabt. Ausgerechnet „Quartär“, mit einem Signalwort aus frühen Tagen, später zum dreiteiligen Zyklus ausgebaut, ist die Zugabe, mit der er einen der Liebesbriefe an die Zukünftige würzt. Er bringt ihr darin sein besonderes orphisches Vokabular nahe, wie ein Parfüm-Designer seine Duftkreation, versucht ihr die Scheu vor der Intelligenzbestie zu nehmen. Ob das gelang? In geologisch so weiten Zeiträumen zu denken, gar ihr baldiges Ende vorauszusagen, verriet eine gewisse Ungeduld. In einer Fußnote erklärt er der Geliebten, wer Ptolemäus war, und erläutert, mit sicherem Sinn für das Groteske, die verwendeten Fremdworte, „Qartär: unser Erdzeitalter, der Mensch, ohne Haarkleid, mit Technik, der Nach=affe – jetzt vorbei u. zu Ende…“. Auch dies konnte Benn sein, der Dichter als Moderator seiner selbst, der den Damen im Onkel-Ton die Komplexität von Weltall, Erde, Mensch nahe bringt.
Einige der berühmtesten Stücke finden sich in der Auswahl, allesamt künftige Ohrwürmer, der volle Benn-Sound, darunter „Einsamer nie –„ oder „Tag, der den Sommer endet“, „Welle der Nacht“ und „Astern“. Das letzte darf, nicht nur der Schlußstrophe wegen, der ein langes Nachleben sicher ist, in vieler Hinsicht als Musterexemplar gelten.

noch einmal ein Vermuten,
wo längst Gewißheit wacht:
die Schwalben streifen die Fluten
und trinken Fahrt und Nacht.

Es sind nur vier Zeilen, das Metrum beinah leiernd, dreihebig, jambisch, daktylisch, doch in ihnen spielt sich auf engstem Raum ein ganzer Lebensroman im Zeitraffer ab. Erwartung und Desillusion sind nun eng aneinandergerückt. Der Sprecher ist, nach einer zerebralen Weltumsegelung sondergleichen, drauf und dran, sich selbst zu rammen, es bleibt ihm nurmehr das Augenschließen, um in einem erhabenen Naturbild (das aus der Odyssee stammen könnte) Halt zu finden beim Gedanken an das finale Debakel. Etwas Beruhigendes geht von diesen Schwalben aus, die in der Dämmerung die Wasseroberfläche streifen (mit einem eigentümlich schrillen Laut übrigens). In ihnen lebt ein Rest Ungewißheit, Abenteuer, ozeanischer Eroberergeist fort, auch wenn die eigenen Erdentage schon in ein dumpfes Gleichgewichtsacker. Benn hatte das Gedicht, auf die Rückseite einer Speisekarte der Stadthalle Hannover getippt, bereits am 3. September 1935 an Friedrich Oelze geschickt: Demselben Blatt aufgeklebt war ein Photo, das den Autor als jungen Mann in Uniform zeigte, mit einem Bleistift in der Rechten, den Fuß locker auf einen Stuhl gestellt, vor ihm an der Wand eine Landkarte. Die Aufnahme stammte aus seiner Militärzeit, Erster Weltkrieg, in Belgien, wo er als Arzt in einem Prostituiertenkrankenhaus Dienst tat, dazu der Text: „Der Autor in den Rönnejahren 15/16 in Brüssel“, gemeint war sein Alter ego als Novellenerzähler, Werff Rönne, der Held der Sammlung Gehirne. Vier Zeilen, mit denen ein Blumengedicht schließt, eines von vielen der späten Jahre, in denen Florales zum Leitmotiv wird. Es sind nicht die ersten Astern im Werk. Was für ein weiter Weg von den bösen Blumen des Morgue-Zyklus, in denen erstmals eine kleine Aster auftaucht, zwischen die Zähne einer Bierfahrerleiche geklemmt. Nur vier Zeilen, aber in ihnen stecken Wandlung und Einkehr eines der dienstältesten Dichter seiner Generation. Benn sah sich selbst als Überlebenden des Expressionismus („Trakl, Heym, Werfel, Hasenclever, van Hoddis, Else Lasker-Schüler sind tot, allein Joh. R. Becher lebt, aber ist andere Wege gegangen“). Er verstand seine Anti-Karriere als einen Prozeß der inneren Klärung.
So lesen sich viele Gedichte auch als Selbstportraits einer Psyche. Und nirgends ist diese so greifbar wie in ihren hervortretenden Stimmungen. In diese Gruppe gehören Stücke wie „Unanwendbar“, „Ein später Blick“, „Wenn etwas leicht“. Das radikalste dieser mentalen Selbstportraits, geradezu ein Steckbrief aus Gedankensplittern, ist „verlorenes Ich“. Es enthält in nuce Benns geschichts- und naturwissenschaftspessimistisches Fazit. Das Arbeitsheft zeigt hier besonders intensive Bearbeitungsspuren. Wie immer wirft Benn zunächst ein paar lose Zeilen und büschelweise Reimwörter aufs Papier. Die geliebten Substantive und schwerlastigen Komposita sind immer zuerst da, dann wird über Tage, manchmal Wochen hinweg in kubistischer Manier gepuzzelt; bis alle Elemente in das vorgegebene Leinwandformat passen. Ein einziger Vierzeiler enthält mitunter den ganzen Gedanken, dem die übrigen Strophen variierend Tiefenwirkung verschaffen.

Verlorenes Ich, zersprengt von Stratosphären,
Opfer des Ion −: Gamma-Strahlen-Lamm −
Teilchen und Feld −: Unendlichkeitschimären
auf deinem grauen Stein von Notre-Dame.

Statische Gedichte ist auch der erste Band, in dem der Dichter den Registerwechsel erprobt. Was in den Sammlungen der fünfziger Jahre „Fragmente“, „Destillationen“ und „Aprèslude“) nachher Routine wird – das zwanglose Alternieren von freiem Vers und streng gereimtem Strophengedicht, wird hier erstmals vorgeführt. Gleich das Eröffnungsstück wagt sich damit hinaus. Dem folgen, in gemessenen Abständen, „Chopin“, „September“, „Nachzeichnung“, „St. Petersburg – Mitte des Jahrhunderts“ und zuletzt das Titelgedicht, das als Schlußlicht definitorischen Charakter beansprucht. Bemerkenswerterweise war es der Verleger, der Gedichte dieser Bauart aussortierte, darunter auch spätere Hits wie „Gewisse Lebensabende“, „1886“ oder „Clemenceau“. Letzteres wurde so tief versenkt, daß es erst postum wieder zum Vorschein kam. Das Neue an den Stücken war ihr demonstrativer Montagecharakter. Die meisten von ihnen waren aus Zitaten zusammengeklebt, oft nur spärlich als reine Exzerpte kaschiert, Auszüge aus Sachbüchern, Memoirenliteratur, Nachschlagewerken zur Weltgeschichte, Offenbar gingen die Meinungen über den künstlerischen Wert dieser Gebilde damals weit auseinander. Handelte es sich um reine Improvisation, Spiel mit der linken Hand? Und warum nicht? Es scheint, als sei Benn hier dem Zeitgeschmack, wie in seinen Anfangsjahren, wieder um Längen voraus gewesen. Wie das Parlandogedicht, oft mit zeitdiagnostischem Inhalt, bei der jungen Garde dann zur Pflichtübung wurde, kann man bei Enzensberger und Rühmkorf nachlesen. Beide haben sich von dem alten Vampir Gottfried Benn gehörig distanziert und sind doch gelegentlich bei ihm in die Schule gegangen.
„St. Petersburg“, 1943 bei der Lektüre von Dostojewskis Schuld und Sühne entstanden, ist das Produkt einer solchen Materialübernahme. Einzelstudien konnten zeigen, wie Benn aus verschiedenen Büchern zum Thema mitunter wörtlich kompilierte, die Technik der Zitatmontage war lange trainiert, sie findet sich ausgeprägt bereits in der früheren Essayistik. In einer kurzen Szenenfolge wird die Kultur des Zarenreiches skizziert; mit den Namen Raskolnikow, Puschkin, Glinka hat die russische Seele ihren Auftritt. Wie so oft kreist die Phantasie, im Stil einer Kinowochenschau, um die erhabenen Momente, gern wird das Ganze auch unter einen Refrain gestellt, so wie hier: „Jeder, der einen anderen tröstet / ist Christi Mund –“. Gedichte wie diese sorgen, mit ihren abwechselnd kurzen, dann überlangen Zeilen, für die graphische Belebung der Seite, bevor der Blick nach dem Umblättern sich auf den nächsten Vierzeiler einstellt. Gerade die Bandbreite des Ausdrucks war es, der Wechsel der Rhythmen und Sprechweisen, was diese statischen Gedichte vor der Erstarrung bewahrte, Dabei ist Formkalkül ihr beherrschender Eindruck. Hier war einer am Kreuzungspunkt vieler Entwicklungsreihen angelangt. Jedes Gedicht ein Fazit, alles letzte Worte, elegische Blicke von der Plattform des einen Waggons am Zugende.

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Was aber ist nun das Statische an diesen Gedichten? Der Autor selbst spricht von einer neuen formalen Methode, die andererseits älteste Tradition war, ein Brückenschlag über Epochen. Benn liebte es, seine Leser – und mit ihnen die spätere Forscherzunft – in Form poetologischer Selbstauskünfte zu mystifizieren. Immer neue Abrakadabra-Formeln zog der Zauberkünstler aus seinem Zylinder. Einmal ist vom halluzinatorisch-konstruktiven Stil die Rede. Ein andermal vom Weltbild des Ptolemäus, das bei ihm wieder zum Tragen komme. Das konnte nur heißen: Für dieses logozentrische lyrische Ich war die Erde gleichsam immer noch eine Scheibe. Wozu hinaussehen über die Säulen des Herakles, sprich: den Tellerrand, wenn jedes Menschen Wirkungskreis lebensweltlich doch eng gezogen blieb? „Ich drehe eine Scheibe und werde gedreht, ich bin Ptolemäer“, schreibt er in dem gleichnamigen Prosastück von 1947.
Einmal wird das Schlagwort „Phase II“ in die Runde geworfen, mit der Miene des Stilgeschichtlers, der einem Werk die Entwicklungsstufen abliest. Phase II, das hieß dann: „nicht mehr räumlich-zeitlich empfunden u. dargestellt, sondern statuarisch, unentwickelbar, wirkungslos zusammengesetzt aus Redensarten, Floskeln, Erinnerungsrudimenten“. Die Arbeitsweise ist damit klar umrissen. So sind vor allem die nichtlyrischen Stücke der letzten Jahre komponiert: als absolute Prosa. Was aber besagt in diesem Zusammenhang die funkelnde Formulierung: „stramm eingefaßt wie ein byzantinisches Mosaik“? War sie auf den neuen Typus, die statischen Verse gemünzt?
Das Material sollte nun in sich ruhen, von aller Dynamik entbunden – daher die reduzierte Grammatik, die stark gebändigten Verben. Es galt, die Begriffe abzuarbeiten, sie einzuschmelzen im Fluß der poetischen Bilder. Was im Werden verging, was erlebt und erfahren wurde, ist zuletzt nur von Wert, wenn es der Anschauung zugeführt und von ihr mit interesselosem Wohlgefallen bedacht wird. Man meint, aus alldem ein spätes Echo herauszuhören – eines der originellsten auf eine Theorie vom Jahrhundertanfang, die damals hohe Wellen schlug unter den Künstlern: Bergsons Lehre von der Dauer (durée). Die Entsprechungen sind mannigfaltig und unübersehbar, wobei der Zeitbegriff des französischen Philosophen gerade kein statischer war, sondern ein fortwährendes Anderswerden beschrieb, durch Kultur und Geschichte hindurch, die irreversiblen Wandlungen belebter Materie. Auf die Künste bezogen (und das galt für Malerei, Poesie, Photographie gleichermaßen), folgte daraus laut Bergson:

Kein Bild kann die Intuition der Dauer ersetzen, aber viele verschiedene Bilder, die ganz verschiedenen Kategorien von Gegenständen entnommen sein mögen, können zusammenwirken und das Bewußtsein genau auf jenen Punkt hinlenken, wo eine Intuition faßbar wird.

Auch Benn, der Vitalist und erklärte Erotiker, betont das Organische, durch das seine Ausdruckswelt ihre Konturen gewinnt – und keineswegs als Ergebnis von Stagnation. Es geschieht dies nach dem Rankengesetz, der Terminus stammt aus der Pflanzenkunde. Das Titelgedicht des Bandes läßt sich als Versuch einer Bennsehen Poetik lesen: endgültige Positionsbestimmung, Perspektivismus, das sperrige Schlüsselwort, das allein eine ganze Zeile beansprucht, ist seine Antwort auf die Bergsonsche Frage nach der Intuition der Dauer. Sie liegt im gewählten Betrachterstandpunkt, in der Summe der erfüllten Lebensaugenblicke eines einzelnen, reflektierten Menschen.

Perspektivismus
Ist ein anderes Wort für seine Statik:
Linien anlegen,
sie weiterführen
nach Rankengesetz −
Ranken sprühen −,

Nüchterner heißt es dazu in einem Brief an Oelze (3. November 1943): „Aber in mir ist eine Wiederkehr dieser Zwänge zum Statischen u. Affektlosen, zur Form, und da gibt es für mich keine Rettung mehr.“
Geschrieben wurde das Gedicht in jener Kaserne in Landsberg, in der Benn, nach eigener Auskunft, die glücklichste Zeit seines Lebens verbrachte, an der Seite einer sehr jungen, sanften und dienstbaren Frau. Dann kamen der Rückzug, Flucht vor der russischen Offensive, auf vereisten Chausseen westwärts, ins zerbombte Berlin – und der Untergang jener Ordnung, die nachher keiner mehr gewählt haben wollte. Von nun an konnten die Elegien gedeihen. Nach den Statischen Gedichten wird der Ton hemmungslos schwärmerisch. Der Freund der Substantive geht unter die Schlagertexter, schreibt seine Rosenmelodien, besingt die Gladiolen.
Was war gemeint, als der dankbare Oelze nach dem Tod des Brieffreundes bemerkte, Benn habe zu den letzten gehört, „in deren Dichtung noch der menschliche Ton mitschwingt“? Ist da etwas, das wir Heutigen, der Verluste überdrüssig, anders beurteilen und mit neuen Augen vielleicht erstmals wieder zu schätzen wissen? Einen Dichter liest man am besten Zeile für Zeile und fängt, gegen den Sog der Verführung, geduldig immer wieder von vorn an. Es gibt nicht viele Gedichte aus jenem Jahrhundert der großen Umwälzungen und der politischen Irrtümer, die so seelenruhig weiterleben, souverän gegen ihr Abgenutztsein und den locker sitzenden Vorwurf des Kitschs. Benns Verse sind etwas für die an den Metaphernmeeren Gestrandeten, für all jene, die aus dem Schiffbruch der Imagination neue Kräfte gewinnen. Für sie gilt ein Wort von Henri Matisse:

Ich träume von einer Kunst des Gleichgewichts, der Reinheit, der Ruhe, ohne beunruhigende und sich aufdrängende Gegenstände, von einer Kunst, die für jeden Geistesarbeiter, für den Geschäftsmann so gut wie für den Literaten ein Beruhigungsmittel ist, eine Erholung für das Gehirn, so etwas wie ein guter Lehnstuhl, in dem man sich von physischen Anstrengungen erholen kann.

Durs Grünbein, Vorwort

 

Den Statischen Gedichten

ist der Wiederaufstieg Gottfried Benns in die Sphären literarischer Anerkennung sowie sein internationaler Ruhm zu verdanken. Nach dem Zweiten Weltkrieg und einer Phase des Schreibverbots führte deren Erstveröffentlichung 1984 zum Combeack des Dichters. Über den zwischen 1937 und 1947 entstandenen Gedichten liegt ein Hauch des Elegischen, der Sehnsucht nach dem Süden. Gleich der Kraft eines „statischen Gebildes“ wird die Kunst in ihrer „absoluten Form“ zum Bennschen Zeichen der Überdauerung, der außerzeitlichen Wirlichkeit.

Klett-Cotta, Klappentext, 2011

 

Mythische Welt

− Neue Lyrik von Gottfried Benn. −

Statische Gedichte nennt Gottfried Benn einen neuen Gedichtband, der soeben im Arche-Verlag, Zürich, erschien, und dessen Lizenzausgabe für die Westzonen der Limes-Verlag, Wiesbaden, vorbereitet. In diesem Titel spricht sich eine programmatische Abkehr von dem exaltierten Dynamismus der jüngsten Geschichtsepoche aus. Die Gedichte sind in diesem Zeitraum entstanden, in den zwölf Jahren nach 1936, in denen Benn nur noch für den Schreibtisch produzieren konnte. Sie sind völlig unberührt geblieben von den Zukunftsräuschen jener staatlich organisierten Weltenwende. „Entwicklungsfremdheit ist die Tiefe des Weisen“, bekennt der heute Zweiundsechzigjährige seinen eigenen Standort. Was André Gide beim Wiederlesen seiner Tagebücher von 1939 bis 1942 notiert hat:

Die einzigen Seiten, die mir Aufmerksamkeit zu verdienen scheinen, und denen ich mich noch verbunden fühle, sind diejenigen, die ohne direkte Beziehung zu den Ereignissen sind, und die ich, so scheint mir, zu jeder anderen Zeit ebenso geschrieben hätte

− das hätte auch Benn von sich sagen können. Seine Art, von den Zeitereignissen nicht Notiz zu nehmen und unbeirrt von dem welthistorischen Getöse seiner persönlichen Ananke, seinem tieferen Welterleiden zu folgen, ist von einer imponierenden Souveränität. Man spürt darin wirkliche Größe. Denn diese Distanzierung von den Tagesparolen, dem Massenverschleiß an Morgenröten und Glücksausblicken eines säkularisierten Chiliasmus darf keineswegs als Rückzug in irgendeine Art von Elfenbeinturm mißverstanden werden. Es ist keine Flucht aus der Zeit, kein bequemer Pfad in eine behütete romantische Abgeschiedenheit. Es ist im Gegenteil ein Aufstieg zu eisigen Höhen, von denen das historische Gelände in viel weiteren Entfernungen, in Jahrtausendräumen und Erdzeitaltern überblickbar und erlebbar wird. Benn weicht dabei dem Schicksal der Gegenwart keineswegs aus. Er holt es nur in einer tieferen und umfangenderen Schicht vor seinen Blick. Was er dort sieht, ist nicht Politik und Geschichte, sondern Mythos und Anthropologie.
Man wohnt hier dem Aufschwung in eine gestillte und geklärte Welt des Geistes und des dichterischen Ausdrucks bei, die selbstgewiß als von höherer Ordnung und bleibenderem Werte erlebt wird als der Lärm und Qualm der Geschichte. Die Antithese von Geist und Leben, von Kunst und Macht, ist der dissonante Grundakkord dieser Gedichte, und immer ist der Geist, ist die Kunst die ruhende Dominante.
Die Kunst, die Dichtung selber, „das Selbstgespräch des Leides und der Nacht“, wird hier immer wieder zum Gegenstand des Gedichts, Benn ist Dichter aus Notwendigkeit und innerem Zwang. Nur in der halluzinativen Beschwörung des Worts wird er seiner selber inne, vermählt sich die Welt seinem Ich. Alle Kraft der Weltliebe, unter Opfer und Entsagung vom Leben abgezogen, ist hier in die Sprache eingegangen, wird in der Sprache gezeugte Gestalt. Ein leidenschaftlicher, übermächtiger Wunsch nach rauschhafter Einswerdung mit der Welt sieht sich in diesem Geist mit zwingender Ausschließlichkeit auf den Ausdruck im Wort verwiesen. Es ist nicht besser zu sagen, als er es mit dem Gedicht „Ein Wort“ in zwei Versen selber gesagt hat:

Ein Wort, ein Satz −: aus Chiffren steigen
erkanntes Leben, jäher Sinn,
die Sonne steht, die Sphären schweigen,
und alles ballt sich zu ihm hin.

Ein Wort −, ein Glanz, ein Flug, ein Feuer,
ein Flammenwurf, ein Sternenstrich −,
und wieder Dunkel, ungeheuer,
im leeren Raum um Welt und Ich.

Diese Wortverschworenheit des Erlebens gibt den Bennschen Gedichten die faszinierende Leuchtkraft und die hohe Objektivität einer neuen, für sich selbst bestehenden Realität. Für einen solchen Geist gewinnt die Welt ausschließlich als ästhetisches Phänomen Wert und Gewicht, und von hier aus empfängt auch das Sein den Grad seiner Heiligung. In diesem entsagungsvollen Dienst an der Schönheit liegen Würde und Weihe, Strenge und Ernst des Ringens um ein Fragment der göttlichen Vollkommenheit.
Ein schmaler Band: nur 44 Gedichte. Gleichwohl empfängt man den Eindruck einer unabmeßbaren Fülle, eines großartigen Reichtums. Während die moderne Lyrik immer mehr ins Abstrakte geht und immer ärmer an Bildkraft wird, sieht man sich hier einem unausschöpfbaren Strom von halluzinativen Bildern, magischen Traumgesichten, kühnen und treffenden Metaphern gegenüber. Jeder Vers ist wie in Marmor gemeißelt, schimmernd in einem kalten und klaren Licht. Es ist ein Spiel mit Möglichkeiten des Ausdrucks, sehr ähnlich dem, das Picasso übt. Es ist die Vollendung des Expressionismus, der man hier begegnet, seine Klassizität, seine letzte geläuterte Erfüllung.

Frank Maraun, Schwäbische Tagblatt, 12.1.1949
(Rezension zur Erstausgabe)

Statische Gedichte

Gottfried Benn, derzeit als praktizierender Arzt in Berlin lebend, legt in diesem Band seine in den Jahren 1937-1947 entstandenen Gedichte vor. Eine Veröffentlichung in Deutschland war bis zum Jahre 1945 nicht möglich, weil Benn, nach Angriffen gegen ihn im Schwarzen Korps (besonders wegen seines Gedichts „Der Selbsterreger“) von den Nazis Schreibverbot erhalten hatte; nach 1945 konnten die Arbeiten in Deutschland wiederum nicht erscheinen, weil Benn im Jahre 1933 in einer aufsehenerregenden Radio-Rede („Der neue Staat und die Intellektuellen“) sich zum Hitlerstaat bekannt hatte. Nun verirren sich einzelne Exemplare des schmalen, insgesamt 44 Gedichte umfassenden Bändchens, das in äußerster Isolation geschriebene Werk des zweifach „Betroffenen“, aus der toleranten Schweiz zu uns nach Deutschland.
Die neue Lyrik Benns zeigt manche Veränderungen gegenüber jenen Gedichten, die ihn zur stärksten poetischen Kraft des sogenannten Expressionismus machten. Die Gedichte sind fester, gefügter, wenn man will „einfacher“ geworden. Die verschiedenen Schichten liegen kompakt aufeinander. Da gibt es noch die lose, offene, frei-rhythmische Form ohne Reim und jene einfachen Reimverse, die wir von ihm kennen. Am stärksten erinnern wir uns an den früheren Benn beim Lesen solcher Gedichte, die sich mit der Vorwelt oder der frühen Menschheitsgeschichte befassen („Quartär“ – „V. Jahrhundert“). Der Wortschatz der Zivilisation und der geisteswissenschaftlichen Abstrakta, den Benn zum erstenmal und in souveräner Weise für die deutsche Lyrik fruchtbar gemacht hat, ist nun völlig eingeschmolzen und gänzlich der magisch-bannenden Aufgabe des Gedichts dienstbar gemacht. Dazwischen stehen Verse und Rhythmen anekdotisch-biographischen Inhalts, um die nüchternste Form der Bezeichnung zu wählen für Gedichte, die, wie etwa das „Turin“-Gedicht um den späten Nietzsche oder die lyrische Kurzbiographie Chopins, gleich Blitzstrahlen in das Gewölk europäischer Geistesgeschichte fahren. Es ist interessant, zu beobachten, daß in dem einzigen Gedicht, in dem der gedankliche Inhalt fragwürdig erscheint („Am Saum des nordischen Meers“), auch die Form wie zersprungen wirkt. Eine Anzahl Verse, meist aus kunstlos erscheinenden vierzeiligen Strophen bestehend, schreiten dann die geistige Position Benns ab und enthalten – Frucht der Irrungen und der einsamen Beschäftigung – ein Bekenntnis zu Geist und Form. Ein Gedicht etwa, das den Titel „Leben – niederer Wahn“ trägt, schließt mit der Zeile „Statuen bergen die Saat“. Das von Benn „vertretene Reich“ ist das „des Gegenglücks, des Geistes“. Eigentümlich ist aber, daß trotzdem keine reine Gedankenlyrik entsteht, sondern etwas Höheres: eine Art Wort-Magie, die nicht weiter erklärt werden kann. Alle diese Gedichte beherrscht ein tiefer Leidenszug und das Gefühl einsamer, resignativer Größe. Den Gipfel erreicht Benns Künstlerschaft wohl in dem Poem „Gedichte“, drei achtzeiligen Strophen von unvergleichlicher Sprach- und Geistesmacht.
Gerhard Nebel wies unlängst daraufhin, daß Horaz, obgleich er als Centurio in der Armee Oktavians gekämpft hatte, von Augustus die höchsten Ehren erwiesen wurden. In Amerika erscheint soeben ein Band neuer Gedichte von Ezra Pound, der während des Krieges offen auf der Seite des italienischen Faschismus stand. Doch Deutschland ist ein kerngesundes Land. Es absolviert zwar seine Dwingers und Anackers. Doch dem Genie verzeiht es nicht.

Alfred Andersch, Die neue Woche, 20.11.1948
(Rezension zur Erstausgabe)

„Wer allein ist −“

Mit einem einzigen Flügelschlage reißt uns eine neue Dichtung Gottfried Benns über das Stimmengewirr der um lyrischen Ausdruck bemühten Gegenwart hoch hinaus (Statische Gedichte, Verlag der Arche, Zürich). Es ist die Stunde des zerstreuten Gewölks. In eisigem Licht wird das menschliche Herz in seiner Einsamkeit plötzlich sichtbar. Was bisher nur dialektisch zu umschreiben war, nimmt hier für einen kurzen Augenblick Gestalt an. Der Entwicklungsbegriff verläßt unser Denken, an seine Stelle tritt der zum Kunstwerk erstarrte Traum vom beziehungslosen Ich. Es ist freilich ein schwer faßbarer Traum, zu dem die Worte nur wie flüchtige Feuerzeichen hinführen. Daß eine Dichtung so vollständig aus der Schöpfung heraustritt, um das Leben einer eigenen Schöpfung zu führen, widerfährt uns selten. Bei Alfred Mombert möchte es wohl geschehen. Gottfried Benns Statische Gedichte sind die Frucht eines fünfzehnjährigen Schweigens. Er war immer ein großer Dichter; aber was uns früher zu stören vermochte, seine Neigung, uns durch Wühlen in der organischen Hinfälligkeit des menschlichen Körpers zu erschrecken, ist fast ganz der reinen Anerkennung des Todes gewichen. Seine große naturwissenschaftliche Bildung, die sich sonst leicht in die Lust, das Äußerste zu sagen, eindrängte, hat sich in eine Weisheit verwandelt, welche den illusionslosen Einblick in alles Organische stillschweigend voraussetzt. Was er früher einmal – in der „Problematik des Dichterischen“ – vom Dichter gesagt, erfüllt er heute: „Es gibt nur ihn: in Wiederholungszwängen, unter dem individuell verhängten Gesetz des Werdens, im Spiele der Notwendigkeit dient er diesem immanenten Traum.“
Gedichte als „statisch“ zu bezeichnen, ist auf den ersten Blick kaum anziehend. Aber beim Lesen dieser fünfzig Gedichte erfährt man, daß dies Wort „statisch“ das tiefste lyrische Verhalten ausdrückt. Der Mensch handelt nicht mehr, er sammelt und verbreitet keine Kräfte mehr, – er verharrt einfach und hält sich dem Leiden hin, ohne ihm widerstreiten zu wollen. Das Leiden nicht hinzunehmen, so lehrt er, bedeutet zwar der Entwicklung dienen zu wollen. Aber „Entwicklungsfremdheit ist die Tiefe des Weisen“. Wenn er uns früher theoretisch zu überzeugen versuchte:

Der Entwicklungsbegriff aus der Zoologie und Embryologie eliminiert, in der Psychologie, den Kunstwissenschaften, der Symbolgeschichte, der Mythologie durch andere Prinzipien ersetzt, als Ganzes aus dem Seinsgefühl der Zeit entlassen, um nur noch in der politischen Nomenklatur unter dem Namen des Fortschritts ein bescheidenes Propagandadasein zu führen…,

so gelingt es ihm heute, diese Erkenntnis in dichterische Form zu verwandeln. Der Schmerz ist kein Hindernis mehr, das der Fortschritt beseitigen sollte, sondern ein hoher Grad der menschlichen Fähigkeit, seines Ichs bewußt zu werden. Die „riesigen Gehirne“ unserer Zeit haben „die Welt zerdacht“. Uralte Kulturen sind zerronnen, ihr magisches Element vergessen. Von Züchtung, einem verhängnisvollen Irrtum des früheren Benn, für den er teuer bezahlt hat, ist nicht mehr die Rede. Der Mensch hält still.

Du blühst wie Rosen schwer in Gärten allen,
Du Einsamkeit aus Alter und Verlust,
Du Überleben, wenn die Träume fallen,
Zuviel gelitten und zuviel gewußt.

Die deutsche Dichtung bietet wenig Beispiele dieser Kunst der Beziehungslosigkeit, wie Gottfried Benn sie übt. Friedrich Nietzsche hat sie in einigen orphischen Bruchstücken wie „Der Herbst“ und „Die Sonne sinkt“ versucht, ohne ihr eine dauerhafte Form geben zu können. Erst Benn ist es gelungen, diesem letzten Rückzug des Menschen auf sich selbst eine süße, fast schluchzende Sangbarkeit zu geben. Der Refrain, der melodische Ablauf der Strophen, die zwingende Natürlichkeit der Reime lösen die gedankliche Schwere des Wortes zu solchem Fluß, daß man den „Schattenmund“ (Victor Hugo) zu gewahren glaubt, dem diese Dichtung entströmt.

Ach, als sich alle einer Mitte neigten
Und auch die Denker nur den Gott gedacht,
Sie sich den Hirten und dem Lamm verzweigten,
Wenn aus dem Kelch das Blut sie rein gemacht.

Und alle rannen aus der einen Wunde,
Brachen das Brot, das jeglicher genoß −,
O ferne zwingende erfüllte Stunde,
Die einst auch das verlorne Ich umschloß.

Und doch ist dieses Fließen ruhevoll, fast bewegungslos und ohne Sehnsucht nach Verwandlung, denn der Tod ist in diesem verlorenen und wiedergefundenen Ich enthalten und gibt ihm seine statische Gelassenheit. Die völlige Losgelöstheit dieser Dichtung macht es unmöglich, sie einzuordnen und ihr in der Gesamtheit der deutschen Lyrik einen Platz zu geben. Sie ist nicht nachzuahmen und sie kann keine Schule machen, da der mühevoll schmerzliche Weg ihrer Klärung an die Grenzen der Ausdrucksmöglichkeiten streift. Wir können nur begreifen, daß es „Unsere“ Lyrik ist, wie auch das Leben selbst des einsamsten und losgelöstesten Menschen immer noch unser Leben ist, wenn nur die Gestaltungskraft uns zum Wiedererkennen zu zwingen vermag. Denn vom einsamen Menschen heißt es in diesem Buche gleichsam als Summe seiner fünfzig Gedichte:

Formstill sieht ihn die Vollendung an.

Friedrich Sieburg, Die Gegenwart, 15.2.1949
(Rezension zur Erstausgabe)

Drei Aerzte, drei Dichter

(…)

Was hat uns nach Gumpert Benn zu sagen? Missverstehen wir ihn, wenn wir gestehen: Wenig! Man tritt mit äusserster Spannung an diese 80 Seiten seiner Statischen Gedichte heran, die in den Jahren 1937 bis 1947 entstanden sind. Hat er sich verwandelt? Oder ist er, als Dichter durch den Beruf eines Arztes in Elendsvierteln geprägt, über die Enge des Schauders hinausgebrochen? Man findet ihn kaum gewandelt, kaum geklärt, kaum verändert wieder. Er hat sich dem Satz im Gedicht Statische Gedichte, welches der Sammlung den Namen gegeben, mit Haut und Haar verschworen und verschrieben:

Entwicklungfremdheit ist die Tiefe des Weisen.

Man muss es ihm neidlos zugestehen: er ist dieser Ueberzeugung treu – auch in der Form; man begegnet hier wieder einmal haufenweise allen Tricks und Eigenwilligkeiten und Mätzchen des lyrischen Expressionismus in Reinkultur. Wortbildungen und -ballungen, aus denen niemand klug wird. Anhäufungen von Wendungen und Ausdrücken ohne Bezug auf jede herkömmliche grammatikalische Regel, halbe und gestutzte Sätze. (Sind wir zu einfältig, zu beschränkt, zu brav, zu jung, dass wir ihn nicht verstehen und keinen Geschmack an diesen Extravaganzen finden, die einmal Mode waren und es glücklicherweise nicht mehr sind?)
Erstaunlich, ungemein erstaunlich, wie aber plötzlich in den ganz wenigen Gedichten, die diesen Bann einer zerquälten Manier gesprengt haben, ein lauteres Gemüt und ein weicher Gesang sich erheben!

Wenn je die Gottheit, tief und unerkenntlich
in einem Wesen auferstand und sprach,
so sind es Verse, da unendlich
in ihnen sich die Qual der Herzen brach.

Wenn es Verse sind, ja, wirkliche Verse! Dass auch Benn solche gelingen, das wird dem offenbar, den es nicht verdriesst, im Dunkel dieses Bergwerkes nach Gold zu schürfen. Auch er will „im Gedichte die Dinge mystisch bannen durch das Wort“. Man ahnt immerhin, etwa im Gedicht „Verlorenes Ich“, dass ihm etwas von der wahren Mystik aufzugehen beginnt.
Ausser Frage steht freilich diese Bedeutung Benns: er setzt nicht nur, einzig und allein seinem ureigenen innern Gesetze folgend, über jeden Einfluss Rilkes, Georges, Hofmannsthals hinweg den Expressionismus fort, sondern er weist unmittelbar und wie ohne zeitlichen und geistigen Unterbruch auf Hölderlin zurück. Man fragt sich in der Tat nach mehrmaliger Lektüre, ob man nicht auch zu Benn Zugang finden müsse, wenn man ihn zu Hölderlin gefunden hat. So kann denn diese erste Begegnung mit den Statischen Gedichten nur vorläufig und unverbindlich sein. Hier reift das Urteil in der Zeit.

Iso Keller, Neue Zürcher Nachrichten, 10.12.1948

Gottfried Benn

– Zum Erscheinen der Statischen Gedichte im Arche-Verlag, Zürich. –

Es gibt Schriftsteller, die ihre Zeit haben und dann vergessen werden, wenn neue modische Wellen das literarische Gesicht der Zeit bestimmen. Und es gibt Außenseiter literarischer Entwicklungen, die plötzlich und aus kaum erkennbaren Gründen für längere oder kürzere Zeit an die Oberfläche des öffentlichen Bewußtseins getragen werden, um dann wieder, aus ebenso unerkennbaren Gründen, in Vergessenheit geraten. Gottfried Benn gehört zu keiner dieser beiden Gruppen, weder zu den Lyrikern der heut älteren Generationen, die mit dem Expressionismus kamen und gingen, noch auch zu den abseitigen plötzlichen Entdeckungen einer kurzen Zeit. Sein Fall liegt komplizierter.
Als etwa zur Zeit des ersten Weltkrieges die Ausdruckskunst mit ihrem neuen Pathos und ihrer neuen, aus Nietzsches und Dostojewskis Werk gespeisten Lebensphilosophie siegreiche Richtung in der literarischen Entwicklung wurde, siegte mit ihr eine allgemein europäische Bewegung. Aber während diese neue Entwicklung sich in Deutschland unter dem Namen Expressionismus als eine politisch linksgerichtete, die Menschenliebe verkündende und aller Form abgewandte Dichtungsweise durchsetzte, entstand in der außerdeutschen Literatur unter dem Namen Futurismus eine stark formbewußte Ausdruckskunst. Die Expressionisten taumelten hinein in eine anarchische Dichtung des Schreis; die Futuristen wollten aus dem neuen Pathos den Gedanken der Form als mittelsten Wert proklamieren.
Und Gottfried Benn ist in der deutschen literarischen Entwicklung zwischen 1912 und 1933 darum einsam geblieben, weil er der einzige Lyriker der Zeit war, der sich dem außerdeutschen europäischen Futurismus verschrieben hatte: nicht ohne Grund gilt eine seiner schönsten Reden dem Theoretiker des westeuropäischen Futurismus, dem Italiener Marinetti.

*

Benn ist von Beruf Arzt, und vom Kampf gegen positivistisch gerichtete Auffassungen der Medizin her ist sein Jugendwerk zu verstehen. Die viel zitierten Jugendgedichte wie „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“ sind in ihrer Offenheit und Roheit Beweise einer tiefen Erregung, die den jungen Arzt angesichts der Vergänglichkeit und Bresthaftigkeit des menschlichen Körpers überfiel. Von hier datiert sein tiefer Pessimismus, seine Ueberzeugung von der Schwäche menschlichen Daseins. Was also bleibt? Das Gehirn? Benn sah sich um und erkannte, daß der Mensch je feiner er organisiert, je erkennender und intellektueller er wurde, desto mehr vom Ursprünglichen sich entfernte. Der Prozeß der „Vergehirnung“ darf nicht Fortschritt genannt werden. Die Erkenntnis aber, daß die Menschheit nicht fortschreitet, sondern immer mehr der „Vergehirnung“, also ihrem Untergang zustrebt, darf nicht Pessimismus heißen. Es ist ein unabwendbares Geschick, dem nur mit Tapferkeit und klarer Erkenntnis zu begegnen ist. Das ist etwa die Haltung, die Oswald Spengler in seinem Aufsatz über Pessimismus predigte.
Aus dem Nebeneinander von Kulturpessimismus und Glauben an die Kunst entsteht nun ein seltsam zwiespältiges Denkgebilde. Kunst ist die Ausdrucksform, die zurückweist in die Epoche, in der der Geist noch nicht „Widersacher der Seele“ war, Kunst ist die Möglichkeit, aus unserer Gegenwart in eine Situation zu fliehen, in der „Begriff“ und „Erlebnis“, „Gehirn“ und „Leben“ noch nicht getrennt und als Gegensätze erscheinen. Kunst ist Rückerinnerung, ist Bewahrung, ist Verwirklichung des Gemeinschaftsgefühls, in einer Zeit, in der nur das Individuelle gelten soll – in Benns Sprache: Erkenntnis ist ein schönes Mittel zum Untergang, Kunst aber ist ein monistisches Prinzip, in dem Geist und Leben zusammenfallen.

*

Was aber ist Kunst? Einst war sie Malerei, dann wurde sie Musik, seit dem 18. Jahrhundert ist sie repräsentiert durch die Dichtung, deren letzter Höhepunkt die reine Ausdruckskunst ist. Die neue Dichtung ist Form, nichts als reine Form, Schöpfungsprozeß um seiner selbst willen, unabgelenkt von inhaltlich-sachlichen Motiven. Im Futurismus fallen Begriff und Leben als Schöpfung zusammen. Darum heißt das oberste Gesetz mit einem Worte, das Benn zum Titel seines (von Hindemith vertonten) Oratoriums gewählt hat, „Das Unaufhörliche“. Das bedeutet: alles fließt, nichts steht fest, die Welt untersteht dynamischen Prinzipien, flach und falsch ist es, an Erkenntnis zu glauben und den ewigen Strom in ein durch Denken erklügeltes Bett zu zwingen – nur eines gilt: Im Schöpfungsprozeß des Dichters entsteht aus dem ewigen Fließen, das was die Sehnsucht des Menschen ist: das Feste, das Bleibende, das Statische. Dichtung, sofern sie reine Form ist, bedeutet Rückerinnerung und Wiederheraufrufen des Festen in einer Welt, in der alles fließt und alles Erkennen auf Untergang zielt – Festes heraufrufen aber heißt: von den Göttern zeugen. Dichtung ist also das „Schicksalslied“, das stolze Ja in einer Zeit des Niedergangs. Was Gehirn und Kultur zerstört haben, sieht erneut im Rausche der Dichter.

*

Daß Gottfried Benn in einer bestimmten Phase seines Schaffens aus dieser romantischen Lebensphilosophie pseudopolitische Konzeptionen zu entwickeln sucht, deren Fragwürdigkeit sich ihm selbst bald enthüllte, ist weniger aufzeichnenswert, als daß er aus der futuristischen Theorie der Kunst heraus Dichtungen geschaffen hat, deren bestürzender Schönheit sich kein musischen Wortfügungen aufgeschlossener Leser entziehen kann. Das Wort vom „Rausche“ mit dem der Essayist Benn so oft operiert, erhält seinen Sinn, wenn in seinen Gedichten ein Katarakt daktylischer Rhythmen (des Dichters bevorzugter Vers) losbricht:

Ach, du zerrinnender
und schon gestürzter Laut,
eben beginnender
Lust vom Munde getaut –

ach, so zerrinnst du,
Stunde, und, hast kein Sein,
ewig schon spinnst, du
weit in die Nebel dich ein.

Man mag sich einfach an dieser Klangfülle berauschen; die Verse verlangen zugleich ihre Erklärung, darin nicht unähnlich der aus Intellekt und Ueberschwang seltsam gemischten Musik der neueren Franzosen und Spanier. (Benn ist eben doch wie so viele moderne deutsche Lyriker letztlich als Spätblüte symbolistischer Kunst zu deuten.) Und die Analyse wird immer wieder auf den Gedanken der Philosophie des Lebens führen, wie sie seit Maine de Biran und Bergson über Nietzsche, Klages, Theodor Lessing bis hin zum Existenzialismus unserer Tage das Denken des letzten Halbjahrhunderts bestimmt hat. Recht und Fehlerhaftigkeit der Konzeption Benns läßt sich nur aus einer Auseinandersetzung der gesamten Philosophie des Lebens erweisen.

*

Warum aber wird an diesen Dichter, der heute, sechzigjährig und schweigsam geworden, unter uns lebt, mit Nachdruck erinnert? Doch wohl zuerst und vor allem darum, weil Gottfried Benn eine genuine und bei aller Bizarrheit seiner Formen überzeugende Dichterpersönlichkeit ist. Der Aufwand von Geist, den er benötigt, um den Geist zu bekämpfen, die echte Wucht, mit der er dem Leben und seiner dynamischen Unaufhörlichkeit seine Hymnen singt, nicht zuletzt die Musik, die er überströmend in seinen Versen ausgießt – all das sind, ob man nun zu seinem Weltbilde Ja sagen will oder nicht, Werte, angesichts derer man sich staunend beugt und dichterischer Schöpferkraft huldigt. Wir sind so unpathetisch geworden, so mißtrauisch vor hohlem Pathos, daß wir echtem Pathos wieder zu erliegen lernen sollten.

Werner Milch, Die Tat, 1.1.1949

(Rezension zur Erstausgabe)

 

Gottfried Benn und der Arche Verlag

– Zur Druckgeschichte der Statischen Gedichte. –

Als im August 1948 im Arche Verlag in Zürich – jenseits der Grenzen des zerstörten Deutschland – Gottfried Benns Statische Gedichte, nobel gedruckt, in einem hübschen Pappband erschienen, war dies ein Ereignis, das die Szene der deutschen Nachkriegsliteratur schlagartig ändern sollte. Das Comeback eines vor und nach 1945 verbotenen Schriftstellers rückte die Lyrik in deutscher Sprache wieder in europäische Zusammenhänge.
Wenn nun nach 35 Jahren dieser Gedichtband in ursprünglicher Form in dem gleichen Verlag wieder herauskommt, so geschieht dies nicht allein in der Absicht, den klassischen Text wieder zugänglich zu machen – die Gedichte finden sich auch in der Gesamtausgabe abgedruckt –, sondern in dem Wunsch, das Werk als Zeitdokument erneut vorzustellen. Die Geschichte dieser Veröffentlichung gibt einen Einblick in die Lage eines Schriftstellers in den ersten Jahren nach dem Kriege, in eine Zeit, die längst zu Recht historische Beachtung findet.
Gottfried Benn hatte das Ende des Krieges 1945 in Berlin in seiner Wohnung in der Bozener Straße überstanden. Der Selbstmord seiner Frau und die Drangsale durch die russische Besatzung in den ersten Nachkriegsmonaten hatten ihm hart zugesetzt. Die Enttäuschung darüber, daß seine von dem Berliner Verleger Karl Heinz Henssel bereits gesetzten Statischen Gedichte im Frühjahr 1946 nicht erscheinen durften, war verständlicherweise groß. Benn erlebte sich als doppelt verfemter Autor: Sein letzter Band Ausgewählte Gedichte, im Frühjahr 1936 in der Deutschen Verlagsanstalt erschienen, hatte im Völkischen Beobachter und im Schwarzen Korps üble Angriffe auf den Autor ausgelöst, was 1938 mit dem Ausschluß aus der Reichsschrifttumskammer Schreibverbot zur Folge hatte. Wenn Benn 1945/46 wiederum von linken Schriftstellern angegriffen wurde, so bezog man sich auf seine Schriften aus den Jahren 1933/34, in denen der unpolitische Autor in dem neuen Regime nach den wirtschaftlichen Katastrophen vorübergehend neue Hoffnungen gesehen hatte. Daß er sich sehr bald auf dem anderen Ufer befand, wo er leidenschaftlich die expressionistischen Gefährten seiner Jugend verteidigte, wurde verschwiegen. So war Gottfried Benn 1946 ein vergessener Schriftsteller in Deutschland, der seinen 60. Geburtstag völlig allein und unbeachtet, seine ärztliche Praxis ausübend, mit dem Dienstmädchen in der Küche verbrachte, „die mich ins Gespräch zog über ihr neues Kostüm, das am Rücken nicht säße“.
Seit 1936 waren viele neue Gedichte in Hannover, Berlin und Landsberg entstanden, die er seinem Freund Friedrich Wilhelm Oelze nach Bremen schickte, von denen 22 als Privatdruck 1943 in wenigen Exemplaren gedruckt worden waren. Der Verlag Claassen und Goverts in Hamburg bemühte sich wie der Henssel-Verlag vergebens um den Druck der Bennschen Lyrik. So sind offenkundig von der Auswahl, die unter dem Titel Statische Gedichte 1946 heimlich gedruckt wurde, im Höchstfall fünf Exemplare an Freunde gelangt. Auch wenn sich Verleger weiterhin um den Autor bemühten, dessen Werke zu drucken die Besatzungsmächte nicht erlaubten, so gab Gottfried Benn die Hoffnung auf eine Rückkehr in das literarische Leben allmählich auf. Am 29. April 1947 schrieb er aus dem zerbombten Berlin an Oelze, der sich ebenfalls für den Verlag der Schriften Benns einsetzte:

Hören wir bitte nun damit auf, Verläge, Lizenzträger, Söhne des Himmels, große Borsten für G. B. zu interessieren. Verlassen wir das Abendland. Finden wir uns damit ab, für uns zu sein und zu bleiben: „Schwarze Kutten“ .

In dieser Zeit besuchte ihn häufiger ein junger Schweizer Journalist, 27 Jahre alt, Sohn des Chefredakteurs der Winterthurer Zeitung, Eberhard Hürsch. Ihm ist es zu verdanken, daß sich Benn für das Angebot interessierte, das ihm Peter Schifferli, der Verleger des 1944 gegründeten Verlags Die Arche in Zürich, ausrichten ließ. Der Schweizer Verlag hatte 1946 die Dichtungen von Georg Trakl und im Frühjahr 1947 die Gesammelten Gedichte von Georg Heym herausgebracht, also die Werke von Benns expressionistischen Jugendgenossen. Das allein nahm ihn schon für den Arche Verlag ein: Er selbst regte eine Neuausgabe der Gedichte von Jakob van Hoddis an, die allerdings erst 1959 zustande kam.
In dem nicht erhaltenen Brief vom 3. Oktober 1947 schlug Peter Schifferli eine Ausgabe von 50 Gedichten vor. Die maschinenschriftliche Antwort Gottfried Benns lautet:1

 

Dr. Gottfried Benn

Berlin-Schöneberg,
Bozenerstr.
20 23.XI.47.

Sehr verehrter Herr Schifferli,
für Ihren Brief vom 3.X.47, über Herrn Hürsch, den ich gestern erhielt, erlaube ich mir Ihnen sehr zu danken. Es ist mir eine ausserordentliche Freude und Ehre, dass Sie einen Gedichtband von mir verlegen wollen, und ich spreche Ihnen meinen Dank dafür aus.
Ich werde das Manuskript in wenigen Tagen zusammenstellen und Herrn Hürsch zur Weiterleitung übergeben. Ich folge Ihrem Vorschlag, etwa 50 Gedichte auszusuchen, als Titel denke ich an: „Statische Gedichte“ –, statisch ist ein Begriff, der nicht nur meiner inneren ästhetischen und moralischen Lage, sondern auch der formalen Methode der Gedichte entspricht und in die Richtung des durch Konstruktion beherrschten, in sich ruhenden Materials, besser noch: in die Richtung des Anti-Dynamischen verweisen soll. Gelänge es mir, diesen Eindruck zu verwirklichen, würde es zeigen, dass aus meiner chaotischen expressionistischen Generation, deren einziger Überlebender ich wohl bin – (Trakl, Heym, Werfel, Hasenclever, van Hoddis, Else Lasker-Schüler sind tot, allein Joh. R. Becher lebt, aber er ist andere Wege gegangen) – doch eine innere Klärung hervorgehen konnte, die nicht abfallende Ermüdung der produktiven Kräfte bedeutet, sondern schöpferische Bändigung der schweren existentiellen Zerwürfnisse und Krisen, mit denen meine Generation aus konstitutioneller Anlage und durch die exorbitanten äusseren Verwicklungen von Anfang an zu kämpfen hatte. Statik also heisst Rückzug auf Mass und Form, es heisst natürlich auch ein gewisser Zweifel an Entwicklung und es heisst auch Resignation, es ist anti-faustisch, – aber ich berufe mich auf die oberste Instanz: „vergebens werden ungebundene Geister nach Vollendung reiner Höhe streben.“ Mögen Sie meine Bestrebungen nicht von vornherein als vergebens empfinden.
Was das Äussere angeht, so folge ich gern Ihrem Vorschlag und übergebe Ihnen die Gesamtrechte für den Band. Vielleicht können wir das in einer Art Vertrag festlegen. Was das Honorar angeht, so bewegen sich meine Gedanken in der Richtung, die früher hier bei uns üblich war, nämlich 10–15% vom broschierten Exemplarpreis und 20 Belegexemplare. Als Form der Honorarüberweisung erschiene mir aus begreiflichen Gründen die Form der Liebesgabenpakete am nützlichsten. Jedoch habe ich in Bezug auf alle diese Äusserlichkeiten keine feste Einstellung und überlasse Ihnen die Entscheidung.
Ein sehr angenehmer Gedanke wäre mir, wenn es möglich wäre, mir zu gegebener Zeit Korrekturen senden zu wollen.
Mit nochmaligem Dank und mit meinen besten Empfehlungen

Ihr sehr ergebener
Gottfried Benn.

[Hs.] P.S: Falls Sie das eine oder andere Gedicht fortlassen möchten oder die Reihenfolge ändern, bin ich einverstanden. Be.

Das folgenschwere Postskriptum – wir kommen darauf zurück – ist handschriftlich hinzugefügt. Anfang Dezember 1947 schickte Benn das Manuskript mit 44 Gedichten.

Ich habe auch ältere Gedichte aufgenommen, da die Schweiz doch vermutlich nicht daran interessiert ist, nur neuere Gedichte kennenzulernen. (An Oelze 4.12.1947)

Die Lektorin des Verlags, Fräulein Dr. Paula Rüf, bestätigte den Eingang der Sendung am 6. Januar 1948, schickte den Vertragsentwurf mit der Vereinbarung eines Honorars von 12% des Ladenpreises und der Abrechnung in Form von Liebesgabenpaketen, die in das hungernde Berlin transferiert werden sollten. Einen Tag später schickte der Verleger selbst seine Vorschläge nach Berlin:

 

Zürich 7. Januar 1948

Sehr geehrter Herr Doktor,
mit grosser Freude und Anteilnahme habe ich Ihre „Statischen Gedichte“ gelesen und ich betrachte es als hohe Ehre, diesen Gedichtband bald herausgeben zu dürfen. Mit der Auswahl und Anordnung bin ich einverstanden, möchte lediglich die Gedichte „Chopin“, „Monolog 1941“, „Clemenceau“, „St. Petersburg“ und „1886“ herausnehmen, da sie in ihrer Form doch den Rahmen sprengen. Dafür hätte ich gerne aus dem frühern Band ausgewählter Gedichte „Ach das Erhabene“, „Tag, der den Sommer endet“ und „Astern“ mitaufgenommen, da ich diese besonders liebe und sie mir sehr wohl in den Zusammenhang sich einzufügen scheinen.
In der Beilage sende ich Ihnen die Verträge, indes das Manuskript rechtzeitig in den Satz geht, um Ihnen rechtzeitig Korrekturen zustellen zu können.
Indem ich überzeugt bin, dass dieser ersten Vertragsunterzeichnung 1948 ein gutes Omen für das kommende Verlagsjahr bedeutet, verbleibe ich

mit vorzüglicher Hochachtung und
dankbaren Grüssen Beilage: Verträge.
[Peter Schifferli]

N.B. Legen Sie bitte Ihrem signierten Vertragsdoppel eine Liste derjenigen Lebensmittel bei, an denen Ihnen besonders liegt, damit wir sie der hiesigen Verrechnungsstelle unterbreiten können.

Die Forderungen des Verlegers waren ungewöhnlich, wenngleich er sich offenkundig durch das Angebot des Autors dazu autorisiert sah. Gottfried Benn hatte in seinem Leben stets die Auswahl seiner Gedichte mit größter Pedanterie getroffen. In seinem Nachlaß befinden sich mehrere Entwürfe von Inhaltsverzeichnissen, die darauf hindeuten. Nun sah er sich einem eher ängstlich wirkenden Verleger gegenüber, aber noch ging der Autor geduldig auf dessen Wünsche ein:

 

Dr. Gottfried Benn.

Berlin-Schöneberg
Bozenerstr. 20.
den 14.I.48

Sehr verehrter Herr Schifferli,
für Ihren Brief vom 7.I.48 bedanke ich mich sehr u. ebenso für die Zusendung des Vertrages. Es ist für mich sehr ehrenvoll und eine grosse Genugtuung, dass Sie mich unter Ihre Autoren aufnehmen wollen. Ich danke Ihnen aufrichtig. In der Anlage sende ich das zweite Vertragsexemplar an Sie zurück.
Ich erlaube mir, ohne Ihnen anspruchsvoll erscheinen zu wollen, für eines der von Ihnen nicht gewünschten Gedichte nochmals einzutreten mit der Bitte, ob Sie vielleicht es noch einmal prüfen würden. Es ist: „Chopin“ –, ein Gedicht, das mir besonders am Herzen liegt. Wenn ich über die Gründe Ihrer Ablehnung nachdenke, komme ich zu keinem Resultat. Es ist doch rein lyrisch, gänzlich unpolitisch, unaktuell und formal zweifellos gelungen. Würden Sie die Güte haben, mir gelegentlich zu sagen, was Sie zu Ihrem Urteil veranlasst hat und würden Sie wohl, ohne mir böse zu sein, hiermit meine ausdrückliche Bitte entgegennehmen, es vielleicht doch zuzulassen? Mit allen übrigen Änderungen bin ich einverstanden.
Eine Liste über Lebensmittel werde ich mir erlauben demnächst gelegentlich zu übersenden.

Mit nochmaligem Dank und ergebensten Grüssen
und Wünschen für das beginnende Jahr
Ihr
Dr. Gottfried Benn.

Die Lektorin antwortete am 13. Februar 1948 zustimmend:

Wir freuen uns sehr auf die Herausgabe Ihrer schönen Gedichte; sie werden in einer besonders sorgfältig ausgestatteten Ausgabe erscheinen. Herr Schifferli ist gerne damit einverstanden, Ihr Chopin-Gedicht, an dem Ihnen besonders liegt, in die Sammlung aufzunehmen. Mir persönlich gefällt es auch sehr – wie übrigens auch die anderen Bericht-Gedichte.

Auf die Ankündigung Benns, die Manuskripte seiner Prosaschriften dem Verleger über den Kurier Eberhard Hürsch zuzuleiten, antwortete Schifferli dankbar:

 

15.03.48.


Sehr geehrter Herr Doktor,
vielen Dank für Ihren Brief vom 1.3.48., den ich selber beantworten möchte, da er mir Gelegenheit gibt, Ihnen einige Gedanken zu schreiben, die ich Ihnen längst mitteilen wollte. Wenn Sie schreiben, dass es uns vielleicht interessieren würde, Ihre innere Entwicklung kennenzulernen und Sie uns deshalb auch Ihre Prosaschriften schicken möchten, so erfüllen Sie damit einen Wunsch, den wir Ihnen schon lange schreiben wollten. Seitdem ich in Bermann-Fischers „Neuen Rundschau“ (Heft 6, 1947) den Aufsatz von Bugen Gürster-Steinhausen über „Gottfried Benn, ein Abenteuer der geistigen Verzweiflung“ gelesen haben (Welchen Aufsatz Sie sicher kennen, ansonst ich Ihnen ein Expl. schicken würde), habe ich in Antiquariaten und Bibliotheken alle Ihre Schriften zu finden versucht. Und ich muss gestehen, dass diese Begegnungen für mich mit jenen der Schriften Jüngers und Heideggers zu den wesentlichen gehören, die ich je bewusst wahrgenommen habe. Die Faszination, welche Ihre Gedichte auf mich ausübten, hat sich dabei zu der Gewissheit verdichtet, dass Ihr Werk als ganzes für das Verstehen des neueren und neuesten Lebensgefühls von eminenter Bedeutung ist. Ich stehe zunächst noch immer allzusehr unter dem Eindruck dieses Erlebnisses, als dass ich es in Worte fassen könnte. Vielleicht darf ich Ihnen gelegentlich ausführlich darüber und vor allem über die Gespräche mit meinen Freunden schreiben, welche in der letzten Zeit ganz im Zeichen Ihres Werkes standen. – Auch möchte ich die Gelegenheit benutzen, um Ihnen zu versichern, dass bei meinen Aenderungsvorschlägen zu der Gedichtauswahl keinerlei politische Bedenken massgebend waren; ich mache kein Hehl daraus, dass ich Ihrer politischen Haltung weitgehendes Verständnis entgegenbringe und sogar eine gewisse Freude daran habe, jene Kreise der Emigration durch die Gedichtausgabe herauszufordern, welche mir bereits seit den Jünger-Ausgaben eine erfreuliche Aufmerksamkeit geschenkt und eine nicht minder erfreuliche Zahl von öffentlichen Angriffen beschert haben. Ich zweifle nicht daran, dass eine grosse Benn-Diskussion heraufbeschworen wird, zweifle aber ebensowenig, dass sie zu Ihren Gunsten ausgehen wird (wie jene um Jünger auch zu seinen Gunsten ausgegangen ist.) Bei diesem grossen geistigen Ereignis als Verleger mithelfen zu dürfen, bedeutet mir eine grosse Ehre für die ich Ihnen nicht genug danken kann. Und wenn es der Verlauf der Diskussion ratsam erscheinen lässt, auch die eine oder andere Ihrer Prosaschriften der Oeffentlichkeit zugänglich zu machen, so werde ich es gerne tun, sofern es die Möglichkeiten meines Verlages erlauben. In diesem Sinne wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir vor Abschluss neuer Verträge eine gewisse Chance geben würden. Auch hoffe ich, dass der Tag nicht allzufern ist, an dem ich Ihnen eine Neuausgabe Ihrer „Ausgewählten Gedichte“ vorschlagen kann, welche 1936 in der DEVA erschienen war.
Inzwischen sind Ihre Gedichte im Satz und die Korrekturfahnen werden Sie bald erreichen. Und inzwischen warten wir mit grosser Spannung auf Ihre angekündigten Prosaschriften, von denen wir nicht zweifeln, dass sie ein grosses Abenteuer für uns bedeuten werden.

Mit vorzüglicher Hochachtung
und dankbaren Grüssen

[Peter Schifferli]

Der nächste maschinenschriftliche Brief Benns enthielt im Postskriptum die Antwort auf Schifferlis Bekenntnis:

 

Dr. G. BENN
Arzt

Berlin-Schöneberg, den 20.III.48.

Sehr verehrter Herr Schifferli,
unter Bezugnahme auf meinen Brief an Fräulein Dr. Rüf vom 29.2.48 erlaube ich mir, in der Anlage mit Hilfe von Herrn Hürsch einige Manuscripte an Sie gelangen zu lassen. Wie ich schon schrieb: ohne jeden Hintergedanken allein, um Ihnen einen heutigen prosaistischen Steckbrief über mich an die Hand zu geben. Es wäre mir ein Vergnügen, wenn Sie gelegentlich Zeit fänden, einen Blick hineinzutun oder gar, wenn Sie an dem einen oder anderen Satz Vergnügen fänden.

Vielleicht beginnen Sie mit dem Essay: „Kunst und III. Reich“, es liest sich gefällig, der 3. Teil allerdings ist rein deutsche Angelegenheit. Dann kommt eine Novelle: „Weinhaus Wolf“ –, recht harmlos. Dann: „Roman des Phänotyp“ –, formal extravagant und fragmentarisch. Schliesslich die letzte Arbeit: „Der Ptolemäer“ –, gedanklich reichlich massiv. Alle haben das Gute, dass sie nicht umfangreich sind –, das gehört zu meinem Programm: jede Kunstäusserung, die über eine Stunde hinausgeht, ist in meinen Augen eine Zudringlichkeit. Indem ich Ihnen ein angenehmes Osterfest wünsche

bin ich mit besten Grüssen
Ihr sehr ergebener
Dr. Gottfried Benn.

P. S. Darf ich aus Anlass eines Briefes von Dr. Claassen vom Verlag Goverts u. Claassen in Hamburg, der mir eine Art von Erstaunen ausdrückt, dass im Arche-Verlag ein Gedichtband von mir erscheint, Ihnen gegenüber klarstellen, dass mich nicht die geringsten Bindungen an den Hamburger Verlag verpflichten, sondern dass ich natürlich völlig über meine Sachen verfügen kann. Der Verlag G. u. C. hat nur seit längerer Zeit mir zahlreiche sehr liebenswürdige Briefe geschrieben, die mich sehr erfreuten, da sie von tatsächlichem Interesse für mich zeugten, aber zu einem Abschluss oder auch nur konkreten Versprechungen ist es nie gekommen. Ich bin in allen Geschäftssachen äusserst korrekt und buchstabengetreu und niemals unfair.
Sehr verehrter Herr Schifferli, eben, am 20.III. kommt Ihr unvergleichlicher Brief vom 15. d. Ms. Aufrichtigen Dank. Welche grosse Auszeichnung! Nun, hier kommen die Unterlagen für Diskussion und Fascination und Proscription. Übrigens ist meine „Belastung“, wie bei uns der Ausdruck heisst, keineswegs absolut, ich bin vollkommen sicher, dass ich ohne Weiteres freigegeben würde, aber ich tue keinen Schritt in dieser Richtung, ich lasse keine politischen Instanzen über Kunstdinge entscheiden, das werde ich durchführen usque adfinem. Alles Übrige hierzu enthalten meine Arbeiten, über die ich als Motto den Satz aus „Phänotyp“ schreiben könnte: „es hat sich allmählich herumgesprochen, dass der Gegensatz von Kunst nicht Natur ist, sondern: gut gemeint“.
Ich wohne im amerikanischen Sektor, nicht im russischen, wie auf Ihrem Briefumschlag steht.

Mit besten Empfehlungen
Ihr alter ergebener
Benn.

So wurde im Frühjahr 1948 die Korrespondenz fortgesetzt. Benn meldete das Interesse von Pamela Wedekind an einer Lesung an. Die Liebesgabenpakete wurden freudig in Empfang genommen. Mit großer Sorge wartete Benn auf die Bestätigung der Ankunft seiner Manuskriptsendung, auch die Lizenzfragen wurden besprochen. Am 29. April schrieb Benn seinem Verleger einen sehr persönlichen Brief, wiederum maschinenschriftlich getippt:

 

Dr. G. BENN
Arzt

Berlin-Schöneberg, den 29.4.1948

Sehr verehrter Herr Schifferli!
Ihr freundlicher Brief vom 17. d. Mts., der am 24. bei mir eintraf, verwirrte mich so durch die Mitteilung, dass Herr Hürsch und die Manuskripte bei Ihnen nicht angelangt sind, dass ich in meiner Antwort am 24. nur hierauf einging. Ich erlaube mir, heute auf einiges allgemeines zu sprechen zu kommen.
Zunächst möchte ich Ihnen nochmals meine grosse Freude aussprechen, dass es Ihnen gelungen ist, die Lizenz für Deutschland zu erhalten. Ein bewundernswerter Erfolg von Ihnen, für den ich Ihnen ausserordentlich danke. Ich kenne den Nymphenburger-Verlag nicht, aber ich höre, er soll sehr bekannt sein, – ist dieser Verlag eine Beziehung von Ihnen oder hat die Militärregierung ihn als Ihren Partner bestimmt? Nun, das ist nicht wichtig, jedenfalls scheint sich ja damit die Möglichkeit zu eröffnen, dass ich auch mit weiteren Veröffentlichungen in Deutschland wieder zur Sprache kommen kann.
Mein persönlicher Wunsch in den letzten Jahren war eigentlich der gewesen, gleichzeitig mit drei verschiedenen Bänden wieder aufzutreten, nämlich einem Gedichtband, einem Essay-Band und einem Prosa-Band, jeder zu ungefähr 200 Seiten, um die drei Richtungen meiner Produktion vorführen zu können. Aber diesen Wunsch habe ich ja aufgeben müssen und ich muß Schritt für Schritt vorgehen und der erste Schritt sind Sie und die „Statischen Gedichte“ und dafür danke ich Ihnen sehr. Über das Folgende zu schreiben wäre einfacher, wenn ich wüßte, ob die Manuskripte doch noch bei Ihnen eingetroffen sind und Sie einen Blick hineingeworfen haben. Ich möchte mich nämlich einmal darüber aussprechen, dass mir selbst an diesen neuen Prosaarbeiten mehr liegt, wie an der Lyrik. Ich habe das Gefühl, dass ich in den Prosasachen mehr von meiner inneren Lage und auch der Lage der Zeit realisiere, als in den Gedichten. Sie stellen ja alle, sei es in essayistischer oder novellistischer Form, immer wieder die eine Frage heraus, die die Grundfrage der ganzen Epoche ist, nämlich: gibt es für das Abendland noch eine geistige Welt, eine metaphysische Realität ausserhalb und unabhängig von der geschichtlich-politischen Welt, die ihr Primat behauptet und mit Brutalität verteidigt. Sie wissen, dass ich dies bejahe. Dass das Abendland ermüdet ist, dass es fault, dass es platt gewalzt ist, das ist ja seit zwei, drei Generationen tausendmal ausgesprochen und jedem bekannt –, ich finde es interessanter und auch abendländischer zu untersuchen, was noch an innerer Substanz, an alter Gene, an schöpferischen Möglichkeiten in der Rasse geblieben ist. Und es ist nach meiner Meinung noch etwas geblieben und etwas vorhanden, das allerdings anders aussieht als die Mehrzahl glaubt, das vielleicht in der Richtung der Resignation liegt, aber einer Resignation aus Haltung, einer Resignation aus Rasse, die aber jeder Einzelne in einer langsamen inneren Arbeit für sich selbst erkämpfen muss. Nun, vielleicht darf ich hoffen, dass Sie doch einmal gelegentlich einen Blick in diese Manuskripte werfen, sei es in die verlorenen des Herrn Hürsch, sei es in eine neuhergestellte Ausführung, die ich von hier nochmals an Sie senden würde.
Und da dieser Brief von Literatur handelt, erlaube ich mir auch die Frage an Sie zu richten, welche meiner früheren Bücher Ihnen in der Schweiz erreichbar waren. Es handelt sich nämlich um folgendes: Der Mailänder-Verlag Bompiani hat sich mehrfach an meinen früheren Verlag, die Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart gewendet, um einen Essay-Band von mir auf italienisch erscheinen zu lassen. Die Auswahl und Zusammenstellung sollte mir überlassen bleiben. Ich war zunächst nicht darauf eingegangen, da mich ein italienisches Projekt nicht interessierte. Aber Einige aus meinem Kreis versuchen dieses Projekt jetzt doch zu verwirklichen. Einer der besten Kenner meiner sämtlichen Bücher, Herr Frank Maraun, wollte die Zusammenstellung übernehmen, eine Einleitung dazu schreiben und mit dem Mailänder-Verlag in meinem Auftrag verhandeln. Ich teile Ihnen dies mit, für den Fall, dass Sie irgend ein Interesse dafür haben, ich stelle Ihnen gern anheim, diesem Verlag gegenüber als mein Verleger zu verhandeln. Die Angelegenheit steht in den ersten Anfängen und ich betreibe sie wie gesagt sehr zögernd. Um Sie über die Person des Herrn Maraun zu unterrichten, lege ich einen Aufsatz von ihm bei, den er vor einem halben Jahr in einer Tübinger-Zeitung veröffentlichte. Ferner lege ich einen kurzen Aufsatz aus einer Hamburger-Zeitung aus dem Jahre 1945 bei und eine Notiz einer Hamburger Presseinformation auch jüngsten Datums – aus all dem bitte ich Sie zu ersehen, dass das Interesse an meinen Arbeiten immerhin, auch nach zwölf Jahren Schweigen von mir, noch erstaunlich vorhanden ist.
Schliesslich möchte ich, um mich näher mit Ihnen bekannt zu machen, Ihnen noch einige ältere Essay’s beilegen, die s.Zt. viel Aufsehen erregten und in meinen früheren Büchern enthalten waren. Darunter den Goethe-Aufsatz, der ursprünglich in dem berühmten Heft der Fischer’ schen „Neuen-Rundschau“ stand aus Anlaß von Goethe’s hundertstem Todestag. Ich lege Ihnen den interessanten Umschlag dieses Heftes bei, damit Sie sehen, in welcher illustren Gesellschaft, fast von lauter Nobel-Preisträgern, ihr in die Dunkelheit entrückter Autor der „Statischen Gedichte“ sich damals befand. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir diesen Umschlag der Neuen-Rundschau gelegentlich wieder zusenden würden, ebenso wie die anderen Zeitungsausschnitte. Apropos, dieser Goethe-Aufsatz ist vielleicht aktuell, da nächstes Jahr wieder ein Goethe-Jahr ist und sich bereits Epigonen gefunden haben, die über mein Thema große Veröffentlichungen machen, dabei meinen Aufsatz abschreiben, seine Gedankengänge verwenden und meinen Namen natürlich verschweigen.
Und nun muß ich wegen dieses langen Briefes mit lauter autistischen Motiven um Entschuldigung bitten. Ich hoffe, dass Sie sich wohlbefinden und ich bin mit der Bitte um Empfehlung an Frl. Dr. Ruf

Ihr sehr ergebener
Gottfried Benn.

Bald danach gelangten die Korrekturen der Statischen Gedichte an den Autor:

Von den mir durch Herrn Hürsch übermittelten zwei Korrekturexemplaren der „Statischen Gedichte“ sende ich anbei eines durchgesehn zurück. Ich habe die drei Gedichte beigefügt, deren Aufnahme in den Band Sie in Ihrem Brief vom 7.I.48 wünschten und ich habe die Stelle innerhalb des Bandes kenntlich gemacht, an die ich sie zu setzen vorschlagen würde (17.5.1948).

Der Verleger machte sich Gedanken, wie er den Ptolemäer und den Roman des Phänotyps bald setzen lassen könnte, da diese Werke ausserordentlich wichtig sind und ich sie möglichst in verschiedene Sprachen übersetzen lassen möchte. Aber für diese Uebersetzungsverhandlungen brauche ich gedruckte Leseexemplare. Vielleicht kann ich die Drucklegung mit einem österreichischen Verlag zusammen machen, der im kommenden Frühjahr auch Ihre „Statischen Gedichte“ in Lizenz herausbringen will. Schifferli fährt in diesem Brief vom 9. Juni 1948 fort, daß er gern Gottfried Benns Essay Goethe und die Naturwissenschaften als Einzelpublikation in schöner Ausstattung auf das Goethejahr herausbringen möchte. Auch meldete er: Der Gedichtband wird jetzt umbrochen. Dass Sie mir auch die drei schönen Gedichte noch gegeben haben, hat mich besonders gefreut.
Gottfried Benn antwortete am 5. Juli 1948:

 

Dr. med. G. BENN

5.VII.48.

Lieber, sehr verehrter Herr Schifferli, haben Sie vielen Dank für Ihren handschriftlichen Brief vom 23.V. und den vom 9.VI. Ein so langer handschriftlicher Brief – wie viel Mühe hat Ihnen das sicher gemacht! Ich antworte heute nur kurz, da Herr Hürsch – unbegreiflicherweise zurückgekehrt in das Berliner Inferno – so freundlich sein will, die Umbruch-Korrektur der „Statischen Gedichte“ an Sie zurückgelangen zu lassen. Einige wenige Notizen habe ich angeheftet.
An Sie erlaube ich mir die Frage zu richten, ob Sie absichtlich das Stück: „gewisse Lebensabende“,
das in der Fahnenkorrektur noch mitgesetzt war (Nr 30), abgesetzt haben oder ob es ein Versehen ist. Ich vermute, dass das Erstere der Fall ist und ich vermute als Grund, dass Ihnen der vielleicht etwas kalte, der Leser wird sagen: cynische Charakter der Gedanken nicht zusagt. Ich meinerseits würde zufrieden sein, wenn es doch miterscheinen könnte, mein Argument dafür ist, dass der Band reichlich viele weiche und zarte Töne enthält und der etwas härtere Klang zu einer modernen Lyrik dazugehört. Das innere Idyll ist ja vorbei, und das Buch eines Deutschen, das nicht die Kälte und die Vernichtung in Erwägung zieht, der wir täglich ins Auge sehn, wäre vielleicht nicht ganz echt und identisch mit der Stunde. Wenn Sie aber grosse innere Widerstände gegen dieses Stück empfinden, werde ich nicht darauf bestehn. Sollten Raumgründe eine Rolle spielen, würde ich lieber auf St. Petersburg verzichten als auf „gewisse Lebensabende“.
Nehmen Sie heute nur viele Grüsse und vielen Dank für Ihr Interesse an meinen Sachen. Ich hoffe, dass es Ihnen persönlich gut geht und ich bleibe

Ihr sehr ergebener
Benn.

[Hs.] Satz und Schrift gefällt mir sehr gut. Vielen Dank. Eben, in die allgemeine Hungersnot, kommt Ihr cpl. Paket vom 12.VI. Tausend tausend Dank.
P.S.: würden, sehr verehrter Herr Schifferli, vielleicht noch das beigefügte Gedicht „Sommers“ noch als Nr. 42, also auf S. 72 einfügen können, wenn es nicht zu viel Mühe und Kosten macht
Dank und Gruss.

Ihr Benn

Unverblümter äußerte sich Benn gegenüber seinem Freund Oelze: Auch mit Schifferli habe ich Ärger, schrieb er am 22. Juli.

Das Gedicht „Gewisse Lebensabende“ will er in dem Band nicht bringen wegen „technischer Schwierigkeiten“, (wie die Russen!) – ich kann von hier aus wenig dagegen machen. Wenn ich noch wäre wie früher, würde ich telegraphisch das ganze Buch stoppen, aber so werde ich es treiben lassen müssen, interessiere mich aber für die Sache nicht mehr und werde den Band niemandem aushändigen. Auch für das Weitere werde ich Herrn Schifferli nicht mehr in Betracht ziehen.

In dem nächsten Brief vom 13. August 1948 schrieb der Verleger:

Ihre Gedichte sind nun ausgedruckt und liegen beim Buchbinder. Ihre Korrekturen konnten noch alle berücksichtigt werden mit Ausnahme der Auswechslung von „Gewisse Lebensabende“ und „St. Petersburg“. Wie Sie vermuteten, hatte ich das Gedicht „Gewisse Lebensabende“ mit Absicht weggelassen, weil es nicht ganz dem Ton der übrigen Gedichte zu entsprechen schien. Ich möchte es lieber in den Band ausgewählter Gedichte mitaufnehmen. Es liegt mir sehr viel daran, dass Sie Herrn Hürsch genaue Anweisungen geben, ob und wie weit ich über Ihre Prosaschriften verfügen darf. Ich habe sie Ihrer Weisung gemäss bisher als Geheimsache behandelt und lediglich einem befreundeten, uns nahe stehenden Verleger in Oesterreich und einem andern in Deutschland ihre Existenz bestätigt, ohne jedoch irgend etwas vom Inhalt preiszugeben. Ich glaube, dass die Möglichkeit besteht, die Schriften der Reihe nach einzeln herauszubringen und zwar in Zusammenarbeit mit einem österreichischen, der von uns eine Lizenz erhielte und dort für beide Verlage, weil es billiger ist, die Drucklegung vornimmt. Ausserordentlich dankbar wäre ich Ihnen auch dafür, wenn Sie mir die Rechte an Ihrem schönen Essay „Goethe und die Naturwissenschaften“ übertragen würden, wobei es genügen würde, wenn Sie mir schriftlich bestätigten, dass dabei dieselbe Vertragsbasis wie für die „Statischen Gedichte“ massgebend sein soll.
Ich kann Ihnen versichern, dass ich in diesen Wochen der Berliner Krise in Gedanken oft bei Ihnen bin und Herrn Hürsch darum beneide, dass er einen ständigen persönlichen Verkehr mit Ihnen haben darf. Hoffentlich klären sich die politischen Verhältnisse bald so weit, dass wir uns endlich einmal irgendwo in Deutschland begegnen dürfen.

Benn protestierte gegen die Eigenmächtigkeit des Verlegers: Er forderte in seinem Brief vom 21. August 1948 die übersandten Manuskripte zurück. Der Text lautet:

 

Dr. G. BENN

Bozener Straße 20 pt.
Facharzt für Hautkrankheiten Tel.: 71 20 97
Berlin-Schöneberg, den 21.VIII.48

Sehr verehrter Herr Schifferli,
vielen Dank für Ihren Brief vom 13. d. M. und die beiden Gutscheinsendungen –, der eine für Luxus (Cafe und Thee) und der andere für Ernährung (Nudeln u. Reis) beides wunderbare Zutaten zu unserer Berliner Kriegslage. Aber, um es gleich zu sagen, noch halten wir es aus und brauchen nicht zu kapitulieren. Zu unseren Geschäftsbeziehungen glaube ich aber bemerken zu müssen, dass meiner Meinung nach die Pakete die Lyrik nunmehr kompensiert haben und Sie damit stoppen müssen.
Was den Inhalt Ihres Briefes angeht, erlaube ich mir Folgendes zu erwidern. Die Fortlassung von dem Gedicht „Gewisse Lebensabende“ kann ich nicht gutheissen. Der Autor kann in solchem Fall nicht übergangen werden, und ich muss der Wahrheit die Ehre geben: ich hätte den Band ohne diese Verse nicht erscheinen lassen. Nachdem es aber zu spät ist, ist eine weitere Diskussion darüber ohne Nutzen.
Den Essay über Goethe und die Naturwissenschaften übergebe ich Ihnen gerne zum Verlag unter den gleichen Voraussetzungen wie die „Statischen Gedichte“, jedoch mit der Einschränkung, dass ich mir die Verlagsrechte für Deutschland vorbehalte. Ich stehe hier mit zwei Verlagen neuerlich in Verhandlung u. möchte für den Fall, dass eine Vereinbarung über einen Essayband zu Stande kommt, darüber verfügen können.
Was die übrigen Manuskripte betrifft, so bitte ich Sie, sie mir zurückzuschicken, nachdem sie ihren Zweck erfüllt haben, Sie mit meiner Person bekannt zu machen. Ich danke Ihnen sehr für das Interesse, das Sie ihnen abgewonnen haben und über das Sie mir so liebenswürdig zu schreiben im Frühjahr sich die Mühe nahmen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie der Sendung auch die Zeitungsausschnitte beilegten, die ich Ihnen sandte, besonders die Titelseite der Neuen Rundschau, auf der der Goetheaufsatz im Inhalt stand. Sollten Sie aber die Zeitungssachen verlegt oder verloren haben, ist es kein Unglück und es braucht Sie nicht zu besorgen.
Ich teile Ihren Wunsch, dass wir uns persönlich kennen lernen, ich fürchte aber ihn zunächst auf die bescheidene Hoffnung begrenzen zu müssen, dass die postalischen Verbindungen etwas unbeschränktere werden und die Briefe schneller gehn und man nicht jeden von Neuem dem Zufall überlassen muss.
Mit nochmaligem Dank für Ihre Sendungen
und vielen Grüssen

Ihr sehr ergebener
Gottfried Benn.

Man kann sich die Bestürzung des Briefempfängers vorstellen, der sich von der ersten Veröffentlichung seines neuen Autors den Beginn einer fruchtbaren Zusammenarbeit versprochen hatte und nun seine Hoffnungen dahinschwinden sah. Schifferlis Antwort nötigt uns Respekt ab, sie zeigt eine eindrucksvolle Haltung, der Verlag leistete den Anordnungen des Autors auf bestem und schnellstem Wege Folge. Zum ersten Mal aber beginnt er seinen Brief mit einer vertraulicheren Anrede:

 

Zürich, den 24. September 1948

Sehr geehrter, lieber Herr Doktor,
Einmal muss es ja sein, dass ich Ihren letzten schmerzlichen Brief beantworten muss, wenn ich es auch lange hinausgezögert habe, weil ich mich erst daran gewöhnen musste, dass Sie mir böse sind. Im ersten Augenblick war ich etwas erzürnt, und wollte Ihnen eine ausführliche Verteidigungsepistel schreiben, wobei ich genau aus Ihren Briefen zitiert und besonders jene Stellen gewählt hätte, worin Sie meine Auswahl Ihrer Gedichte genehmigt und sich immer wieder mit grosser Freude über den Band geäussert hatten. Ich wollte Ihnen auch einen Bericht der Druckerei beilegen, wonach Ihre letzte Aenderung nur mit grosser Schwierigkeit hätte realisiert werden können, nachdem die kleineren Korrekturen noch in der Maschine angebracht werden mussten und alle Ihre früheren Wünsche berücksichtigt worden waren………….
Aber dann legte sich meine Verstimmung und jene schmerzliche Enttäuschung überkam mich, welche noch immer andauert und die es mir zwecklos erscheinen lässt, irgendwelche Verteidigungen oder Entschuldigungen vorzubringen. Ich glaube viel mehr, meine grosse Verehrung für Sie, welche ich Ihnen immer entgegenbringen werde, am besten dadurch unter Beweis zu stellen, dass ich Ihre Anordnungen auf bestem und schnellstem Wege durchführe. Ich benutze deshalb die Gelegenheit eines erneuten Besuches von Herrn Hürsch, um Ihnen die Manuskripte und die mir von Ihnen seiner Zeit zugestellten Presse-Stimmen zuverlässig verpackt zu übermitteln.
Lediglich zwei Fragen möchte ich Ihnen noch vorlegen:

1. Ob Sie bei der Wahl des deutschen Verlegers, bei dem eine Lizenzausgabe der „Statischen Gedichte“ erscheinen soll, irgendwelche spezielle Wünsche haben. Ich habe mich ja seiner Zeit vertraglich verpflichtet, eine Lizenzausgabe in Deutschland herauszubringen, solange unsere schweizerische Originalausgabe nicht frei nach Deutschland exportiert werden kann.

2. Ob es Ihnen tatsächlich nicht möglich ist, den Goethe-Essay mit allen Rechten an meinen Verlag zu übertragen. Denn in absehbarer Zeit wird die Arche in Deutschland eine Zweigfirma eröffnen und dann wahrscheinlich sogar das Hauptgewicht auf den deutschen Markt legen, sodass wir, wie das schon bei den „Statischen Gedichten“ der Fall war, lediglich an der Erwerbung der Gesamtrechte interessiert sind. Selbstverständlich wäre ich bereit, bis zur Möglichkeit eines freien Exportes, eine Lizenzausgabe an einen deutschen Verleger abzutreten. Ich wollte nämlich Ihren Essay als einzigen Beitrag der Arche zum Goethe-Jahr herausbringen, was ein Bekenntnis zu Goethe und zu Ihnen gleichermassen werden sollte.

Ich erlaube mir, Ihnen diesen Brief im Doppel auf dem direkten Postweg zustellen zu lassen und bitte Sie, mir gelegentlich den Eingang der Manuskripte, sowie der ersten zehn Autoren-Exemplare durch Herrn Hürsch zu bestätigen. Die Vermittlung durch Herrn Hürsch ist zur Zeit der einzige Weg, um die Manuskripte an Sie zu senden, da der Schweizer-Kurierdienst überlastet ist und sich geweigert hat, die Sendung zu übernehmen.
Ich schliesse diesen Brief mit der Versicherung, dass ich Ihnen und Ihrem Werk in grosser Verehrung verbunden bleibe und zuversichtlich dem Tag entgegensehe, wo alle Missverständnisse durch eine persönliche Begegnung behoben werden können.
In diesem Sinne verbleibe ich mit dankbaren Grüssen

Ihr
[Peter Schifferli)

Beilage:
Liste der zurückgegebenen Manuskripte und Zeitungsausschnitte, deren Empfang Herr Hürsch schriftlich bestätigt hat. Desgleichen hat er die Bestätigung für den Empfang der ersten 10 Autoren-Exemplare zu Händen des Autors gegeben.

Anfang Oktober waren die Statischen Gedichte endlich im Handel: ein auf gutem Papier in einer klassischen Antiqua gedruckter Pappband in der für die Schweiz selbstverständlichen Qualität. Eberhard Hürsch überbrachte die Autorenexemplare persönlich, und Peter Schifferli schickte am 4. Oktober einen zweiten Brief nach Berlin:

 

Zürich, den 4. Oktober 1948

Sehr geehrter, lieber Herr Doktor,

Zuerst möchte ich mich dafür entschuldigen, dass das Papier, das für Ihren Gedichtband verwendet wurde zwar makellos weiss und holzfrei, aber dafür etwas dünn ist. Wir haben dies erst nach Fertigstellung des Bandes feststellen können, da die Bemusterung mit dickerem Papier erfolgt war. Aus der mit dem Drucker darüber geführten Korrespondenz geht hervor, dass es sich um ausländisches Papier handelt, das zwar in der vereinbarten Gewichtslage bestellt, aber dann mit einem Untergewicht geliefert wurde.
Herr Hürsch wird inzwischen mit den Manuskripten und den Autoren-Exemplaren, sowie mit der kleinen, aber begeisterten Kritik von Max Rychner, von der ich Ihnen noch einmal ein Exemplar beilege, zu Ihnen unterwegs sein.
Heute traf nun ein Gedicht von Alexander von Lernet-Holenia ein, dem ich den Band umgehend gezeigt hatte. Ich lege Ihnen auch dessen Brief an mich bei, den ich gelegentlich zurückerbitte.
In der Hoffnung, dass Herr Hürsch bald bei Ihnen eintrifft, verbleibe ich mit vorzüglicher Hochachtung und dankbarer Verehrung

Ihr
[Peter Schifferli)

Beilage: Brief u. Gedicht.

In der Tat begann mit Max Rychners kleiner, aber begeisterter Kritik das eindrucksvolle Echo, das die Statischen Gedichte und dann die späteren Werke Gottfried Benns überhaupt fanden. Beachtlich war auch der Widerhall, den der Band sofort in Österreich fand. Das im Brief erwähnte Gedicht des Wiener Schriftstellers Alexander Lernet-Holenia bezog sich auf die entscheidende Strophe in dem Mittelstück des dreiteiligen Zyklus „Quartär“, in dem Gottfried Benn „die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg als Ende eines ganzen, Antike und Neuzeit umfassenden Kulturkreises deutet“ (Steinhagen, S. 185). Das Gedicht dokumentiert nicht nur den selbstverständlichen Umgang mit der klassischen Antike, sondern auch die Übereinstimmung vieler Schriftsteller in der Nachkriegszeit, für Benn freilich eine überraschende Wende.
Der Text des Gedichtes von Alexander Lernet-Holenia lautet:

An Gottfried Benn

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaIch schnitt die Gurgel den Schafen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund füllte die Grube mit Blut,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie Schatten kamen und trafen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaasich hier – ich horchte gut –,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaein jeglicher trank, erzählte
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaavon Schwert und Fall und frug,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaauch stier- und schwanenvermählte
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaFrauen weinten im Zug“

Und führest du auch wirklich jenes Wegs,
den, längst vor dir, der Dulder fuhr, zum Rande
der Nacht; und zögest, du und die Gefährten,
an jenem Ufer, das mit Trauerweiden
bestanden ist, mit Erlen und mit Pappeln,
das Schiff zu Land; und sähest noch – so still
ist hier die Luft, das Meer so regungslos –
im nassen Sand die Spur vom Kiele des
Odysseus, ach, und grübest (fändest du
die Grube nicht mehr, welche er gegraben)
landeinwärts mit dem Degen eine zweite,
von einer Elle im Geviert, und gössest
wie er, und dennoch nicht wie er, das Blut
von zweien Schafen, nein, von zweien Kriegen
das ganze Herzblut der Verwundeten,
Verstümmelten und Toten in die Grube
und alle Tränen, die die Welt darum
geweint; und alle Seelen kämen aus
dem Erebos, die wesenlosen Bilder
von Frau’n und Männern, Jünglingen und Bräuten,
noch unentschleierten, von Kindern
und von Königen und Knechten, Kriegern, Greisen
und Priestern, und auch aller Seher Schatten,
die je, im Leben noch, die Völker wie
Gespenster ängsteten; und alle, ein
unendliches Gewimmel, drängten sich,
von Schmuck und Totenkronen, Harnischen
und Diademen schimmernd, an die Grube
und tränken alles Blut und alle Tränen,
und du befragtest sie, – sie blieben stumm,
wie alles stumm geblieben, was du je
befragt, und wendeten sich, wie mit Wagen
und Reitern weithin wendend, von dir ab
und zögen wieder in die Nacht, verhüllt
der Zug der Männer, und von stier- und schwanen-
vermählten Frauen der verweinte Zug.

Noch ehe die Statischen Gedichte erschienen, hatte sich zwischen Gottfried Benn und Max Niedermayer, dem Verleger des 1946 von ihm gegründeten Limes Verlag in Wiesbaden, eine Beziehung angebahnt, die beide Partner zu ganz ungewöhnlicher Produktivität anspornen sollte. Es war sicherlich ein Glücksfall, daß Max Niedermayers kurze Anfrage, datiert vom 27. Juli 1948 – veröffentlicht in Niedermayers immer noch lesenswerten Erinnerungen Pariser Hof (1965, S. 45f.) – gerade in die Zeit fiel, in der sich Benn über den Schweizer Verleger ärgerte. Ein paar Tage bevor er den oben zitierten Brief an Peter Schifferli schrieb, antwortete Benn dem unbekannten Wiesbadener Verleger, für den sich ein junger Literat, Paul Erich Lüth, der damals in der Szene der deutschen Nachkriegsliteratur einen immer noch faszinierenden Wirbel hervorrief, so sehr eingesetzt hatte. Dieser Freund Alfred Döblins besuchte Benn zum ersten Mal im Frühjahr 1948 in Berlin. So wie der gleichaltrige Hürsch die Beziehungen zu Schifferli hergestellt hatte, so war es Lüth, der die Verbindung zu Niedermayer anbahnte: Auch dies war zweifellos eine seltsame Koinzidenz.
Am 18. August 1948 hatte Benn dem neuen Verleger konkrete Vorschläge zur Veröffentlichung seiner Werke unterbreitet, doch er schloß mit der Bemerkung:

Ich kann anständigerweise keinem Verleger zureden, sich dafür zu interessieren, die Sachen würden sehr starken Widerspruch finden und als unzeitgemäß angesehn werden. Die mir so wohl bekannten Angriffe gegen meinen Ästhetizismus, Esoterismus, Asozialismus würden wieder beginnen. Mir persönlich ist das völlig gleich, aber andere mit meinen im wesentlichen tragischen Gedanken zu belasten, kann ich mich kaum entschließen und bin daher gar nicht so versessen darauf, wieder in der Öffentlichkeit zu erscheinen.
Ich bitte Sie, sich den Fall nochmals zu überlegen u. mir mitzuteilen, ob Sie Ihr freundliches Interesse aufrechterhalten wollen. Wenn ja –, würde ich Ihnen die Manuskripte übersenden.

Die Entscheidung, die Benn danach traf, war sicherlich nicht allein aus Verärgerung entstanden. Als deutschem Autor lag ihm verständlicherweise daran, seine Werke in dem Land veröffentlicht zu sehen, in dem er lebte. Er wollte seine Stimme im Nachkriegsdeutschland zu Gehör bringen. In einem Brief an Oelze (22.8.1948) warf er Peter Schifferli Mangel an Respekt vor dem Autor vor, aber er fuhr dann fort: Ich mag ihm als Schweizer auch gar keine Verantwortung für meine Dinge auferlegen und ihn zu Maßnahmen veranlassen, die ihm Schwierigkeiten machen.
In dem Brief vom 24. Oktober 1948, in dem Benn dann den Empfang der Exemplare der Statischen Gedichte bestätigte, teilte er Schifferli seine neue Verlagsbeziehung mit, die inzwischen bereits konkrete Formen angenommen hatte:

 

Dr. G. BENN

Bozener Straße 20 pt.
Facharzt für Hautkrankheiten Tel.: 71 20 97
Berlin-Schöneberg, den 24.X.48.

Sehr verehrter Herr Schifferli,
Herr Hürsch ist eingetroffen und hat mir die 10 Exemplare der Statischen Gedichte überbracht, dazu Ihren Brief (dessen Copie ich schon früher durch die Post erhalten hatte), ferner die Manuskripte und Zeitungsausschnitte und den Brief mit Gedicht von Lernet-Holenia. Haben Sie für das Alles vielen Dank. Der Band der Gedichte ist äusserlich ganz prachtvoll, weit schöner, als es jetzt in Deutschland möglich wäre, schon dafür allein müsste ich Sie meiner grössten Dankbarkeit versichern. Mehr aber noch für die Tatsache des Erscheinens überhaupt. Seien Sie überzeugt, dass ich Ihr Interesse, Ihre Aufmerksamkeit, Ihr Wohlwollen für den Band tief empfinde. Dass der grosse Herr Rychner so schöne Worte für das Erscheinen veröffentlichte, ist mir eine Ehre und eine gewisse Beruhigung im Hinblick auf Sie, nämlich als Zeichen, dass Sie keinen allzu schweren Fehlgriff mit dieser Publikation getan haben.
Ihre beiden Fragen erlaube ich mir folgendermassen zu beantworten:

1) falls Sie noch Interesse an dem Goetheaufsatz haben, übergebe ich Ihnen gern auch die Lizenz für Deutschland dafür. Wenn dies der Fall ist, teilen Sie es mir bitte mit, ich sende ihn Ihnen dann wieder zu.

2) die Lizenz für den Gedichtband in Deutschland: zwei Verlage wären interessiert daran, nämlich a) der Bühler-Verlag in Baden-Baden, er schrieb dieserhalb an mich. Adresse: Langestr. 47 b) der Limes-Verlag in Wiesbaden, Spiegelgasse 9. Inhaber: Herr Max Niedermayer.

Mit diesem Verlag habe ich inzwischen einen Vertrag abgeschlossen über einen Band neuer Essays und einen Band der Ihnen bekannten Novellen, beides soll noch in diesem Winter dort erscheinen. Dieser Verlag will mein gesamtes Oeuvre übernehmen, auch die eventuelle Lizenz von Ihnen für den Goetheaufsatz, falls Sie ihn bringen. Dieser Verlag ist jung, ich kenne ihn nicht näher, aber bei uns ist ja alles problematisch und ungesichert, und der Verleger zeigt sich so impulsiv interessiert, dass ich zunächst über diese beiden Bände mit ihm abgeschlossen habe. Ich persönlich weiss über die geschäftliche Bedeutung dieser Art Lizenzvertragsabschlüsse nicht Bescheid und überlasse es Ihnen zu entscheiden. Sie brauchen sich aber von mir aus garnicht damit zu beeilen und wenn es Ihnen Schwierigkeiten macht, warten Sie doch damit ab.
Zum Schluss eine Bitte, die ich ungern vortrage, da Sie mich ja durch Ihre grosszügigen Paketsendungen überreichlich honoriert haben und ich bestimmt gar keinen Anspruch auf die im Vertrag vorgesehenen 20 Freiexemplare mehr habe. Andernfalls, und da Sie ja in keiner Weise geschäftlich denken, hätte ich grosse Vorteile davon, wenn ich noch die restlichen 10 Exemplare erhalten könnte, um einige an literarische Freunde zu vergeben. Wäre es vielleicht möglich, dass Sie mir als Brief oder Drucksache in gewissen Abständen je ein Exemplar sendeten? Ich wäre Ihnen sehr verbunden dafür.
Und nun nochmals nehmen Sie meinen Dank und den Ausdruck meiner aufrichtigen Ergebenheit. Ich bitte um eine Empfehlung an Ihre Mitarbeiterin Fräulein Ruf.

Ihr ergebenster Gottfried Benn.

Der Brief von Lernet anbei zurück.

Am 30. Oktober 1948 schrieb Max Niedermayer an den Arche Verlag wegen der Lizenzausgabe der Statischen Gedichte, und Schifferli teilte dies umgehend am 2. November Gottfried Benn mit:

Aus dem Urlaub zurückgekehrt, finde ich einen Brief vom Limes-Verlag in Wiesbaden vor. Es scheint, daß Sie sich grundsätzlich mit der Lizenz-Ausgabe unseres Gedichtbandes im Limes-Verlag einverstanden erklärt haben.

Im übrigen bemühte sich Schifferli, Versäumtes wieder gutzumachen: Auch wäre ich Ihnen für einen Hinweis darauf dankbar, ob wir einige oder alle Gedichte, welche Sie s.Z. für unsere Ausgabe vorgeschlagen hatten, in die Lizenz-Ausgabe aufnehmen sollten.
Das Dreiecksverhältnis des Autors zwischen zwei Verlegern mit ähnlichen literarischen Programmen war sicherlich für alle Beteiligten am Ende des denkwürdigen Jahres 1948, mit dem die erste Nachkriegszeit allmählich zu Ende ging, nicht leicht. Doch Schifferli ließ es gegenüber Gottfried Benn nicht an Fairneß fehlen. Er schrieb ihm am 8. November 1948:

Mit dem Limes-Verlag haben wir uns grundsätzlich geeinigt, und ich freue mich herzlich, daß nun Ihr großes Werk in so vielfacher Gestalt erscheinen kann.

Aber auch Benn wußte, daß er dem Schweizer Verlag die Rückkehr in die literarische Öffentlichkeit verdankte. Dieses Verdienst kommt Peter Schifferli und dem Arche Verlag uneingeschränkt zu. Am 12. Dezember 1948 schickte der Autor einen handschriftlichen Weihnachtsgruß nach Zürich:

 

12.XII.1948
Berlin

Sehr verehrter Herr Schifferli,
zu Weihnachten und zu Neujahr möchte ich Ihnen einen Gruss senden und der Hoffnung Ausdruck geben, dass Ihnen angenehme Festtage und ein gutes Neues Jahr bevorsteht. Mit diesem Gruss verbinde ich nochmals meine Gefühle des Dankes gegen Sie und Ihren Verlag, der es mir ermöglichte, wieder in die Deutsche Literatur einzutreten. Ich hoffe, dass Sie es nicht bedauern, durch Herrn Hürsch an mich geraten zu sein und dass Sie die interessante Kritik aus der Frankfurter „Neuen Woche“ vom 20.XI.48 über das Buch erhalten haben.
Zu bedanken habe ich mich dann noch für das Paket vom 9.XI.48, das ich bestimmt nicht meiner literarischen Produktion, sondern allein Ihrer verlegerischen Güte zu verdanken habe.
Nehmen Sie meine Weihnachtswünsche bitte freundlich entgegen und bleiben Sie gewogen

Ihrem aufrichtig ergebenen
Gottfried Benn
(expediert durch Herrn Hürsch) Bitte wenden!

13.XII.48

Ich öffne den Brief nochmals, um Ihnen mitzuteilen, dass ich heute – erst heute! – Ihren Brief vom 16.XI.48 erhielt. Tausend Dank. Anbei den Vertrag zurück, hocherfreut, dass Sie den Plan verwirklichen wollen. Ein Vertragsexemplar anbei zurück; das andere ist von Ihnen nicht unterschrieben, aber es genügt mir auch so vollkommen.

Ihr sehr ergebener
Benn

Der Goethe-Essay erschien zum Goethe-Jahr – freilich wiederum äußerst spät – im August 1949 im Arche Verlag. Das Tempo, das der deutsche Kollege in Wiesbaden vorlegte, war des bedächtigen Schweizers Sache nicht. Der Arche Verlag legte in den Lizenzverhandlungen mit dem deutschen Partner Wert auf äußerste Korrektheit, und so erschien die Lizenzausgabe der Statischen Gedichte erst im März 1949 mit dem Impressum: „Ein Buch der Arche im Limes Verlag Wiesbaden“.
Mit ungewöhnlichem Elan hatte sich Max Niedermayer für das Werk Gottfried Benns eingesetzt. In kürzester Frist waren die Gespräche Drei alte Männer im Dezember 1948 und der Prosaband Der Ptolemäer im Februar 1949 erschienen. Schon im Juni folgte der Band Ausdruckswelt und Ende November bereits der neue Gedichtband Trunkene Flut. Angefeuert durch einen begeisterten Verleger, brachte Benn Buch für Buch heraus: Was sich über Jahre des Schweigens angestaut hatte, kam nun ans Licht. In der Tat: das einzigartige Comeback eines großen Schriftstellers.
Peter Schifferli wäre dieser Rasanz sicherlich nicht gewachsen gewesen, aber die briefliche Verbindung zwischen Autor und Verleger setzte sich über Jahre fort. Durch Schifferli war Benns Interesse an der Schweiz entstanden:

Ich bin jedesmal von neuem überrascht, wie die Schweiz alle geistigen Strömungen aus dem deutschen Sprachraum in sich zu vereinigen versteht, die besten Autoren und die interessantesten Gedanken, alles strömt in Ihr wunderbar gesichertes und blühendes Land. Es rettet, was in Deutschland aus Not und als Folge innerer und äußerer Mängel sonst verlorenginge. (Benn an Schifferli, 9.1.1949)

Insbesondere war Benn von der Aufnahme seiner Gedichte in der Schweiz beeindruckt. In einem langen Brief an seinen Verleger vom 4. September 1949 heißt es:

Was die früheren Gedichte angeht, so habe ich vor einigen Wochen mit dem Limesverlag darüber abgeschlossen, dass sie noch in diesem Herbst dort erscheinen. Hätte ich früher zu ahnen gewagt, dass Sie sich dafür interessieren, hätte ich es wohl nicht getan, nachdem ich sehe, wie sehr beschämend intensiv, klug und nachsichtig die Schweizer Zeitungen meiner gedenken. Vor Allem der Aufsatz von Herrn Rychner ist so überwältigend und führt mit so raffiniert dialektischem Blick und Sinn in meine Welt ein, dass ich immer noch davon benommen bin und zu einem Dank noch keine Distanz und innere Gelassenheit gefunden habe. Er hat auch hier in Deutschland das grösste Aufsehn erregt. Wenn der grösste Literaturkritiker des deutschen Sprachraums sich so mit einem Deutschen beschäftigt, können selbst die Gegner und Konkurrenten das nicht übersehn.
Die Lage in Berlin ist schlecht. Das Einzige, was es bietet, sind Spannungen, täglich, stündlich, geistig und materiell. Ein Netz von Funken und Strahlen fluoresziert ohne Unterbrechung über seinen Dächern. Ich glaube, dass weder Paris noch London so die Zeichen der Gefahren trägt, die uns alle bedrohn. Hier ist Karthago vor der letzten Zerstörung und Pompeji, ehe der Vulkan begann. Aber auch ein schöner Spätsommer ist augenblicklich mit dem schon fahlen Licht und dem Zögern der Rosen und der Stunden. Also etwas für die morbiden Empfangsapparate, wie es das von Herrn Rychner geschilderte „Lyrische Ich“ besitzt.

In der Tat war der Schweizer Max Rychner ein kongenialer Literaturkritiker, für Benns Wirkung in den fünfziger und sechziger Jahren eine Schlüsselfigur. Max Rychner spricht immer wieder von Ihnen und von Ihrem Werk, schrieb Schifferli an Benn am 14. Dezember 1949.

Es zeigt sich immer mehr, daß er in Ihnen die letzte Möglichkeit einer abendländischen Existenz bewundert.

Benn war wieder ein berühmter deutscher Autor geworden, gefeiert, gefragt, gefördert: Preise, Reisen, Rundfunksendungen…
Im Frühjahr 1953 endlich lernte der Autor seinen Verleger kennen. Peter Schifferli schreibt darüber:

Ende März 1953 konnte Gottfried Benn endlich den lange angekündigten Besuch in Zürich machen. Wir hatten uns in der „Kronenhalle“ verabredet. Er hatte den Eckplatz unter der späten Herbstlandschaft von Braque gewählt, deren dunkelbraun-goldener Farbklang sein Gesicht auffallend bleich erscheinen ließ. Als ich auf ihn zutrat, gab er mir wortlos die Hand. Er schaute mich lange an. „So jung sind Sie“, sagte er dann, scheinbar überrascht. Und als ich mich gesetzt hatte, fügte er lächelnd hinzu: „Eigentlich merkwürdig, daß Sie an den Gedichten und Gedanken eines müden alten Mannes in all den Jahren so starken Anteil nehmen konnten…

Schifferli bewahrte seinem Autor auf seine Weise die Treue, doch er machte es seinem Wiesbadener Kollegen dadurch auch nicht leicht. Seit der Lizenzausgabe der Statischen Gedichte 1948/49 stand man im Briefwechsel: Aber Eifersucht und Mißgunst erschwerten die briefliche Verbindung. Zwei angesehene Verleger – der eine ein Schweizer in der Sicherheit seines Landes und der andere ein Deutscher auf den Trümmern der Geschichte – verehrten ihren Autor, aber sie setzten sich über Nebenrechte und Absprachen auseinander. Gottfried Benn stand oft zwischen zwei Feuern; dem einen Verleger kam das Verdienst zu, ihn zuerst veröffentlicht zu haben, dem anderen aber der Erfolg, Benns Werk im In- und Ausland wieder berühmt gemacht zu haben. Schifferli wachte eifersüchtig über seine Rechte, und Niedermayer tat das Gleiche. Nach langem Bangen erlebte es der Dichter anläßlich seines 70. Geburtstags noch, daß seine Gesammelten Gedichte als Ausgabe letzter Hand zum 2. Mai 1956 als Gemeinschaftsunternehmen des Limes Verlags und des Arche Verlags erschienen. Benn hatte intervenieren müssen, da sich die beiden Verleger lange nicht einig werden konnten. Verständlicherweise war Schifferli enttäuscht, daß Niedermayer ihm nicht die Rechte für eine kleine Geburtstagsveröffentlichung einräumte. Es tut mir ganz aufrichtig leid, schrieb Benn am 9. März 1956 nach Zürich, daß in Ihrem berühmten exclusiven Verlag nicht wieder einmal etwas von mir erscheinen sollte, und ich werde, falls ich diesen elenden Geburtstag überstehen sollte, diese Absicht im Auge behalten. Aber, lieber Herr Schifferli, wenn es auch im Augenblick nichts ist, so werde ich doch am 2. Mai Ihrer besonders gedenken, da Sie es waren, der nach 1945 mir den Weg in die literarische Öffentlichkeit wieder eröffnet hat.
Benn hielt Wort. Der letzte Gruß an den Schweizer Verleger, eine Postkarte vom 29. April 1956, hat den Wortlaut:

Sehr verehrter Herr Schifferli,
ich möchte, dass Sie diesen Gruss am 2.V. bekämen. Er soll Ihnen sagen, dass ich an diesem Tag Ihrer mit besonderer Dankbarkeit gedenke.

Ihr ergebenster
Gottfried Benn.

Am 7. Juli 1956 starb Gottfried Benn in Berlin. Auch die Verleger leben nicht mehr: Max Niedermayer verstarb am 23. Mai 1968 im Alter von 63 Jahren, Peter Schifferli am 8. Dezember 1980 59 Jahre alt. Das Kapitel „Gottfried Benn und die Arche“ aber ist Geschichte geworden, man kann heute darüber schreiben.
Die Literaturgeschichte geht eigene Wege. Sie ist nicht nur die Geschichte der Autoren und ihrer Werke, nicht nur die Kenntnis vom Wandel der Wirkung und Rezeption, also nicht nur Lesergeschichte, sondern Literaturgeschichte hat auch die Entstehungsgeschichte literarischer Werke zu untersuchen: Sie ist mit der Geschichte des Buches, der Verleger und ihrer Lektoren aufs engste verknüpft. Ohne Verlagsgeschichte läßt sich neuere Literaturgeschichte nicht verstehen. Die Entstehung von Gottfried Benns Statischen Gedichten ist dafür ein vorzügliches Lehrstück.
Wenn man in Gottfried Benns Gedichten, meist in den Jahren des öffentlichen Schweigens zwischen 1937 und 1947 geschrieben, in der vorliegenden Ausgabe liest, so hat man sich zu erinnern, daß der Band die von Schifferli gewollte Gestalt überliefert. Allerdings: die Reihenfolge entspricht dem Manuskript der 44 Texte, die Gottfried Benn an den Verlag schickte. Von den fünf Gedichten, die nach Schifferlis Meinung den lyrischen Ton des Ganzen so sehr sprengten, wurden zwei bedeutende noch nachträglich eingefügt: „Chopin“ und „St. Petersburg – Mitte des Jahrhunderts“. Die beiden langen Gedichte „Monolog“ und „1886“, die in der Tat unter dem unmittelbaren Eindruck des letzten Krieges im Stil mehr der „expressionistischen“ als der „statischen“ Phase des Autors zugehören, wurden in den Prosaband Doppelleben. Zwei Selbstdarstellungen (Limes Verlag 1950) eingebaut. Das Gedicht „Clemenceau“ schließlich wurde erst posthum in dem Band Primäre Tage publiziert.
Daß der Verleger nach der letzten Korrektur auch noch den dem Autor in seiner damaligen äußeren Situation so wichtigen, die eigene Existenz verschlüsselt spiegelnden Zyklus – „Gewisse Lebensabende“ fortließ, führte dann zu der beschriebenen Krise in der Beziehung zwischen Autor und Verleger. Daß Benn allerdings auf diese Weise das kurze Gedicht „Sommers“ noch im letzten Moment unterbringen konnte, sollte zur Ehre Peter Schifferlis nicht unerwähnt bleiben.
Benn hatte von Anfang an einige ältere Gedichte vorgesehen, die schon in den Ausgewählten Gedichten von 1936 gedruckt waren: „Am Saum des nordischen Meer’s“, „Sils-Maria“, „In Memoriam Höhe 317“, „Liebe“ und „Turin“. Der Verleger erbat drei weitere 1936 gedruckte Gedichte: „Tag, der den Sommer endet“, „Astern“, „Ach, das Erhabene“. Das bedeutete, daß die Statischen Gedichte acht bereits veröffentlichte Texte enthalten. Aber sie fügen sich dem Charakter der „statischen“ Gedichte ein: Mit diesem Terminus bezeichnete der Autor als einstiger expressionistischer Lyriker seine Wende zu Maß und Form, seine Statik im Umbruch der Zeiten. In dem ersten Brief an Peter Schifferli hatte er diese Absicht skizziert. Benn hatte sich seit 1946 um die Veröffentlichung einer Gedichtsammlung Statische Gedichte bei Karl Heinz Henssel und bei anderen Verlegern bemüht. Für den Arche Verlag reicherte er dieses erste Nachkriegsmanuskript an um einige kurze, berühmt gewordene Gedichte, die er den Briefen an Oelze aus Hannover 1936/37 beigelegt hatte: „Anemone“, „Einsamer nie –“, „Wer allein ist –“, „Spät im Jahre –“, „Suchst du –“, „Leben – niederer Wahn“, „Die Gefährten“. Schließlich fügte der Autor noch einige jüngst entstandene Gedichte ein: „Quartär“ und „Orpheus’ Tod“. Das einleitende „Ach, das ferne Land –“ bezeichnete Gottfried Benn in einem Brief an Oelze vom 18. Januar 1945 als sein liebstes Gedicht: Das war eine Augenblickssache und steht mir nahe. So war der Band sorgfältig über Jahre hin bedacht und geplant worden.
Als der Limes Verlag im Frühjahr 1949 die Lizenzausgabe für Deutschland herausgab, unterschied sie sich von der Originalausgabe durch zwei Zusätze:
Das von Peter Schifferli fortgelassene Gedicht – „Gewisse Lebensabende“ wurde aufgenommen und ein neues, „Acheron“, eingefügt. Der Schweizer Verleger hatte dies dem Autor gegenüber zugestanden, wenngleich Niedermayer Komplikationen fürchtete, die aber ausblieben.
Da die Gesammelten Gedichte von 1956 – die Reihenfolge dieser Ausgabe letzter Hand liegt auch der Gesamtausgabe von 1962 zu Grunde – in dem Abschnitt 1937–1947 nicht alle Texte der Statischen Gedichte in der Schweizer bzw. deutschen Ausgabe zusammengelassen haben, ist die Lektüre der Originalausgabe noch immer unentbehrlich, wenn man sich die Bedeutung dieses Lyrikbandes vergegenwärtigen will.
Die Statischen Gedichte haben entscheidend das Benn-Bild der fünfziger und sechziger Jahre geprägt. Schifferli druckte in der ersten Auflage 3.000 Exemplare, und er räumte dem Limes Verlag eine einmalige Lizenzausgabe von 2.000 Stück ein. 1968 erschien die 8. Auflage in der Reihe der „Kleinen Bücher der Arche“: 17.000 Exemplare waren bis dahin verkauft worden, die Statischen Gedichte waren für den Arche Verlag nach dem Tod Gottfried Benns zu einem vielgekauften Geschenkbuch geworden.
Integriert in das literarische Leben der Zeit, war Benn in den fünfziger Jahren der bekannteste Lyriker geworden. Mit der Herausgabe der Statischen Gedichte hatte dieser ungewöhnliche erneute Ruhm begonnen. Eine der hymnischen Kritiken schrieb Friedrich Sieburg im Januar 1949 in der Gegenwart:

Mit einem einzigen Flügelschlag reißt uns eine neue Dichtung Gottfried Benns über das Stimmengewirr der um lyrischen Ausdruck bemühten Gegenwart hoch hinaus. In eisigem Licht wird das menschliche Herz in seiner Einsamkeit plötzlich sichtbar.

Da die Geschichte uns immer wieder einholt, haben wir uns ihrer zu erinnern. Gottfried Benns Statische Gedichte sind ein historisches Dokument des 20. Jahrhunderts geworden. Man sollte an das Ereignis nicht nur erinnern, sondern man sollte diese Lyrik heute wieder lesen. Sie ist für die Gegenwart gültig geblieben.

Paul Raabe, in Gottfried Benn: Statische Gedichte, Sammlung Luchterhand, 1991

Statische Gedichte

Jeder Leser hat wahrscheinlich ein knappes Dutzend Gedichtbände in Griffweite, die so zwischendurch sein Leben strukturieren, ihm eine neue Wendung geben oder gar den berühmten Ruck auslösen, der mit der Lyrik manchmal einhergeht.
Gotfried Benns Statische Gedichte sind so eine fixe Größe auf dem Lyrikbord.

EIN WORT

Ein Wort, ein Satz –:
aus Chiffren steigen
erkanntes Leben, jäher Sinn,
die Sonne steht, die Sphären schweigen
und alles ballt sich zu ihm hin.

Ein Wort –,
ein Glanz, ein Flug, ein Feuer,
ein Flammenwurf, ein Sternenstrich –,
und wieder Dunkel, ungeheuer,
im leeren Raum um Welt und Ich.
(S. 39)

Nach der Lektüre eines solchen Gedichtes läßt sich der Tag leicht in zwei Segmente einteilen: Vor und nach dem Gedicht.
Gottfried Benn schrieb die Gedichte zwischen 1937 und 1947, die Statischen Gedichte wurden 1948 im neu gegründeten Zürcher Arche Verlag gedruckt. Die bibliophile Neuausgabe ist bereichert mit einem Aufsatz Paul Raabes zur Druckgeschichte der Statischen Gedichte. Darin sind auch verschiedene Briefe vorgestellt, in denen das Ringen um die endgültige Fassung, zeitgeschichtliche Einsprengsel und die Kunst des Überlebens in der kargen Nachkriegszeit eine bereits sehr ferne Zeit anklingen lassen.
Gute Lyrik „stimmt“ in jeder Epoche, und gute Neueditionen geben auch den nachgewachsenen, frischen Generationen die Chance, die alten Meister in der gediegenen Grundausstattung authentisch zu erleben. Manchmal hat man den Eindruck, daß von den Jahren letztlich nichts bleibt als ihre jeweiligen Gedichte. So verdichten die Statischen Gedichte jene existentielle Stimmung der vierziger Jahre, die in den Wochenschauen aus der damaligen Zeit nur in schnellen Schwenks angedeutet ist.

Helmuth Schönauer, aus Helmuth Schönauer: Tagebuch eines Bibliothekars, Bd. II, 1999–2003, Sisyphus, 2015

 

Der Verleger und sein Autor

− Rundfunkgespräch mit Max Niedermayer, Karl Schwedhelm und Gottfried Benn am 4.9.1951. −

Karl Schwedhelm: Nun werden doch Übersetzungen Ihrer Werke in andere Sprachen vorbereitet, Herr Dr. Benn. Wo ist vor allen Dingen ein Interesse an Übersetzungen Ihrer Bücher vorhanden?

Gottfried Benn: Wissen Sie, in Frankreich hatte ich immer gewisse Beziehungen. Schon vor 1933 war ich Mitherausgeber für Deutschland von einer sehr bekannten Zeitschrift da. Ich kannte eine ganze Menge von den jüngeren Franzosen, auch Andre Gidé hat mich gelegentlich besucht in Berlin. Also in Frankreich hatte ich einen gewissen Kreis. Viel überraschender, unverständlich ist zum Beispiel, daß ein Buch ins Dänische übersetzt wird: Die drei alten Männer, eine höchst komplizierte und problematische Sache. Erstens schwer zu übersetzen und dann eigentlich auch nicht, was in einem Lande, das nicht unsere Krisen durchgemacht hat und unsere Zersplitterungen kennt, recht erfaßt werden kann, nach meiner Meinung. Aber die Verlegerin, die ich besuchte im vorigen Jahr, versteifte sich gerade auf dieses kleine Buch Drei alte Männer. Sie wollte keine Essays, keine Gedichte, dieses seltsame Buch wollte sie haben. Ich kann es mir überhaupt nicht erklären.

Schwedhelm: Ich kann es mir sehr gut erklären; denn in diesen Gesprächen scheint mir doch die Summe alles dessen gezogen zu sein, was Sie in Ihren Essaybänden ausführlicher begründend und wertend ausgesprochen haben. Es ist dort auf das Menschliche zugespitzt und konzentriert, so wie etwa in Ihre[mJ früheren Gespräch: „Können Dichter die Welt ändern?“. Verfolgen Sie nun damit eine bestimmte Absicht, daß Sie sich vom Reim lösen, Herr Doktor Benn? 

Benn: Ich bin seit einiger Zeit etwas gegen den Reim eingenommen, er erscheint mir zu edel, zu gläubig, zu religiös, möchte ich sagen, er schließt Dinge ab, die gar nicht abschließbar sind. Ich habe ja überhaupt etwas gegen eine sehr idealistische und edle Lyrik, die unserer heutigen inneren Lage wohl nicht entspricht. Außerdem sind ja Strömungen in der Lyrik anderer Länder, die man als journalistische Lyrik bezeichnen könnte, die finde ich sehr viel interessanter. Sie erschöpfen die Realistik unseres Lebens viel mehr, als wenn wir in zarter und sentimentaler Weise immer die alten Lyrikthemen aufgreifen mit unserer Seele und mit unserer Landschaft. Ich bin mehr für Härte.

Schwedhelm: Für Härte. Sie sind auch für Rausch. Also wenn man die Lyrik, die Sie meinen, eine ziselierte oder vielleicht auch – um einen Begriff aus der Anthropologie zu nehmen – eine asthenische Lyrik nennen könnte, dann ist die andere wild und dionysisch und vital. Und so glauben Sie nun auch, etwa in der Art wie Sie es in dem Vorwort der Ausgabe von Audens Zeitalter der Angst gesagt haben, einen weiteren Raum, eine antiidealistische Lyrik schaffen zu müssen.

Benn: Ja, man muß den Idealismus einschränken auf die wenigen Stellen, wo er noch angebracht ist. Die ganze übrige Welt, muß man so nüchtern und so kalt sehen – übrigens, wenn man älter wird, fühlt man das immer mehr. Ich bin nicht der Meinung, daß Altsein heißt Nachgiebigwerden oder Gläubigwerden, sondern ganz im Gegenteil: Wenn man alt ist, kann man sich viel ungenierter aussprechen, weil man sich sagt, was kann mir eigentlich noch passieren? In einem meiner Bücher steht der Satz: immer wieder die Äste absägen, auf denen Sie nisten. Das ist die Methode, mit der man weiterkommt. Wenn man immer auf demselben Ast sitzt und in demselben Nest, kommt man nicht weiter, innerlich. Es kommt gar nicht darauf an, ob die Leute sagen, was ist denn nun der Mann, der soll nun ein Lyriker sein, das ist ja Journalismus, und das ist ja doch ganz und gar kalt und hart, das wollen wir nicht wissen. Von meinem Standpunkt aus bin ich ja in der Lage, immer auf das Niveau mich zu begeben, das mir innerlich gerade liegt. Und so auch in den Gedichten. Das ist ja der große Vorzug des Schriftstellers oder des Schreibenden, nicht wahr, daß er tatsächlich nur auf sich angewiesen zu sein braucht. Allerdings muß er sich auf sich verlassen können.

Schwedhelm: Das haben Sie schon einmal vor langen Jahren – diesen Grundsatz äußerster Ehrlichkeit sich selbst gegenüber – ausgesprochen. Und wenn Sie ihn heute erneuern, so muß man sagen, daß es ein sehr mutiges Bekenntnis ist, daß Sie sich nicht in der Gemeinschaft treffen, daß Sie den Mut zur Einsamkeit haben, daß Sie das, was Sie einmal in der „Rede auf Stefan George“ ausgesprochen haben, selbst nun an sich exerzieren: die Schiffe verbrennen. Wer liest heute in Deutschland, wer liest in der Welt Gottfried Benn?

Max Niedermayer: Es gibt immer noch sehr viele Leute, die Gottfried Benns Werk von vor 1933 kennen, die haben natürlich begeistert sofort wieder diese neuen Bücher aufgenommen. Aber darüber hinaus ist doch sehr stark die Jugend angesprochen worden. Es war für mich überraschend, beispielsweise auf Buchausstellungen, wie sehr junge Leute an unseren Stand kamen und die Prospekte wollten und stundenlang in den Büchern blätterten, die ihnen wohl zum Teil zu teuer sind, und auch aus Briefen sehen wir, daß eben doch die jungen Menschen da etwas finden, was ihnen sonst in der heutigen Zeit niemand gegeben hat.

Schwedhelm: Haben Sie selbst, Herr Dr. Benn, irgendwelche Briefe bekommen, gerade von jungen Menschen, die diese bedingungslose Ehrlichkeit empfanden?

Benn: Ja, ich bekomme erstaunlich viele Briefe von jungen Leuten, von Studenten, von allen möglichen, mit wirklich treffenden Bemerkungen und einer Erkenntnis der Lage, die in diesen Büchern dargestellt ist, die mich überrascht. Ich habe den Eindruck, daß die jüngeren Leute um dreißig viel mehr geeignet sind, diese Dinge zu erfassen wie die mittleren Jahrgänge, die noch etwas romantisch immer noch sind, zwischen vierzig, fünfzig; die sind mehr noch im alten Stil literarisch denkend, während die Jugend ungeheuer radikal denkt und mir oft schreibt.

Schwedhelm: Deshalb glaube ich auch, daß die Übersetzung Ihrer Bücher ins Französische oder auch in das Dänische oder in das Englische in diesen Ländern ebenfalls mit ihrer Diskussionsbereitschaft und ihrer Aufnahmefähigkeit ein lebhaftes Echo haben werden.

Benn: Wissen Sie, in Frankreich hatte ich immer gewisse Beziehungen. Schon vor 1933 war ich Mitherausgeber für Deutschland von einer sehr bekannten Zeitschrift da. Ich kannte eine ganze Menge von den jüngeren Franzosen, auch André Gide hat mich gelegentlich besucht in Berlin. Also in Frankreich hatte ich einen gewissen Kreis. Viel überraschender, unverständlich ist zum Beispiel, daß ein Buch ins Dänische übersetzt wird: die Drei alten Männer, eine höchst komplizierte und problematische Sache. Erstens schwer zu übersetzen und dann eigentlich auch nichts, was in einem Lande, das nicht unsere Krisen durchgemacht hat und unsere Zersplitterungen kennt, recht erfaßt werden kann, nach meiner Meinung. Aber die Verlegerin, die ich besuchte im vorigen Jahr, versteifte sich gerade auf dieses kleine Buch Drei alte Männer. Sie wollte keine Essays und keine Gedichte, dieses seltsame Buch wollte sie haben. Ich kann es mir eigentlich überhaupt nicht erklären.

Schwedhelm: Ich kann es mir sehr gut erklären, denn in diesen Gesprächen scheint mir doch die Summe alles dessen gezogen zu sein, was Sie in Ihren Essaybänden ausführlicher begründend und wertend ausgesprochen haben. Es ist dort auf das Menschliche zugespitzt und konzentriert, so wie etwa auch in Ihrem früheren Gespräch „Können Dichter die Welt ändern?“

Ihre Ankündigungen lassen erkennen, daß Sie in diesem Herbst noch einen neuen Essayband von Gottfried Benn herausgeben wollen, Herr Niedermayer. Was wird er im einzelnen enthalten?

Niedermayer: Er wird vor allem den großen Essay „Dorische Welt“ enthalten, „Das Genieproblem“, dann den Aufsatz „Expressionismus“, der erstmals 1933 erschien und in der damaligen Zeit den Expressionismus verteidigte.

Schwedhelm: Wenn Sie das Wort „Dorische Welt“ sagen, dann erinnere ich mich an die lange zurückliegende Lektüre dieses Aufsatzes, und auch in ihm wie in den vielen später folgenden Schriften ist mir nichts so deutlich geworden, als daß die Prosa Gottfried Benns nur durch eine hauchdünne Haut von der Poesie getrennt wird, daß sie sehr oft durch diese Haut hindurchbricht und Poesie wird. Und das scheint mir doch im besonderen Sinne ein Kennzeichen des Expressionismus zu sein, das einzige konsequent erhaltene und weiterentwickelte Erbe dieses starken poetischen Impetus aus den zwanziger Jahren. Herr Dr. Benn, sehen Sie es auch in der Folge des Expressionismus oder sehen Sie eine andere Genesis dafür?

Benn: Ich sehe da noch als Hintergrund Nietzsche, der uns gelehrt hat, eine Seite Prosa zu meißeln wie eine Statue. Dieses ist ein unvergängliches Wort von ihm, und in Deutschland war es eine Neuheit, daß jemand das sagte. Prosa besteht ja auch aus Worten, und das ist ja immer wieder das Problem: die Worte zur Verfügung zu haben und wissen als Autor, über welche Worte man verfügt. Das ist das Prinzip in der Lyrik, und das ist auch das Prinzip in der Prosa. Es kommt immer wieder darauf hinaus, daß ich sage, es gibt nichts Schlimmeres, wie sich seiner Grenzen nicht bewußt zu sein für einen Autor. Alles streift den Dilettantismus, was von anderen inneren Voraussetzungen ausgeht, als man in sich spürt. Und das ist das Wichtigste, was ein Autor lernen muß: was kann er, und was kann er nicht.

Schwedhelm: Die Wörter sind bei Ihnen Pfeile, sie treffen haargenau das, was Sie an psychologischen und physiologischen Sachverhalten ausdrücken wollen, und daß nun in dem neuen Essayband die „Dorische Welt“ wieder enthalten sein wird, das ist mir ein schöner Beweis dafür, wie stark Ihre Gedanken einer neuen poetischen Anthropologie auch jetzt noch wirksam sind. Die Form, die konsequente Kunst zusammengedrängt in den paar Zeilen eines Gedichts, in einer Statue, oder – wie Sie es ja einmal genannt haben – in einem Flötenlied, das hat wohl Anspruch darauf, zu dauern. Es ist nicht umsonst, daß in dem Bande, der Geliebte Verse heißt, sehr viele der führenden deutschen Geister sich ein Gedicht von Gottfried Benn als das liebste ausgesucht haben.

Niedermayer: Wir sind etwas kritisiert worden, weil wir diesen Band so wettkampfmäßig aufzogen. Wir haben 20 Persönlichkeiten aus dem Geistesleben gefragt, Angehörige verschiedener Generationen, also nicht nur die Älteren, sondern auch gerade jüngere Vertreter, und in diesem Band ist zu vieler Leute Überraschung, nicht zu meiner weil ich diese Dinge etwas übersehen konnte −, Gottfried Benn am häufigsten genannt worden. Der Kreis der Auswählenden ging von dem Philosophen Heidegger bis zur Schauspielerin Pamela Wedekind, so daß also auch in dieser Beziehung ein breiter Querschnitt gegeben war.

Benn: Da das Thema dieser Unterhaltung ja „Verleger und Autor“ ist, möchte ich einmal den jüngeren Zuhörern, den jüngeren Dichtern sagen: Verleger sind keine Wohltäter und können keine Wohltäter sein. Wenn einer sechs Gedichte geschrieben hat, kann er nicht erwarten, daß ein Verleger oder ein Staat oder eine Stadt ihn nun jahrelang erhalten, das ist unmöglich. Und wenn ich den jungen Schriftstellern in dieser Richtung noch einen Rat geben kann oder eine Moral auf den Weg geben kann, so würde ich sagen: spät ankommen; spät ankommen bei sich selbst, spät ankommen beim Erfolg, spät ankommen bei den Banketts und den Akademien – abwarten, was aus einem wird. Nicht nach sechs Gedichten, nicht nach zwölf Gedichten denken, die Welt horcht auf. Das ist ein Standpunkt, den man ja in den Briefen, die ich auch immer wieder sehe, findet. Sie schicken zwei Gedichte, und nun denken sie, man wird verblüfft sein über diese Genialität. Das ist nicht der Fall. Die jungen Leute dichten ja alle, wie mir Prof. Ernst Robert Curtius neulich schrieb: „Diese jungen Leute, sie sind wie die jungen Vögel: im Frühling singen sie alle, und im Sommer sind sie schon wieder still.“ Also, etwas Zurückhaltung, auch wenn man sechs Gedichte gemacht hat.

Schwedhelm: Die Jugendproduktion an Poesie ist ja ein beinah physiologischer Vorgang. Wenn er abgeschlossen ist, und das tritt spätestens in dem Augenblick ein, wenn die äußeren Verhältnisse einen Beruf erzwingen, dann bleibt bestenfalls eins erhalten: die Fähigkeit, fremde überragende dichterische Arbeiten mit einem gewissen Maß von Ehrfurcht und auch von wacher Kritik wahrzunehmen. Und das ist auch vielleicht das, was Sie mit Ihrem Bande versucht haben, Herr Niedermayer, eine Art geistiger Bilanz unter den Leuten, denen man ein Urteil über Gedichte zutrauen kann, und das Ergebnis Ihrer Umfrage hat ja gezeigt, daß Sie keine Unwürdigen befragt haben.
An Ihrem 65. Geburtstag, Herr Dr. Benn, sind eine Anzahl von Aufsätzen erschienen, die nun nicht durchgehends gut sind. Aber aus einem ist mir doch eine Wendung erinnerlich geblieben, die mir etwas Wesentliches auszusprechen scheint, nämlich den Satz, daß Sie Ihre gedankliche Arbeit beim Dichten im schöpferischen Vorgang und im Umgang mit der Sprache immer erst entwickeln; denn wir haben ja seit Nietzsche in Deutschland niemals mehr eine Prosa gehabt, die so völlig neu in ihrem gesamten Bild und in ihren Ausdrucksmöglichkeiten gewesen ist. Hier wird zum erstenmal der ganze Raum der Geschichte aufgerissen, es werden alle unterbewußten und bewußten Sachverhalte der menschlichen Existenz sichtbar, und das alles in einer Sprache, die nun nicht etwa wissenschaftlich ist, da wäre es noch verständlich, sondern die in jeder Zeile und in jedem Ausdruck dichterisch ist. Darf ich Sie noch fragen, in welchem Ihrer Werke aus den letzten zwanzig Jahren Ihr Gedankliches am stärksten Ihnen selber ausgeprägt erscheint?

Benn: Ich möchte zunächst dazu bemerken, daß ich als das spezifisch Moderne überhaupt die Kombination von Lyrik und Essay empfinde. Es beginnt bei Nietzsche, Sie finden es bei Valéry, und Sie finden es bei Eliot. Ich glaube, daß Lyrik ohne Theorie der Lyrik überhaupt bei einem größeren Lyriker nicht mehr möglich ist. Und wenn Sie mich fragen, worin ich in letzter Zeit mich am meisten ausgesprochen habe, würde ich sagen, es ist die Rede oder der Aufsatz „Nietzsche – nach 50 Jahren“, wo ich einen Abriß des heutigen Menschen gebe, und es ist die Einleitung zu Audens Zeitalter der Angst, das jetzt auch erschienen ist im Limes-Verlag. Wenn Sie diese beiden Studien lesen, haben Sie ein klares Bild von dem, was ich augenblicklich wohl für interessant und wesentlich halte in der Literatur.

Schwedhelm: Und das, wenn ich es recht verstehe, die deutlichste Absage an allen landläufigen Nihilismus ist.

Benn: Ja, dieser Nihilismus ist eine ganz überholte und nichtssagende Bemerkung. Ich habe schon 1931 in der „Rede auf Heinrich Mann“ gesagt: „Nihilismus ist ein Glücksgefühl“. Ich meine damit, auf Grund einer nihilistischen Einstellung kommt man überhaupt zum Schöpferischen. Ein anderer Satz in dieser Rede lautet: „Überall der tiefe Nihilismus der Werte, aber darüber die Transzendenz der schöpferischen Lust.“ Das sind die Pole: der Nihilismus und die Kunst.

Aus: Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Band VII/1, Klett-Cotta, 2003

 

Wir werden in Wiesbaden sein bei meinem Verleger. … Es wird anstrengend sein, mit Radiosendungen u dem ganzen Unfug, der dazugehört.

Benn an Gertrud Zwerenz am 23. April 1951
Das Gespräch wurde unter dem Titel „Nihilismus und schöpferische Lust“ ausgestrahlt

 

Statische Gedichte

Alle lieben Gottfried Benn. An diesem klirrend kalten Vormittag im Monat März, nur wenige Monate vor seinem fünfzigsten Todestag, mehr als siebzig Jahre nach seinem fatalen, wenn auch kurzen Flirt mit dem Nationalsozialismus, erhebt sich weit und breit keine nennenswerte Stimme gegen ihn – nicht in meinem Bücherregal, nicht in meiner Zeitung, und da draußen im Garten, wo sich die Amseln über den unerwarteten Kälteeinbruch beschweren, schon gar nicht. Aus dem großen Polarisierer von einst ist der große Einiger geworden – zumindest einer, auf den sich fast alle einigen können. Als die Zeitschrift Das Gedicht vor einigen Jahren mit einer „Liste der Jahrhundertlyriker“ um mediale Aufmerksamkeit warb, stand Benn trotz bunt zusammengewürfelter Jury mit großem Vorsprung auf Platz eins. Ob neue Traditionalisten, ob alte Avantgardisten, sie alle lieben Gottfried Benn.
Wirklich? Oder hat sich da auch mancher falsche Freund eingeschlichen? Benn war zwar in jeder Werkphase ein avancierter Dichter, aber ein Verächter der Tradition war er nicht. Selbst als er offiziell noch mit den Nazis paktierte, beklagte er bereits die dümmliche Traditionsvergessenheit der Naziliteraten:

Am liebsten möchten sie alles, was überhaupt noch seine Anschauungen in prägnante Formeln bringt, Formeln, die das Gemeinte unverwechselbar und schonungslos ausdrücken, was gleichbedeutend ist mit: es nachprüfbar, diskussionsfähig, geschichtsfähig zu machen, als fremdstämmig, unrassisch, undeutsch denunzieren; schon der Drang zur Form, das ist mediterran; Klarheit widernatürlich; Begriffsleben unreligiös.

Das ist als verkappte poetologische Äußerung bedeutsam, weil es zeigt, was Benn von Literatur verlangt: nachprüfbaren, diskussionsfähigen, geschichtsfähigen Ausdruck, der sich in präzise gehandhabter sprachlicher Form widerspiegelt. Benn erteilt hier nicht nur den nach oben drängelnden Propagandaliteraten der Nazizeit eine deutliche Abfuhr, sondern allem vagen Sprachgewaber im Gedicht zuvor und seitdem.
Das Statement aus „Lebensweg eines Intellektualisten“ zeigt zudem, daß Benn ein ungebrochenes und produktives Verhältnis zur Sprache unterhielt. Vom Verstummen kann bei ihm trotz dramatisch wechselnder Lebensumstände, trotz zeitweisen Publikations- und Schreibverbots und einer Fülle privater Schicksalsschläge kaum je die Rede sein, auch wenn das eher schmale lyrische Werk bei oberflächlicher Betrachtung diesen Schluß nahelegen mag. Benn war ein Hartgesottener, der sich so schnell nicht entmutigen ließ. Deswegen ist er auch ein prima Dichter für all jene, denen das Klischee vom ach-so-feinsinnigen Poeten à la Rilke auf die Nerven geht. Er selbst hat das übrigens ganz ähnlich gesehen:

Meine Herren Nachfolger, lassen Sie sich ruhig von mir provozieren, ich hoffe, es macht Sie hart. Härte ist das größte Geschenk für den Künstler, Härte gegen sich selbst und gegen sein Werk.

Daß die Herren (und Damen) Nachfolger sich heute so gar nicht mehr provozieren lassen wollen, müßte ihn also eigentlich wurmen. Nicht, daß Benn etwas gegen Ehre, Ruhm und gepflegte Anbetung einzuwenden gehabt hätte, keineswegs. Aber wenn es sein mußte, kam er lange Zeit ohne diese feilen Geschwister aus. Und falls er je nennenswerte Selbstzweifel gehegt haben sollte, verstand er es offenbar, sie künstlerisch fruchtbar zu machen.
Daß unser Mann zumindest auf dem Papier kein Weichling war, ändert nichts an seiner Wertschätzung für Gedichte. Auch als Prosaist ist er stets Lyriker geblieben. Was diese seltsame Spezies auszeichnet, hat er selbst einmal so formuliert:

Für den Lyriker ist das Wort eine körperliche Sache.

Ein großartiger Satz, dessen vielfältige Implikationen erst nach einigem Hinundherwenden sichtbar werden. Meint der Hinweis auf das „Körperliche“, daß Worte nicht nur Platzhalter für die Realität sind, sondern selbst aus Fleisch und Blut? Oder ist der Umgang mit Worten für den Lyriker etwas so Forderndes und Zehrendes, daß er nicht nur mit geistigem, sondern auch mit körperlichem Einsatz zu leisten ist?
Letztlich wird beides gemeint sein: eine Begegnung des Lyrikers mit der Sprache in ihren vielfältigen Verkörperungen, mit allem, was zwischen zwei Leibern so stattfinden kann: Wettkampf und Siegen, Ringen und Unterliegen, Trennung und Vereinigung, Verständigung und Fremdheit. Das Zitat ist auch deshalb besonders schön, weil es die starke Geistbezogenheit aufbricht, die Benn in seinen Äußerungen über Kunst sonst gern zur Schau stellt. „Das Gegenglück, der Geist“, wie es in seinem berühmten Gedicht „Einsamer nie –“ heißt, ist nicht nur eine asketische, sondern auch eine durch und durch lustvolle Angelegenheit – wenn auch vielleicht auf etwas selbstbezogene und abgeschiedene Art.
Askese paßt ohnehin nicht recht zu Benn, der gern reichlich und regelmäßig speiste, genußvoll rauchte, mit Begeisterung Bier trank und das Körperliche keineswegs nur in der Sprache, sondern auch bei einer ziemlich sprachlos machenden Zahl von Frauen suchte. Immerhin dreimal in seinem Leben hat er überdies „die Ringe“ getauscht. Nein, ein Asket war der kleine, füllige Mann nicht, eher schon ein dichtender Hobbit mit Hang zu militärischem Reglement. Doch wenn es um den Leib der schönen Literatur geht, ist üppiges Leben noch kein Garant auf Erfüllung. Wie also ist es um Benns Anspruch bestellt, Literatur habe „nachprüfbar, diskussionsfähig, geschichtsfähig“ zu sein! Ist er ihm selbst gerecht geworden?
Wir wollen dieser Frage mit habitueller Unvoreingenommenheit nachgehen. Unser besonderes Augenmerk gilt dabei dem Band Statische Gedichte, der im Jahr 1948 als erste Nachkriegsveröffentlichung Benns erschienen ist. Das Buch dürfte manche Zeitgenossen schon durch seinen Titel verwundert haben, der so gar nicht wie Aufbruch und Neuanfang tönte. Trotzdem leitete es die Phase der größten Anerkennung im Leben des Dichters ein. Warum war Benn in den fünfziger Jahren auf einmal so erfolgreich, daß man ihm eilends sogar den wiederbelebten Büchner-Preis zuerkannte? Weil er ein selten wortmächtiger Sprachartist war? Weil sein „Arcanum restauraroribus“, wie Peter Rühmkorf das Bennsche Geister- und Geistesreich spöttisch nannte, so gut in die Atmosphäre der Adenauerzeit paßte? Oder weil sich unter den „inneren Emigranten“ schlichtweg keiner finden wollte, der in „den dunklen Jahren“ namhaftere Literatur in nennenswerterer Menge produziert hatte!
Fragen über Fragen. Letztlich wird jeder für sich entscheiden müssen, wie er es mit dem eisernen Hobbit und dessen Spätwerk hält. Aber auf der Suche nach Antworten will Ihr Lyrikprüfer gern behilflich sein. Bestenfalls gelingt es ihm sogar, einige feinsinnige Bewunderer in harte Skeptiker zu verwandeln. Benn hat Besseres als nur Verehrung verdient.

*

Auf die Frage nach der ungebrochenen Wertschätzung Benns gibt es eine einfache Antwort: Der Mann war als Lyriker mehr als vierzig Jahre lang aktiv. So vielgestaltig ist sein Werk, daß jeder sich die Scheibe herausschneiden kann, die ihm am besten schmeckt. Kurz vor seinem Tod resümiert er in einem seiner berühmtesten Gedichte, „Nur zwei Dinge“:

Durch so viel Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu!

Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewußt,
es gibt nur eines: ertrage
– ob Sinn, ob Sucht, ob Sage –
dein fernbestimmtes: Du mußt.

„Ich und Wir und Du“ bezeichnen für Benn nicht nur Formen der äußeren Existenz – die dann wohl mit Schlagwörtern wie Einsamkeit, Geselligkeit und Ehe zu belegen wären –, sondern auch sprachliche Formen, also Gedichtsubjekte. Das „Ich“, von dem hier die Rede ist, läßt sich als außerliterarische Zivilperson gar nicht denken. Es ist immer und in erster Linie ein „lyrisches Ich“ in dem Sinn, wie Benn es in seiner berühmten Rede „Probleme der Lyrik“, geschildert hat:

Bei der Herstellung eines Gedichtes beobachtet man nicht nur das Gedicht, sondern auch sich selber. Die Herstellung des Gedichtes selbst ist ein Thema, nicht das einzige Thema, aber in gewisser Weise klingt es überall an.

Benn hat sein Leben nicht nur mit Gedichten begleitet, er hat seine ganze Existenz mit kühler Emphase als Künstler, das heißt: als Selbstbeobachter, gelebt. Anders als etwa Rilke ist er auf der Suche nach lyrischen Stimulationen aber nicht kreuz und quer durch Europa gereist, sondern selbst dann fein zu Hause geblieben, als politische Umstände dies fast schon unmöglich machten. Angst vor innerer „Leere“ scheint er nicht gekannt zu haben. Im Gegenteil, es klingt fast sehnsüchtig, wenn er im selben Gedicht schreibt:

Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.

Man kann sich durchaus fragen, ob die „Herstellung des Gedichtes“ in diesem Stück nicht schon zu sehr Thema geworden ist. Die Mechanik der Sprache rattert gerade dort sehr vernehmlich, wo der Schalmeienklang der Poesie besonders verführerisch ertönen soll:

es gibt nur eines: ertrage
– ob Sinn, ob Sucht, ob Sage –
dein fernbestimmtes : Du mußt.

Sinn, Sucht, Sage: Was diese drei Wörter eint, mehr als ihr semantischer Gehalt, das ist ein sprachlicher Trick, die Alliteration. Der kantige dreifache Stabreim auf den Buchstaben „S“ dient eher der Erzeugung sprachlicher Räusche als der Erzeugung von Sinn. Gegen die Versuchungen klangvoller Überorchestrierung war Benn, wie viele große Sprachartisten, nicht gefeit. Immerhin hat er versucht, ihnen durch Ausnüchterung in Perspektive und Weltanschauung zu begegnen.
Jemand, der ein „fernbestimmtes: Du mußt“ spürt, glaubt sicherlich nur bedingt an die Fähigkeit, seinen Lebensweg zu steuern und seine Persönlichkeit aus der ihr zugewiesenen Bahn zu lenken. Man darf diesen Fatalismus nicht als Bescheidenheit mißverstehen: Da das Ich laut Benn das einzige ist, was der Mensch der Leere entgegenzusetzen hat („es gibt nur zwei Dinge: die Leere / und das gezeichnete Ich“), kommt den Lyrikern als Spezialisten des Ichs ein hoher gesellschaftlicher Stellenwert zu – in Benns Weltsicht wohl der höchste von allen. Entsprechend selbstbewußt ist unser Mann seinen Sonderweg als Künstler gegangen.
Der fast religiös anmutende Glaube an die Schicksalsbestimmtheit des Einzelnen findet seine größere Entsprechung in der Schicksalsbestimmtheit des Weltganzen. Deshalb sind in dem zitierten Gedicht nicht nur „Rosen“ verblichen, sondern gleich ganze „Meere“. Der eine Vorgang dauert wenige Sommerwochen, der andere ein, zwei Erdzeitalter, und dennoch stehen beide in größter Verknappung und mit größter Selbstverständlichkeit nebeneinander. Hören wir uns die Strophe ruhig noch einmal an, sie ist in ihrer Mischung aus wuchtigem Verkündungston und nüchterner Bilanzbuchhaltung typisch für die späten Gedichte unseres Prüflings:

Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.

Durch viele Formen geschritten zu sein – das gibt Benn also zu. Daß er sich seinen frühen Gedichten im Alter nicht ohne Schwierigkeiten nähern konnte, räumt er ebenfalls ohne weiteres ein. Zu einer Auswahlausgabe seines Frühwerkes schreibt er im Jahr 1952:

Ich gestehe, um die Korrekturen des vorliegenden Bandes lesen zu können, bedurfte es zahlreicher Aperitifs und Cocktails für Gemüt und Magen, dann allerdings erschien mir das Ganze als Wurf und Wahnsinn gut. Ich dachte zurück. Es muß eine schwere Krankheit gewesen sein, jetzt ist sie ausgeheilt. Ist sie ausgeheilt?

Eine bange und berechtigte Frage, die wir einstweilen im Gedächtnis behalten wollen. Der Gedichtband Statische Gedichte favorisiert jedoch eine ganz andere Form von Künstlerbiographie. Im Titelgedicht, das den Band beschließt, heißt es:

Entwicklungsfremdheit
ist die Tiefe des Weisen,
Kinder und Kindeskinder
beunruhigen ihn nicht,
dringen nicht in ihn ein.

Richtungen vertreten,
Handeln,
Zu- und Abreisen
ist das Zeichen einer Welt,
die nicht klar sieht.
Vor meinem Fenster
– sagt der Weise –
liegt ein Tal,
darin sammeln sich die Schatten,
zwei Pappeln säumen einen Weg,
du weißt – wohin.
(…)

Ein seltsamer Heiliger, dessen Souveränität sich in Unbelehrbarkeit äußert. Zum Glück gibt Benn durch die Blume zu verstehen, daß er so weise niemals gewesen ist. Er hat nicht klargesehen, er hat Richtungen vertreten, zweifelhafte obendrein, er hat Nachkommen in die Welt gesetzt, und seine frühen Werke erscheinen ihm im nachhinein als Symptome einer schweren Krankheit.
Der eiserne Hobbit mag dies im Ton des Bedauerns äußern, doch in Wahrheit spricht er von einem Glücksfall. Denn mehr als gegen alle Zeitströmungen mußte sich seine lyrische Entwicklung gegen einen habituellen, fast schon zwanghaften Drang zur Abgrenzung und Selbstberuhigung durchsetzen. Daß sie es getan hat, ist ein Glück für den Dichter, für seine Leser und für die deutsche Literatur. Wenn er die „Krankheit“ seiner frühen Jahre am Ende seines Lebens mehr oder weniger überwunden hat, so zeigt das vielleicht, daß er kein Weiser war – es zeigt aber auch, daß er lernfähiger war, als ein Künstler seiner Meinung nach sein sollte.

*

Fünf Phasen lassen sich im lyrischen Werk Benns unterscheiden, unter Berücksichtigung diverser Übergangsphänomene und Mischformen. Die erste Phase wird durch das Erscheinen des Lyrikheftes Morgue und andere Gedichte im Jahr 1912 eingeläutet. Es ist das Jahr, in dem sich Benn als Arzt approbiert hat und zeitweilig in der Pathologie des Krankenhauses Charlottenburg-Westend arbeitet. Ein effizienteres Verhältnis von Aufwand und Wirkung als mit den gerade mal zwölf Druckseiten von Morgue ist in der deutschen Literatur selten erzielt worden. Mit diesen Aufzeichnungen aus einem Totenhaus könnte wohl noch heute ein ambitionierter Deutschlehrer seine an Rammstein und Marilyn Manson geschulten Zöglinge aus dem Unterrichtsschlaf reißen.

Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte,
sah so angeknabbert aus.
Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.
Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell
fand man ein Nest von jungen Ratten.
Ein kleines Schwesterchen lag tot.
Die andern lebten von Leber und Niere,
tranken das kalte Blut und hatten
hier eine schöne Jugend verlebt.
(…)

Eine gewisse Verzerrung der Stimme ist – Stichwort Rammstein – auch bei Benn nicht zu überhören. Der scheinbar sachliche Blick des Mediziners hält den schnöden Tatsachen auf dem Seziertisch nicht lange stand. Unser Dichterarzt versucht zwar, sich auf kommißhafte Rauhbeinigkeit herauszureden, doch sein rhetorisch aufgesteilter Zynismus überdeckt nur notdürftig sein tiefes, zutiefst abendländisches Entsetzen vor der Sinnlosigkeit und Abscheulichkeit des Todes. Hinter all den Kaltschnäuzigkeiten windet sich ein Romantiker, der seinen Naturbegriff von den nackten Fakten widerlegt sieht.
Die zweite Werkphase kommt erst nach einer mehrjährigen Pause so richtig in Schwung. Der Erste Weltkrieg ist ausgebrochen, Benn zieht als Militärarzt in den Krieg. Längere Zeit ist er im deutsch besetzten Brüssel in einem Prostituiertenkrankenhaus tätig. In den Gedichten, die hier entstehen, klingt noch der Ton der Morgue nach, nun jedoch mit stärker aufgedrehter Verzerrung.

Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch –:
geht doch mit andern Tieren um!
Mit siebzehn Jahren Filzläuse,
zwischen üblen Schnauzen hin und her,
Darmkrankheiten und Alimente,
Weiber und Infusorien,
mit vierzig fängt die Blase an zu laufen –:
meint ihr, um solch Geknolle wuchs die Erde
von Sonne bis zum Mond –? Was kläfft ihr denn?
(…)

Aus dem noch sachlich gebändigten Entsetzen der Morgue-Gedichte ist unverhohlener Weltekel geworden. Ohne die Kriegssituation, die Benn nachhaltig geprägt hat, sind diese Verse schwerlich denkbar: Jedem idealistischen Überbau für das Sterben an der Front und dahinter setzt Benn die abstoßenden organischen Verfallsprozesse des menschlichen Körpers entgegen. Anders als etwa die zur Kenntlichkeit entstellten Fratzen der Kriegsgewinnler auf den Bildern eines George Grosz verstehen sich Benns virtuose Haßtiraden jedoch keineswegs als soziale Anklage. Sie richten sich nicht gegen Ausbeuter, sie feuern unterschiedslos auf alles, was sich bewegt: Kleinbürger, Bürger, Proletarier. Letztlich richten sie sich gegen die Verletzlichkeit des menschlichen Körpers.
Benn ist auch ein Produkt des Systems, an dessen krankhaften Auswüchsen er hier herumdoktert. Den militärischen Habitus hat er sein Leben lang gepflegt, in der unsentimentalen Selbstanalyse ebenso wie in einem fast zwanghaft durchorganisierten Tagesablauf (bei Verabredungen erwartete der eiserne Hobbit stets minutenpünktliches Eintreffen). Im nachhinein hat sich ihm die Zeit im besetzen Brüssel gar zur schönsten aller Lebensphasen verklärt; er konnte davon schwärmen wie mancher traumatisierte Weltkrieg-zwo-Teilnehmer von der unnachahmlichen Kameradschaft beim Rußlandfeldzug. Natürlich galt seine Apotheose nicht dem menschlichen Zusammenhalt. Nein, die Brüsseler Etappe wurde ihm zum Inbegriff literarischer Schaffenskraft – seiner eigenen, versteht sich.
Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg eröffnet Benn in Kreuzberg eine Praxis für Haut- und Geschlechtskrankheiten. Fast zwanzig Jahre lang, von 1918 bis 1935, hat er in dem Haus Belle-Alliance-/Ecke Yorckstraße seine Vierzimmer-Wohnpraxis betrieben, mit Gedichtmanuskripten in der Schublade, mit Geschlechtskranken vor dem Schreibtisch und mit wachsendem Insider-Ruhm innerhalb des literarischen Berlins. Wohin aber kann sich ein Werk aus der äußersten Zuspitzung entwickeln? Benns Antwort in der dritten Werkphase lautet: Abkehr von drastischen Schockmomenten, Hinwendung zu klassischen Gedichtformen, jedoch ohne klassischen Sprachduktus. Er brilliert nun mit einer Fremd- und Reizwortfülle, welche die Welt so bislang noch nicht vernommen hat:

Keime, Begriffsgenesen,
Broadway, Azimut,
Turf- und Nebelwesen
mischt der Sänger im Blut,
immer in Gestaltung,
immer dem Worte zu
nach Vergessen der Spaltung
zwischen ich und du.

Neurogene Leier,
fahle Hyperämien,
Blutdruckschleier
mittels Koffein,
keiner kann ermessen
dies: dem einen zu,
ewig dem Vergessen
zwischen ich und du.

Soweit die zwei Eingangsstrophen des Gedichtes „Der Sänger“, 1925 in dem Band Spaltung erschienen. Aber nicht um Spaltung geht es Benn, sondern um deren Überwindung durch Kunst: Die Spaltung von „ich und du“ soll er hinter sich lassen, dieser Sänger, ganz wie es einst Orpheus tat, ganz so, wie es nur zwei Jahre zuvor Rilke in seinen Sonetten an Orpheus versucht hat. Was aber singt er, der Sänger, oder, mit dem Titel eines anderen Gedichtes zu sprechen, das ebenfalls in dieser Zeit entsteht, aber erst posthum veröffentlicht wird, „Was singst du denn –“:

was singst du denn, die Sunde
sind hell von Dorerschnee,
es ist eine alte Stunde,
eine alte Sage der See:
Meerwiddern und Delphinen
die leichtbewegte Last –
gilt es den Göttern, ihnen,
was du gesungen hast!

Nicht mehr der Einzelne, sondern das historisch-mythologische Ganze steht zur Verhandlung. Angeekelt von Weltengang und Menschendrang hat sich Doktor Benn von seinen Patienten abgewandt und Halt und Haltung in ewigen Themen gesucht. Er inszeniert nun sprachtrunkene Bildungsspiele; achtzeilige Reimstrophen werden sein Markenzeichen.
Frühe Hochkulturen, Figuren der Antike – das ist der Stoff, aus dem die abendländisch-humanistische Bildung gemacht ist. Er ist nun auch der Stoff Bennscher Gedichte. Was am ehesten auf der Strecke bleibt, ist ausgerechnet die so angestrengt an die aufgewühlte Sprachoberfläche gespielte Bedeutung. Reim mich oder ich freß’ dich – dazu muß man nicht „Herz“ auf „Schmerz“, dazu kann man auch „Sunde“ auf „Stunde“ reimen, ohne daß dem oberflächlichen Zugewinn an jongleurhafter Artistik irgendein tieferer innerer Zuwachs an Erkenntnis entspräche.
Gern benutzt Doktor Benn die ganz großen Wörter, so groß, daß man gar nicht mehr weiß, was alles hineinpaßt. „Werden und Frage“, „Ferne und Sein“ – wo ist da Sinn, und was verdankt sich lediglich der Sehnsucht nach dem hohen Ton? Bedeutsamkeit ist nicht gleich Bedeutung. Von dem Anspruch, Gedichte „nachprüfbar, diskussionsfähig, geschichtsfähig zu machen“, ist Benn zu dieser Zeit weiter denn je entfernt.
Dazu paßt, daß er sich in den frühen dreißiger Jahren als wortgewaltiger Polemiker gegen linke Schriftstellerkollegen hervortut. Nach der Machtergreifung der Nazis erwärmt er sich ein Jahr lang für die neuen Herren im Lande – nicht aus Sympathie, wie er später sagt, sondern weil er das Nazitum für eine jener großen barbarischen Umwälzungen gehalten habe, die in seinem dekorativmartialischen Geschichtsbild die Zeitläufte bestimmen. Seine Toleranz gegenüber Gewalt und Barbarei läßt freilich schnell nach, als er merkt, daß darunter auch die abendländischen Umgangsformen leiden: Die Nazis zeigen ihm rasch und eindrucksvoll, daß sie auf ihn verzichten können.
Er löst seine Praxis auf und überlebt Hitlers „Drittes Reich“ samt Schreibverbot und anderen Schikanen als Militärarzt mit den Stationen Hannover, Berlin und Landsberg im heurigen Polen. Ein neuer Ton gewinnt in diesen Jahren der Isolation Klangkraft. Ein neuer Ton? Im Grunde ist der Benn-Ton der vierten Werkphase der ganz alte Ton der Lyrik: Statt mystische Ursänger zu bedichten, kommt Benn jetzt selbst ins Singen. Die einschüchternde rhetorische Wortgewalt früherer Gedichte ist in diesen Stücken zu meisterhaften, halbverwehten Melodien à la Chopin sublimiert. Was zählt, sind die intimen Nuancen, nicht mehr die verbalen Hammerschläge.

Um deine Züge leg ich Trauer,
um deine Züge leg ich Lust,
indes die Nacht, die Todesschauer
weben allein durch meine Brust.

Na bitte, möchte man ausrufen, es geht doch: Ein großer Dichter kann „Brust“ auf „Lust“ reimen und trotzdem ein unverwechselbares, einzigartiges Sprachkunstwerk von großer Intimität schaffen. Typisch für Benn ist dann freilich die nächste Strophe von „Auf deine Lider senk ich Schlummer“, in der die zögerliche Hinwendung an das angesprochene „Du“ brüsk zurückgenommen wird.

Du, die zu schwach, um tief zu geben,
du, die nicht trüge, wie ich bin –
drum muß ich abends mich erheben
und sende Kuß und Schlummer hin.

Eine seltsame Formulierung übrigens, dieses:

Du, die nicht trüge, wie ich bin.

Vordergründig erhebt hier eine gewichtige Persönlichkeit Anspruch auf Anerkennung. Doch dahinter klingt die Sehnsucht an, nicht nur er-, sondern auch getragen zu werden. Man denkt unwillkürlich an eine Mutter, die ihr Kind im Arm wiegt. Und wie das so ist, wenn aus geliebten Müttern im weiteren Verlauf des Lebens mütterliche Geliebte werden: Sie sollen alles verstehen und alles verzeihen, weil der Bub nun einmal „so ist“.
Bei Benn heißt das allemal, daß er neben der versorgenden Ehefrau immer auch eine Geliebte braucht, die seine Blockaden löst und seine inneren Erstarrungen aufweicht, kurzum: die ihn sich ein wenig lebendiger fühlen läßt, als er in Wahrheit ist. Der maßlose Egozentrismus fordert seinen Preis: Von den drei Ehefrauen Benns hat nur die letzte den Bund mit dem Untragbaren überlebt. Wer zynisch sein wollte, könnte sagen: weil dieser vor ihr starb.
Doch zuvor hat der Fünfphasendichter am heimischen Schreibtisch die letzte Werkphase eingeläutet, die dann nicht nur sprachmusikalisch, sondern auch thematisch ganz unmittelbar mit Chopin zu tun haben kann, wie in diesem lyrischen Biogramm des Komponisten:

Nicht sehr ergiebig im Gespräch,
Ansichten waren nicht seine Stärke,
Ansichten reden drum herum,
wenn Delacroix Theorien entwickelte,
wurde er unruhig, er seinerseits
konnte die Notturnos nicht begründen.
(…)
Nie eine Oper komponiert,
keine Symphonie,
nur diese tragischen Progressionen
aus artistischer Überzeugung
und mit einer kleinen Hand.

Womit wir bei dem Band Statische Gedichte angelangt wären, in dem sich diese Verse finden. Die deutsche Erstausgabe im Limes Verlag ist ein kleinformatiger, unscheinbarer Pappband, auf dessen Titel der Name des Dichters kaum größer als die Gedichte selbst gedruckt ist.
Die letzten Zeilen von „Chopin“ dürfen wir ohne weiteres als Selbstaussage des nunmehr sechzigjährigen Benn verstehen, dessen Schreibtisch seit Kriegsende in der Bozener Straße in Schöneberg steht. Wiederum hat er sich in einer Vierzimmer-Wohnpraxis eingerichtet, in der er seine Gedichte schreibt und die Geschlechtskranken versorgt, deren Zahl in der Nachkriegszeit sprunghaft ansteigt. Es sind ihm fast zu viele:

Sprechstunden nur nach Vereinbarung.

Sein Bemühen, den rapiden Wechselfällen des zwanzigsten Jahrhunderts eine statische Biographie entgegenzuhalten, ist unverkennbar.
Der scheinbar lapidare, in Wahrheit höchst kunstvoll mit Spannung und Lockerung der Sprache arbeitende Berichtsstil, der in „Chopin“ bereits makellos ausgeprägt ist, trägt und prägt noch einige der schönsten Gedichte, die Benn in seinen letzten zehn Lebensjahren schreiben wird. Dieser Stil ist auch keineswegs auf biographische Skizzen beschränkt, obwohl ein anderer Dichter rund dreißig Jahre später in einem Mausoleum genau diesen Aspekt aufgreifen und gekonnt durchdeklinieren wird. Benn hingegen findet gegen Ende seines Lebens immer öfter zu unverstellt autobiographischen Gedichten. Sein Mißtrauen gegenüber dem Alltäglichen verläßt ihn trotz der neugewonnenen Lässigkeit im lyrischen Umgangston nicht:

Was du in Drogerien sprachst
beim Einkauf von Mitteln
oder mit deinem Schneider
außerhalb des Maßgeschäftlichen –
was für ein Nonsens diese Gesprächsfetzen,
warst du da etwa drin?

Seltsamer Anspruch, immer nur Bedeutsames von sich zu geben. Das Mißtrauen gegenüber der Normalität der Umgangsfloskeln weist letztlich eher auf einen seelischen Defekt als auf philosophische Skepsis hin; nicht ohne Grund trägt das zitierte Gedicht den Titel „Verzweiflung“. Immerhin läßt der sechsundsechzigjährige Benn sein Altersgedicht (es ist im Jahr 1952 im Merkur erschienen) mit einer Frage enden, die Zweifel an der sonst so kaltblütig ausgespielten Attitüde des Geistesaristokraten weckt:

Alles zusammengerechnet
aus Morgen- und Tagesstunden
in Zivil und Uniform
erbricht sich rücklings vor Überflüssigkeit,
toten Lauten, Hohlechos
und Überhaupt-mit-nichts-Zusammensein –

oder beginnt hier die menschliche Gemeinschaft?

Das ist nun allerdings eine bange Frage. Was also bleibt außer „Überflüssigkeit“, wenn man „alles zusammengerechnet“ hat aus den fünf grob skizzierten Lebensphasen „in Zivil und Uniform“? Fassen wir die vorläufigen Ergebnisse unseres biographischen Testlaufs kurz zusammen:

– Der junge Benn der Morgue-Gedichte ist von heftigem Weltekel erfaßt, doch hinter der scheinbar kühl attestierenden Attitüde ist – Phase eins – nacktes Entsetzen spürbar.
– Der Benn der Brüsseler Zeit kultiviert – Phase zwei – den Weltekel und stößt scharfzüngige Haßtiraden gegen eine Menschheit aus, die er offenbar nur noch als Lumpenpack wahrnehmen kann.
– Es folgt – Phase drei – die Hinwendung zur hehren Welt der Sagen, Mythen und frühen Hochkulturen, die den Vorzug genießt, keine Ansprüche an den weltflüchtigen Dichter zu stellen.
– Als nächstes – Phase vier – kultiviert Benn klassische Gedichtformen. Jetzt besingt er nicht mehr nur antike Sänger, sondern wird selbst zum Sänger à la Orpheus. Sogar Liebeslieder gelingen ihm – with a twist.
–Phase fünf in Stichworten: gelassene Selbstgenügsamkeit; prosanahe, lapidare, formal hochraffinierte Verse, in denen sich anhaltende Skepsis gegenüber der Welt mit Zweifeln an der eigenen Person mischt.

Der Verfallsdrohung des Organischen zu entkommen, sich selbst von der fleischlichen, sterblichen Masse abzuheben, das ist über Jahrzehnte das künstlerische Movens unseres Dichters gewesen. Vielleicht hat er die formale Selbstbezogenheit der Lyrik deshalb so stark betont. Wenn nämlich seine Poesie auf weniger bestrickende Weise von sich selbst handeln würde, bliebe kaum eine Rechtfertigung für ihre Existenz. Die Botschaft „Laßt mich in Ruhe, aber nehmt mich wahr“ jedenfalls ist, bei Licht besehen, eine stofflich recht magere Ausbeute.
Seine Totenreden auf den Dichterkollegen Klabund und auf Else Lasker-Schüler lassen früh einen anderen, teilnahmsvolleren Benn erahnen. Doch erst am Ende seines Lebensweges findet die Ahnung in sein Werk, daß nicht nur die Zeitläufte ihn in eine lebenslange Abwehrhaltung getrieben haben, sondern so etwas wie eine grundlegende Störung seiner Persönlichkeit. Das Ekelvokabular der frühen Jahre trifft nun – in gemäßigter Form – das Ziel, das es insgeheim schon immer hatte: den Dichter selbst, in dessen Person Selbstbezogenheit und Autoaggression ein explosives Treibstoffgemisch bilden. Und daß nicht jeder Treibstoff gut ist für jeden Motor, wer wüßte das besser als Ihr Prüfer vom Lyrik-TÜV.

*

Das Mißtrauen gegenüber jeder Normalität, das tiefsitzende Gefühl der Absurdität jeglicher menschlichen Existenz mag einer verbreiteten Stimmung der Nachkriegszeit entsprechen. Im Fall Benns entspringt es einer seelischen Disposition. Wir erinnern uns seiner Formulierung:

Es muß eine schwere Krankheit gewesen sein, jetzt ist sie ausgeheilt. Ist sie ausgeheilt?

Es hat lange gedauert, bis Benn sich dieser Frage nicht mehr entzogen hat. Auf eine Beschäftigung mit seelischen Leiden hatte er als junger Assistenzarzt in der Psychiatrie noch mit etwas reagiert, was wir getrost als Psychosomatik bezeichnen dürfen:

Es war mir körperlich nicht mehr möglich, meine Aufmerksamkeit, mein Interesse auf einen neu eingelieferten Fall zu sammeln oder die alten Kranken fortlaufend individualisierend zu beobachten. Die Fragen nach der Vorgeschichte ihres Leidens, die Feststellungen über die Herkunft und Lebensweise (…) schufen mir Qualen, die nicht erklärbar sind. Mein Mund trocknete aus, meine Lider entzündeten sich, ich wäre zu Gewaltakten geschritten, wenn mich nicht vorher schon mein Chef zu sich gerufen, über vollkommen unzureichende Führung der Krankengeschichten zur Rede gestellt und entlassen hätte.

Benn bemühte sich, der Sache auf den Grund gehen:

Ich versuchte mir darüber im klaren zu werden, woran ich litt. Von psychiatrischen Lehrbüchern aus, in denen ich suchte, kam ich zu modernen psychologischen Arbeiten (…); ich vertiefte mich in die Schilderungen des Zustandes, der als Depersonalisation oder als Entfremdung der Wahrnehmungswelt bezeichnet wird, ich begann, das Ich zu erkennen als ein Gebilde, das (…) zu einem Zustand strebte, in dem nichts mehr von dem, was die moderne Kultur als Geistesgabe bezeichnete, eine Rolle spielte, sondern in dem alles (…) die tiefe, schrankenlose, mythenalte Fremdheit zugab zwischen dem Menschen und der Welt.

Halten wir uns vor Augen, was hier passiert: Benn vermutet eine psychische Erkrankung bei sich, aber sobald er seine Vermutung bestätigt sieht, scheint ihm der Befund nicht recht zu gefallen. Statt „Ich“ zu sagen, greift er nun zu einem uralten Trick der Lyriker – er erfindet ein lyrisches Ich. Das heißt nun nicht mehr „Ich, Gottfried Benn“, sondern „das Ich“. Die wundersame Verwandlung vollzieht sich in nur sechs magischen Worten:

ich begann, das Ich zu erkennen.

So schnell kommt nicht jeder vom Ich zum Wir.
Wir erkennen jetzt, warum für ihn die Hinwendung zum Sagenhaften, Frühgeschichtlichen so wichtig wurde. Sie bedeutet nämlich gleich in doppelter Hinsicht eine Entlastung: Einmal erlaubt sie ihm „all den Fragen nach der Vorgeschichte“ anderer Menschen auszuweichen und sich höheren, schöneren, edleren Motiven zuzuwenden; zum anderen erlöst sie ihn aus der stark empfundenen Verpflichtung, sich mit den eigenen menschlichen Voraussetzungen kritisch zu befassen. Rund drei Jahrzehnte weiterer Selbstbezüglichkeit hat Benn sich mit diesem Trick genehmigt. Die Kosten waren, wie wir noch sehen werden, hoch.
Auf daß der Bannspruch wirke, kann Benn ihn gar nicht oft genug wiederholen. Insbesondere seine Essayistik liest sich teilweise wie das Resultat einer fortgesetzten Autosuggestion. Gebetsmühlenhaft sagt Benn sich und der Welt seinen einen, einzigen Glaubenssatz vor, der da lautet:

mythenalte Fremdheit (…) zwischen dem Menschen und der Welt.

Erstaunlich, wie viele Zusammenhänge er für diese wolkige Annahme findet. Einmal ist er sich in einer durchaus amüsanten Formulierung sicher…

daß der Mensch in allen Wirtschaftssystemen das tragische Wesen bleibt, das gespaltene Ich, dessen Abgründe sich nicht durch Streuselkuchen und Wollwesten auffüllen lassen, dessen Dissonanzen nicht sich auflösen im Rhythmus einer Internationale, der das Wesen bleibt, das leidet

ein andermal bekräftigt er mit exakt derselben Formulierung, daß sein literarisches Alter ego namens Rönne,

vor das Erlebnis von der tiefen, schrankenlosen mythenalten Fremdheit zwischen den Menschen und der Welt gestellt, unbedingt der Mythe und ihren Bildern glaubte.

Zivilisation, das sind Wollwesten und Streuselkuchen, damit darf man dem Weltkrieg-eins-erprobten Durchblicker Benn nicht kommen. Seltsam, wo doch gerade dieser Dichter physisch einen wollig weichen und streuselkuchenhaft wohlgerundeten Eindruck macht. Trotz häufiger Klagen über seine finanzielle Situation kann unser Hobbit-Poet sich darauf verlassen, daß seine Haushälterin ihm die Mahlzeiten stets pünktlich auftischt. Dennoch steht für ihn fest:

… daß nicht das Fleischliche, nicht Fraß und Paarung, für den Menschen der Triumph des Lebens ist, sondern daß trotz allen Geweses unserer Tage um das Materielle, um Komfort und Hygiene (…) es innere Leistungen sind, für die wir das Bewußtsein eingeprägt erhielten, für Kräfte der Ordnung und des individuellen Verzichts.

Mit anderen Worten: Der zivilisatorische Prozeß hat nicht die Reifung des Ichs, sondern die Fütterung der Massen im Sinn. Er ist, wenn man Benn in letzter Konsequenz folgen wollte, fast schon eine kulturelle Verfallserscheinung:

erhielte sich ein Staat durch Straßenbeleuchtung und Kanalanlagen, wäre Rom nie untergegangen –; immanente geistige Kraft wird es wohl sein, die den Staat erhält, produktive Substanz aus dem Dunkel des Irrationalen.

Während in Berlin ringsum die Straßenkämpfe zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten toben, während die Inflation ein neues Heer der Elenden schafft und die grausam entstellten Invaliden des Ersten Weltkrieges bettelnd mit den Sammelbüchsen rasseln, während kaum ein Schriftsteller dieser Zeit darum herumkommt, sich Gedanken um die Zukunft zu machen und seine Rolle im Gesellschaftsganzen zu bedenken, sitzt Benn in seiner Wohnpraxis und nimmt nicht teil. Das alles war schon immer so, sagt er, das alles wird auch immer so bleiben. Laßt mich in Ruhe damit, stört meine Kreise nicht, denn:

die Armen wollen hoch und die Reichen nicht herunter, schaurige Welt, aber nach drei Jahrtausenden Vorgang darf man sich doch wohl dem Gedanken nähern, dies alles sei weder gut noch böse, sondern rein phänomenal. (…) Wer Geld hat, wird gesund, wer Macht hat schwört richtig, wer Gewalt hat, schafft das Recht. Die Geschichte ist ohne Sinn, keine Aufwärtsbewegung, keine Menschheitsdämmerungen, keine Illusionen mehr darüber, kein Bluff.

„Lebensweg eines Intellektualisten“ hat Benn eine seiner autobiographischen Prosaarbeiten genannt. Aber als „Intellektualist“ war unser Dichter leider oft ein Dünnbrettbohrer. Mit einigen bei Nietzsche geborgten Phrasen hat er sich durch sein gesamtes geistiges Leben gemogelt.
Was nicht heißt, daß er es nicht besser gewußt hätte – insgeheim. Seiner eigentlichen Motivation ist Benn in privaten Äußerungen sehr viel näher gekommen als in den oft streitbaren Verlautbarungen über Literatur und Kunst. In einem Brief an die Geliebte Gertrud Zenzes aus dem Jahr 1922 heißt es:

Es mag auch sein, daß ich menschliches Leid nicht mag, da es nicht Leid der Kunst ist, sondern nur Leid des Herzens. Sehe ich menschlichen Gram, denke ich:

nebbich; sehe ich Kunst, Erstarrtes aus Distanz und Melancholie (…) denke ich: wunderschön.

Gerade auch die autobiographischen Texte um den jungen Arzt Rönne lassen deutliche Zweifel an den „uralten Mythen und Bildern“ anklingen, für die sich Benn andernorts so vehement ausspricht. Die alten Verfahrensweisen der Poesie, die doch angeblich ganze Staaten zusammenhalten können, sie versagen hier schon, wenn nur der Poet selbst um Haltung ringt:

Dann wollte er sich etwas Bildhaftes zurufen, aber es mißlang. Dies wieder fand er bedeutungsvoll und zukunftsträchtig: vielleicht sei schon die Metapher ein Fluchtversuch, eine Art Vision und ein Mangel an Treue.

„Fluchtversuch“, „Mangel an Treue“ – das sind Stichworte, die in fast jedem Lebensbereich Benns Gültigkeit haben, am offensichtlichsten aber in seinem Verhältnis zu Frauen. Dieses delikate Thema ist uns natürlich einen eigenen Abschnitt wert, doch ehe wir uns den Damen zuwenden, wollen wir eine andere Form von Flucht betrachten: die Flucht in die Ferne. Bei Benn könnte man sie mit einer schönen Formulierung aus der Welt der Trivialkultur bedenken: Flucht in Ketten.

*

Schweifen wir also in die Ferne, was im Falle Benns zumeist heißt: bleiben wir hübsch daheim. Berühmt geworden ist sein Gedicht „Reisen“, wenige Jahre nach Statische Gedichte in dem Band Fragmente erschienen:

Meinen Sie, Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt,
wo man Wunder und Weihen
immer als Inhalt hat?

Meinen Sie, aus Habana,
weiß und hibiskusrot,
bräche ein ewiges Manna
für Ihre Wüstennot?

Soweit die ersten zwei Strophen. Typisch dann wieder die finale Abwendungs- und Verweigerungsgeste in der abschließenden vierten Strophe:

Ach, vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
bleiben und stille bewahren
das sich umgrenzende Ich.

Nicht immer hat sich das Ich so eng umgrenzt. Zwar ist Benn nur selten und mit großer Vorsicht gereist, aber es fällt doch auf, daß er nicht ohne eine gewisse nostalgische Wehmut von seinen unterbliebenen Abenteuern spricht.
Zwar hat Benn in dem Gedicht „Reisen“ die Not des Nichtverreisens zur Tugend des sich selbst erfahrenden Geistesmenschen erklärt, doch an anderer Stelle verkündet er genau das Gegenteil: Geldmangel sei der Grund für seinen Mangel an Welterfahrung. Bekanntgeworden – und unter Lyrikern fast schon ein Gemeinplatz – ist vor allem eine Äußerung aus dem Aufsatz „Kunst und Staat“. Dort schreibt Benn über die Doppelexistenz von Arzt und Dichter:

Was mich angeht so lebe ich ausschließlich von meinem gewerblich erworbenen Einkommen, meine künstlerischen Arbeiten haben mir, wie ich gelegentlich meines vierzigsten Geburtstages berechnete, im Monat durchschnittlich vier Mark fünfzig, während eines Zeitraumes von fünfzehn Jahren eingebracht.

Mit einem derart kargen Salär ist nicht gut abenteuern, zumal auch das „gewerblich erworbene Einkommen“ Ende der zwanziger Jahre recht dürftig auszufallen scheint. Benn sehnt sich nach einer festen Stelle mit guter Bezahlung und ausreichend Freizeit für seine privaten Interessen. Wiederum kommt das Reisen als gewichtiges Argument ins Spiel:

Ich möchte eine Stellung mit festem Einkommen, damit ich etwas mehr für mich arbeiten kann. Ich bin über Vierzig und habe nie in meinem Leben länger als vierzehn Tage Ferien machen können, ich möchte auch einmal vier Wochen verreisen und doch am Ersten meine Miete zu bezahlen wissen.

„Ja, das möchtste“, ist man versucht, mit Tucholsky auszurufen. Und das alles für einen, der nicht zögert, gegen moderne soziale Errungenschaften zu wettern! Als seine eigene Gewerkschaft findet Benn durchaus klare Töne für konkrete soziale Forderungen: Urlaub und Fernreisen zwar nicht für alle, aber doch bitte schön für mich, den Dichter!
Daß Benn überhaupt in der Lage gewesen wäre, die so gewonnene Reisefreiheit zu nutzen, darf bezweifelt werden. Vieles spricht dafür, daß ihm das Erlebnis der Ferne als Gedankenreise, als Schlagervers und innere Sehnsuchtsmelodie, allemal lieber war als die tatsächliche Erfahrung anderer Lebensrealitäten: Nirgends ist Fernweh so schön wie zu Hause. An Ausreden für seine Reiseunlust hat es Benn denn auch nicht gemangelt. Was in jungen Jahren der Mangel an Geld war wurde im Alter der befürchtete Mangel an Bequemlichkeit. Ursula Ziebarth, die junge Geliebte der letzten Lebensjahre, hat hinter alldem gewichtige habituelle Gründe vermutet. Sie schreibt:

Benn kannte Rom und auch Florenz nicht. Daß es ihn nach Florenz nicht zog, weil ihm bildende Kunst nicht viel bedeutete, verstand ich. Aber daß er auf Rom als den historischen Nabel der doch von ihm geliebten europäischen Welt verzichtete, erstaunte mich. Doch mußte ich erkennen, daß er sich die Unternehmung nicht mehr zutraute. Reisen strengte ihn als einen Menschen, der alles vorher planen mußte, nur noch an.

Soweit die Ausrede. Doch nun kommt Frau Ziebarth zum wahren Hintergrund, den sie uns Nachfahren in der ihr eigenen Lockerheit übermittelt:

Ich glaube, auch in seinen früheren Jahren konnte er nichts locker angehen. Wichtiger Mitgrund seiner Absage war, daß er, nicht italienisch und nur schlecht französisch sprechend, eine „traurige Figur“ machen könnte. Es kam ihm immer sehr auf den Eindruck an, den zu machen er in der Lage war, eben einen sehr guten und nicht den, nicht mit allen internationalen Wassern gewaschen zu sein. (…) Nach Rom zu fahren war für ihn, einen Stein wälzen zu sollen, ohne dafür die Kräfte zu haben.

In Ursula Ziebarths Kommentaren erleben wir Benn als Umstandskrämer und Konventionsfetischisten ohnegleichen. Der Fünfphasendichter erscheint in diesen Schilderungen einer selbstbewußten, auf ihre unkonventionelle Lebensart stolzen Frau als ein Mensch, der auf äußere Haltung bedacht ist, weil er seine innere Fassung längst verloren hat. Umgeben von Schutzvorrichtungen aller Art, versucht er in jähen Befreiungsschlägen der drohenden Totalerstarrung zu entkommen. Ein wenig erinnert unser Dichter dabei an die Ritter des Spätmittelalters, die in ihren Plattenpanzern zwar unverwundbar, aber auch völlig unbeweglich geworden waren.

*

Benn hat sich Erlösung aus seiner Erstarrung vor allem von Frauen erhofft, und zwar sympathischerweise auch solchen, die ihn mit ganz anderen als den eigenen Formen der Weltwahrnehmung konfrontierten. Ein anderer ist er darum nicht geworden. Typisches Kennzeichen kontaktgestörter Menschen ist ja, daß die sich immer wieder ihre soziale Tauglichkeit beweisen wollen und dies mit beachtlichem Aufwand an Charme auch erreichen, um dann doch wieder zu resignieren, geknüpfte Verbindungen aufzulösen, erhoffte Aufbrüche aufzuschieben, geplante Reisen abzusagen. Der Charmeoffensive folgte bei Benn mit unschöner Regelmäßigkeit der Rückzug in die einsame Dichterklause.
„Für die Praxis gilt meine Maxime: gute Regie ist besser als Treue“, lautet eine Äußerung unseres Dichters, die von kulturbeflissenen Herren gern mit anerkennendem Unterton zitiert wird. Aus dem Mund kulturbeflissener Damen hört man sie hingegen eher selten. Kein Wunder, denn hinter Benns Sottise steckt weder bürgerliches Taktgefühl noch kühner Nonkonformismus, sondern eine gehörige Portion Kaltschnäuzigkeit – ganz zu schweigen von der Mißachtung einiger bürgerlicher Werte, die zu den schlechtesten nicht zählen. Wenige Dinge sind spießiger als die Familienflucht des notorischen Fremdgängers; so gesehen, war Benn ein Spießer durch und durch. Entsprechend breit ist die Schneise der Verwüstung, die seine irdische Laufbahn unter Geliebten und Ehefrauen hinterlassen hat.
Da wäre als erstes Else Lasker-Schüler. Gottfried Benn lernt die Dichterin im Jahr der Morgue kennen, 1912. Sie ist dreiundvierzig Jahre alt, er sechsundzwanzig. Die Liebesbeziehung zwischen beiden währt nur kurz, findet aber ihren Niederschlag in einigen der schönsten Gedichte Lasker-Schülers. Diese Gedichte bezeugen eine Begegnung, in der sich der Mann fortwährend entzieht und mit schwärmerischen Anrufungen seitens der Frau zurückgehalten werden soll. Ob es wirklich so war! Vor Gericht wären die Gedichte einer so lustvoll inszenierenden Frau ein fragwürdiges Beweismittel, und wie weit Lasker-Schülers Interesse am existierenden Real-Benn reichte, bleibt zweifelhaft. Nicht jedem wäre es eingefallen, den kleinen Mann aus der Odermark als „Giselheer“ zu bezeichnen und ihm prunkvolle Beinamen wie „Tiger“ und „König“ zu geben.
Zwei Jahr später heiratet Benn Edith Osterloh. Die verwitwete Mutter eines kleinen Sohnes ist acht Jahre älter als er. Unser Dichter hat die weltläufige Münchener Dame im Urlaub auf Hiddensee kennengelernt. Da Benn sich bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges sogleich als Armeearzt verpflichtet, führt das Ehepaar zunächst eine Fernbeziehung. In den Kriegsjahren bringt Edith Benn das erste und einzige Kind des Dichters zur Welt, die Tochter Nele. Nach Kriegsende zeigt Benn sich wenig interessiert daran, die Fern- in eine Nahbeziehung umzuwandeln. Zwar zieht Frau Edith nach Berlin und richtet dort eine gemeinsame Wohnung ein, doch ihr kunstsinniger Gatte vergräbt sich in seiner Vierzimmer-Wohnpraxis und beschränkt den Kontakt zu Frau und Kindern auf förmliche Anstandsbesuche an den Wochenenden.
Knapp fünf Jahre geht das so, ehe Edith Benn überraschend einem Gallenleiden erliegt. In einer Spezialklinik in Jena verbringt Benn einen Tag am Bett der Todkranken; die beiden Kinder sind zuvor bei einer ortsansässigen Tante untergebracht worden. Als seine Frau am späten Abend verstirbt, erklimmt Benn unter Zurücklassung von Ziehsohn und Tochter den Nachtzug gen Berlin und kehrt erst mehrere Tage später zur Beerdigung zurück. Auf der Rückfahrt von der Beerdigung bandelt er im Zug bereits mit einer kommenden Liebschaft an. Die Tochter Nele wird von Bekannten in Kopenhagen aufgenommen und wächst als dänische Staatsbürgerin fernab vom Vater auf.
Sieben Jahre später: Eine Geliebte Benns, Lili mit Namen, nimmt sich in Berlin das Leben. Nachdem sie Benn den Selbstmord zuvor telefonisch angekündigt hat, stürzt sie sich aus ihrer Wohnung im fünften Stock in die Tiefe. Benn findet bei seinem Eintreffen den Leichnam auf der Straße vor. In einem Brief berichtet er später von dem tragischen Ereignis. Er tut dies in zwei Sätzen, die durch das krasse Nebeneinander von Schuldeingeständnis und Schuldzurückweisung… tja, was? Beeindrucken?

Natürlich starb sie an oder durch mich, wie man sagt. Sie war mir nicht gewachsen als Ganzes oder vielmehr: sie wollte mir in Dingen gewachsen sein, wo sie es nicht konnte und als Frau nicht zu sein brauchte.

Benns zweite Ehefrau nimmt sich ebenfalls das Leben. Benn hat die zurückhaltende Herta von Wedemeyer in seiner Zeit als Stabsarzt der Wehrmacht in Hannover kennengelernt; sie heiraten im Jahr 1938. Als das Ehepaar in den letzten Kriegstagen nach Berlin flieht, hält Benn es angesichts der dort herrschenden Verhältnisse für angebracht, seine Ehefrau in ein niedersächsisches Dorf zu schicken. Monatelang lebt sie, völlig von der Umwelt abgeschnitten; unter den kärglichsten Umständen. Nachdem ein Fluchtversuch vor den anrückenden Truppen der Roten Armee mißlingt, greift sie zu der Überdosis Morphium, die Benn für den Notfall beiseite gelegt hatte.
Gewiß hatte Gottfried Benn vorrangig die Sicherheit seiner Frau im Sinn, als er sie aus dem zerbombten und umkämpften Berlin aufs Land schickte, und es besteht auch kein Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner Trauer. Man würde ihm die gute Absicht freilich noch eine Spur bereitwilliger abnehmen, wenn er zuvor nicht jahrzehntelang bestrebt gewesen wäre, Frauen erst an sich zu binden, um sie dann auf Distanz zu halten.
Überhaupt verblüfft an unserem Dichter, wie rücksichtslos er sich über gesellschaftliche Konventionen hinweggesetzt hat. Obwohl er nach außen hin stets peinlich um bürgerliche Form bemüht war, hat Gottfried Benn letztlich eine asoziale Existenz geführt. Er hätte dieser Einschätzung schwerlich widersprochen – sie gehörte zu seinem Künstlerbild, das er sich so recht nach seinem eigenen Lebenswandel ausgemalt hatte.
Nehmen wir als letztes Beispiel sein Verhältnis zu der bereits erwähnten Ursula Ziebarth. 1946 hatte Benn die Zahnärztin Ilse Kaul geheiratet – keine schlechte Partie für einen Mann von sechzig Jahren: Frau Ilse ist fast halb so alt wie der Dichter und mithin eine potentiell gute Versorgerin für die kommenden Jahre des Greisentums, zumal sie sich dank ihres Berufes finanzieller Unabhängigkeit erfreut. Auch von ihr verlangt Benn, ihn zu „tragen, wie er ist“. Die langjährige Erfolgsserie „Dr. Benn auf der Flucht“ wird fortgesetzt. Ursula Ziebarths Auftritt beschreibt Benn so:

Wir sind ranzig, mürbe, liegen herum, stehn am Ausgang, jahrelang, und dann kommt Sie. Gesicht wie eine schwarze Orange, klein und schief, fischotterähnlich, als ob sie aus einer Flut auftaucht – wälzt alles um. Nun funkeln wir, blenden, plötzlich gruppiert sich alles anders.

Wie sollen wir uns dieses Umgruppieren vorstellen? Benn bewohnt mit seiner Frau eine Vierzimmerwohnung in der Passauer Straße, nun auf einmal treffen Briefe einer jungen Frau aus Worpswede ein. Der Dichter beginnt einen für seine Verhältnisse lebhaften Reiseverkehr, kurz vor seinem Tod zieht Fräulein Ursula gar in ihre Heimatstadt Berlin zurück. Wie mag sich Ilse Benn gefühlt haben? Sie hat Glück, als einzige von Benns drei Frauen überlebt sie die Ehe, denn der an Knochenkrebs erkrankte Benn stirbt vor ihr. In seinem Nachlaß finden sich, wie seltsam, nur noch drei Briefe an Ursula Ziebarth.
Kann irgendeine Kunstproduktion, und sei sie noch so bewundernswert, dieses private Schlachtfeld rechtfertigen? Das ist eine Frage, die zu beantworten der Lyrik-TÜV seinem Leser nicht abnehmen möchte. Eines allerdings bittet er zu bedenken: Die Vorstellung, daß große Kunst nur aus einer gesellschaftlichen Randstellung erwachsen könne, ist nicht gottgegeben, sondern hat sich historisch entwickelt. Sie war die Lieblingsidee eines bereits verblassenden Großbürgertums, das sich um die vorletzte Jahrhundertwende selbst zu langweilen begonnen hatte.

*

Bleibt die Frage, die sich uns schon im Zusammenhang mit George und Rilke gestellt hat: Wie wird man so? Wie kommt es zu der von Benn bei sich selbst diagnostizierten „Entfremdung der Wahrnehmungswelt“? In seinem Lebenslauf finden wir keine wirklich schlüssige Antwort. Alle Biographen sind sich allerdings darin einig, daß der Vater die bestimmende Persönlichkeit in Benns Leben gewesen ist. Fritz J. Raddatz bezeichnet ihn in seinem biographischen Benn-Essay als „eine Fontane-Figur in seiner Mischung aus knorriger Güte und bescheidenem Selbstbewußtsein“.
Gustav Benn war Pfarrer in verschiedenen Ortschaften der Neumark. Manches ist über den kulturprägenden Einfluß des protestantischen Pfarrhauses gesagt worden. Es scheint jedoch, als hätte in Benns Elternhaus weniger humanistische Bildung das geistige Klima bestimmt als vielmehr soziales Engagement, verbunden mit einem recht naiven Gottesglauben. In seinem berühmten Altersgedicht „Teils –teils“ hat Benn diese Atmosphäre unnachahmlich heraufbeschworen:

In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs
wurde auch kein Chopin gespielt
ganz amusisches Gedankenleben
mein Vater war einmal im Theater gewesen
Anfang des Jahrhunderts
Wildenbruchs „Haubenlerche“
davon zehrten wir
das war alles,

Oder war es doch nicht alles? Hören wir, was ein Bruder Benns über die Prinzipien des Vaters zu sagen weiß:

Er war in keiner Weise Parteigänger des adligen Großgrundbesitzers, sondern einem jeden Gliede seiner Gemeinde in gleicher Weise zugetan. Gerade die einfachen Leute hingen an ihm, weil sie empfanden, daß er auch sie und ihre Nöte ernst nahm. Wir Kinder hätten uns nie einfallen lassen dürfen, von einem Landarbeiter ohne den Zusatz „Herr“ zu sprechen. Wenn der alte Vater Thunack kam, hatten wir ihm mit einem höflichen „Guten Morgen, Herr Thunack“ die Hand zu geben und unsern Diener zu machen, nicht anders, als wenn der Graf aus Trossin gekommen wäre.

Das klingt nicht nur nach väterlichem Gerechtigkeitssinn, sondern auch nach straffer Handlungsanweisung an die sieben Kinder aus erster Ehe. Wenn Kinder nicht nur vom Vater, sondern in Personalunion auch noch vom Verkünder des Wortes Gottes auf Erden gemaßregelt werden, sind Konflikte fast unvermeidlich. Es sieht denn auch ganz danach aus, als wäre Benn zumindest innerlich recht früh mit dem Vater aneinandergeraten. Über das deutsche protestantische Pfarrhaus hat er sich lange Zeit nur herablassend geäußert, noch im Jahr 1932, als Mittvierziger, spricht er abschätzig von „schwäbischer Pfarrhauslyrik“.
Die Jahrzehnte zuvor nehmen sich so aus, als habe Benn das genaue Gegenteil des väterlichen Lebensentwurfes verwirklichen wollen. Andere Schriftsteller seiner Generation wurden von ihren Vätern zu „nützlichen“ Studien wie Jura und Medizin angehalten, obwohl sie viel lieber einem geisteswissenschaftlichen Curriculum gefolgt wären. Gottfried Benn ist der kuriose Sonderfall eines bedeutenden deutschen Dichters, der sich mit dem Wunsch nach einem Medizinstudium gegen seinen Vater durchsetzen mußte. Dieser hatte für den Sohn ein philologisches Studium bevorzugt, wenn auch nicht aus Liebe zur Literatur, sondern als Eintrittsbillett für eine Laufbahn als Schullehrer.
Die Opposition gegen den Vater bleibt für Gottfried Benn lange Zeit prägend: Seine Gleichgültigkeit gegenüber den Erscheinungsformen der Armut, seine Verachtung des Durchschnittlichen, seine Abneigung gegen soziales Engagement in jeder Form, ebenso seine Vergötterung des abendländischen Bildungskanons – all das läßt sich als Parteinahme gegen den altruistischen, aber ungebildeten Vater begreifen. Sie hat ihn bis weit über die Lebensmitte hinaus begleitet und wohl noch seine fatalen Gedanken zur „Züchtung“, mit denen er sich den Nazis andienen wollte, mitbestimmt.
An einem bestimmten Punkt in Benns Biographie scheint sich die Ablehnung geradezu in Haß gesteigert zu haben: Im Jahr 1912 – demselben, in dem auch Benns Erstling Morgue erscheint und Benn seine erste Ehefrau kennenlernt – ruft die an Brustkrebs erkrankte Mutter den soeben zum Arzt approbierten Sohn um Hilfe in das elterliche Pfarrhaus. Der möchte die Leiden der offenkundig mit dem Tod Ringenden mittels Morphium lindern, doch der Vater untersagt ihm dies als unstatthaften Eingriff in die göttliche Ordnung.
Zu vermuten ist, daß der am Totenbett der Mutter eskalierende Vater-Sohn-Konflikt bereits eine jahrzehntelange Vorgeschichte hatte. Die beiden Kontrahenten werden deutlich gespürt haben, daß es sich um einen Fall von Deutungshoheit handelte, um einen Autoritätskonflikt, der stellvertretend als Kampf zweier Systeme ausgetragen wurde: der Religion hie und der Naturwissenschaft da. Benn zieht den kürzeren und muß einsehen, daß ihm seine wissenschaftliche Ausbildung nicht zwangsläufig die ödipale Oberhand über den Vater verschafft.
Er reagiert mit bitterem Sarkasmus. Das im Jahr 1913 veröffentlichte Gedicht „Blumen“ erfindet eine höhnische, wenn auch nicht ganz trennscharfe Symbolik auf die biedere Selbstgerechtigkeit, mittels deren ein Kirchenmann zwischen den christlichen Symbolen des Leidens seinen Frieden mit sich selbst macht:

Im Zimmer des Pfarrherrn
zwischen Kreuzen und Christussen,
Jerusalemhölzern und Golgathakränzen
rauscht ein Rosenstrauß glückselig über die Ufer:
Wir dürfen ganz in Glück vergehn.
In unserm Blute ist kein Dorn.

Einige Jahre später spricht Benn schon weniger durch die Blume. In dem Gedicht „Pastorensohn“ begegnet er dem zeugungspotenten Vater mit einer unverhüllten Kastrationsphantasie:

In Gottes Namen denn, habt acht,
bei Mutters Krebs die Dunstverbände
woher –? Befiehl du deine Hände –
zwölf Kinder heulen durch die Nacht.

Der Alte ist im Winter grün
wie Mistel und im Sommer Hecke,
’ne neue Rippe und sie brühn
schon wieder in die Betten Flecke,

Verfluchter alter Abraham,
zwölf schwere Plagen Isaake
haun dir mit einer Nudelhacke
den alten Zeugeschwengel lahm.

*

Auch in Statische Gedichte ist Abwendung die bevorzugte Geste Benns. Doch nie zuvor klang sein Loblied auf den Künstler als edlen, nach Perfektion strebenden Auserwählten so bestrickend. Mehr denn je zuvor weht einen vieles wie eine zauberische Melodie Chopins an:

Wer allein ist, ist auch im Geheimnis,
immer steht er in der Bilder Flut,
ihrer Zeugung, ihrer Keimnis,
selbst die Schatten tragen ihre Glut.

Trächtig ist er jeder Schichtung,
denkerisch erfüllt und aufgespart,
mächtig ist er der Vernichtung
allem Menschlichen, das nährt und paart.

Ohne Rührung sieht er, wie die Erde
eine andere ward, als ihm begann,
nicht mehr Stirb und nicht mehr Werde:
formstill sieht ihn die Vollendung an.

Magische Klänge, keine Frage. Fragwürdig ist daran weniger das genüßliche und produktive Auskosten der Einsamkeit – das sei dem Dichter und seinem sich auf den Benn-Sound einschwingenden Leser von Herzen gegönnt. Fragwürdig ist vielmehr die schon recht ranzig gewordene Vorstellung vom Dichter als einem, der angeblich im Bannstrahl zeit- und raumübergreifender Erleuchtungen steht. Daraus einen Machtanspruch abzuleiten, noch dazu einen, der die „Vernichtung“ alles „Menschlichen, das nährt und paart“ im Sinn hat, ist nicht nur lächerlich, es ist hochgradig problematisch.
Wir müssen freilich bedenken, daß es das deutsche Volk der Nazizeit war, das sich da rund um Benn unverdrutzt nährte und paarte. Und sicherlich verdankt sich Benns Beharren auf Individualität und Abgrenzung auch dem starken Empfinden, aus der ihn umtobenden Zeit herausgefallen zu sein. Was an den Gedichten des eisernen Hobbits bisweilen verärgern kann, ist denn auch weniger ihre Weltabgewandtheit als vielmehr die propagandistische Übersteigerung einer höchst individuellen Befindlichkeit in eine menschheitsumgreifende Scheinanalyse.
Das Großartige und Versöhnende an dem Gedicht „Wer allein ist –“ scheint mir zu sein, daß es die Überwindung der geschilderten Misere in ebendieser Schilderung schon aufscheinen läßt: Der Einsame entwickelt in seiner Isolation eine schöne Wahrnehmungssensibilität und Gelassenheit im Umgang mit der Welt. Das Gedicht ist insofern Zeugnis seiner eigenen Auflösung – einerseits. Es ist, andererseits, aber auch ein etwas inzestuöses Dokument der Selbstbefruchtung, das sich am Ende sozusagen selbst in den Schwanz beißt: Seht her, sagt es, ich bin die „formstille Vollendung“, entstanden aus weltabgewandten Stunden der Isolation. Ich bin meine eigene Rechtfertigung, meine eigene Thematik, ich bin ein Gedicht über das Dichten in Abwesenheit der Welt.
In der deutschen Erstausgabe von Statische Gedichte aus dem Jahr 1948 steht „Wer allein ist –“ gleich nach „Einsamer nie –“. Keine Frage, daß die Seiten dreiundsechzig und vierundsechzig des Bandes damit eines der bedeutendsten Stücke Papier der deutschen Lyrik bilden. Wort- und wirkmächtiger ist das Türschild „Bitte nicht stören, ich arbeite“ weder vorher noch nachher formuliert worden. Man muß Benns Geisteshaltung nicht mögen oder gar teilen, aber seine Anerkennung kann ihm kaum versagen, wer ein Gespür für den Zauber der Worte hat.
Ein anderes, weniger bekanntes Gedicht aus Statische Gedichte zeigt, daß Benns Abspaltung von der Welt nicht nur die wohlfeile Machtphantasie des Schreibtischtäters kennt, sondern auch das Gefühl der eigenen Ohnmacht. Diesmal sind es nicht Menschen, von denen er sich abgespalten fühlt, diesmal sind es die unhinterfragten organischen Lebensäußerungen der Natur, der „Rausch der Dinge“ also, der sich in „Einsamer nie –“ so treffsicher auf „Tausch der Ringe“ reimt. Hier nun heißt es:

Wenn etwas leicht und rauschend um dich ist
wie die Glyzinienpracht an dieser Mauer,
dann ist die Stunde jener Trauer,
daß du nicht reich und unerschöpflich bist,

nicht wie die Blüte oder wie das Licht:
in Strahlen kommend, sich verwandelnd,
an ähnlichen Gebilden handelnd,
die alle nur der eine Rausch verflicht,

der eine Samt, auf dem die Dinge ruh’n
so strömend und so unzerspalten,
die Grenze zieh’n, die Stunden halten
und nichts in jener Trauer tun.

Die „Trauer“, die Benn – folgt man der verflochtenen Syntax des Gedichtes – den Dingen unterstellt, ist selbstredend seine eigene beim Anblick eines schmerzlich schönen Details wie der „Glyzinienpracht an dieser Mauer“. Erst hier, wo es einmal nicht um Menschen, sondern um Pflanzen geht, erlaubt er sich, die Verzweiflung über seinen Mangel an innerer Verbundenheit einzugestehen.
Damit aber kommen wir endlich zu dem, was man als das große Geheimnis hinter den Gedichten Benns bezeichnen könnte: Nur im Glücken eines Gedichtes fühlt er sich „reich und unerschöpflich“, nur dann kann er, der noch in der gern und regelmäßig aufgesuchten Bierhalle ein Zaungast bleibt, sich der Restwelt wirklich als zugehörig empfinden. Wo aber gelingt laut Benn ein Gedicht? Richtig, in der Isolation von allem, dem der Dichter insgeheim eigentlich zugehören möchte.
Das also ist der große, tragische Widerspruch in Benns Leben: daß er sich abschotten muß, um sich zugehörig zu fühlen, anders ausgedrückt: daß ihm in seiner Entfremdung von einer normalen Teilnahme am Leben bereits der einsame Akt des Gedichteschreibens an ein nicht sichtbares Publikum als Gipfel der Kommunikation erscheint.
Abgespalten zu sein heißt freilich auch, sich dauernd um das bemühen zu müssen, was anderen wie selbstverständlich zufällt. Und so wundert es nicht, daß gerade manche späten Gedichte eine höchst feinsinnige Zugewandtheit zeigen. Das Gedicht „Dann –“ in Statische Gedichte ist ein solches Meisterwerk der Wahrnehmung, der Sprache und des einfühlenden Empfindens:

Wenn ein Gesicht, das man als junges kannte
und dem man Glanz und Tränen fortgeküßt,
sich in den ersten Zug des Alters wandte,
den frühen Zauber lebend eingebüßt.

Der Bogen einst, dem jeder Pfeil gelungen,
purpurgefiedert lag das Rohr im Blau,
die Cymbel auch, die jedes Lied gesungen:
– „Funkelnde Schale“, – „Wiesen im Dämmergrau“ –,

Dem ersten Zug der zweite schon im Bunde,
ach, an der Stirne hält sie schon die Wacht,
die einsame, die letzte Stunde –,
das ganze liebe Antlitz dann in Nacht.

Die „Entwicklungsarmut“ des Weisen hat Gottfried Benn nicht besessen. Zum Glück. Seine Statischen Gedichte sind Ausdruck mal mutiger, mal zaghafter Selbsterkenntnis und mühsam errungener Altersgelassenheit. Doch die „Statik“ dieser Gedichte, ihre formale Bauweise, ihr künstlerisches Fundament, ihre handwerkliche Ausgestaltung, ist auch heute noch unerschüttert: Einen größeren Baumeister als Benn hat die deutsche Dichtung der letzten hundert Jahre nicht gekannt.

Steffen Jacobs, in Steffen Jacobs: DER LYRIK TÜV, Eichborn Verlag, 2007

 

Max Rychner: Gottfried Benn. Züge seiner dichterischen Welt, Merkur, Heft 18, August 1949

Max Rychner: Gottfried Benn. Züge seiner dichterischen Welt (II), Merkur, Heft 19, September 1949

Hans Egon Holthusen: Das Schöne und das Wahre in der Poesie. Zur Theorie des Dichterischen bei Eliot und Benn, Merkur, Heft 110, April 1957

L.L. Matthias: Erinnerungen an Gottfried Benn, Merkur, Heft 171, Mai 1962

Nico Rost: Begegnungen mit Gottfried Benn, Merkur, Heft 218, Mai 1966

Nino Franks Bericht über seinen Besuch bei Benn, Merkur, Heft 398, Juli 1981

Walter Aue: „Das ist Bahia, am Meer“. Wege zu Gottfried Benn

Norbert Hummelt: Auf einen Sprung zu Gottfried Benn

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Gottfried Benn

 

 

Helmut Böttiger: Gottfried Benn – Kleine Aster und andere Gedichte

 

Gottfried Benn: Kleine Aster – Gedichte und Prosa. Ulrike Draesner und John von Düffel im Gespräch mit Anja Brockert am 21.01.2019 im Literaturhaus Stuttgart.

 

Gottfried Benn. Der Mann ohne Gedächtnis

Lesung: Holger Hof
Moderation: Jörg Magenau
Im Literarischen Colloquium Berlin am 13.12.2011

 

Tondokument: Peter Rühmkorf und Adolf Muschg über Benn und Brecht am 16.9.2006 in der literaturwerkstatt berlin.

 

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Carl Werckshagen: Gottfried Benn 60 Jahre
Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung, 27.4.1946

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Max Rychner: Gottfried Benn
Die Tat, Nr. 120, 3.5.1956

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Adolf Muschg, Jürgen P. Wallmann, Edgar Lohner: Abschied von Gottfried Benn?
Die Tat, 29.4.1966

Zum 10. Todestag des Autors:

Jürgen P. Wallmann: Kunst als metaphysische Tätigkeit
Die Tat, 2.7.1966

Bruno Hillebrand: Gottfried Benn – zehn Jahre nach seinem Tod
Neue Deutsche Hefte, Heft 110, 1966

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Peter Rühmkorf: „Und aller Fluch der ganzen Kreatur“
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.6.1976

Jürgen P. Wallmann: „Der Ruhm hat keine weissen Flügel“
Die Tat, 30.4.1976

Zum 20. Todestag des Autors:

Gert Westphal: Gottfried Benn – nach zwanzig Jahren
Neue Zürcher Zeitung, 23.7.1976

Heinz Friedrich: Plädoyer für die schwarzen Kutten
Merkur, Heft 30, 1976

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Albrecht Schöne: Gottfried Benn?
Die Zeit, 2.5.1986

Peter Rühmkorf: Gottfried Benn oder „teils-teils das Ganze“
Deutsches Sonntagsblatt, 6.7.1986

Zum 50. Todestag des Autors:

Wolfram Malte Fues: Nur zwei Dinge
manuskripte, Heft 174, 2006

Jörg Drews: Das Gegenteil von ,gut gemeint‘
Tages-Anzeiger, 4.7.2006

Cornelius Hell: Persönlich, poetisch, politisch
Die Furche, 29.6.2006

Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv 12, 3 & 4 +
Internet Archive + Kalliope + KLG + IMDb +
Georg-Büchner-Preis 1, 2, 3 & 4
Autorenäußerungen zu Person und Werk von Gottfried Benn
Porträtgalerie: Keystone-SDA + deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口
Nachrufe auf Gottfried Benn: Deutsche Rundschau ✝ Merkur
Aufbau ✝ Tumba

 

Gottfried Benn – das letzte und einzige Fernseh-Interview mit Gottfried Benn am 3. Mai 1956 zum 70. Geburtstag.

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