Günter Bruno Fuchs: Zu Günter Bruno Fuchs’ Gedicht „Geschichtenerzählen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Günter Bruno Fuchs’ Gedicht „Geschichtenerzählen“ aus Günter Bruno Fuchs: Erlernter Beruf eines Vogels. −

 

 

 

 

GÜNTER BRUNO FUCHS

Geschichtenerzählen

Gestern sah ich
einen hohen Offizier
auf einen Baum steigen −
da wußte ich: die Militärs
bemühen sich um gute Aussicht.

Heute früh
sah ich drei grüne Fische
teppichklopfen −
da wußte ich: wer sich über den Anblick
teppichklopfender Fische
nicht verwundert,
hält diesen Anblick entweder für möglich
oder hat ihn gar nicht zu Gesicht bekommen.

Vorhin sah ich drei Telefonzellen
über den Ozean schwimmen −
da wußte ich: eine Nachricht aus Übersee
wird dich erreichen.

Nun, wie gefällt Ihnen das?

Bitte bitte, hören Sie auf! −
Ich glaube,
Sie erzählen mir da lauter Geschichten.

 

Eine Selbstinterpretation

Dieses Gedicht wirkt reichlich albern. Ich vermute, es hat einen albernen Menschen zum Verfasser. Oder einen Trinker. Meine Vermutungen können mich und andere täuschen, deshalb interessiert uns nicht der Zustand des Verfassers, sondern der des Gedichts. Also wiederhole ich gern den ersten Satz: Dieses Gedicht wirkt reichlich albern. Und setze hinzu: auf mich.
Schuld daran ist ein gewisses Gekicher, das gleich zu Beginn laut wird. Die Vorstellung nämlich, ein Offizier (höheren oder niederen Rangs) erklimme einen Baum; zeugt von Unkenntnis. Natürlich, das Bild ist erheiternd: ich zum Beispiel sehe den einfachen Bundesbürger in Uniform, wie er den Baumstamm umklammert, wie er hinaufblickt zum Wipfel, dem er die Ruh stehlen wird, aber soll denn hier gleichzeitig anklingen, der gebildete Offizier unserer Tage habe es nötig, einen Baum zu besteigen? Habe es nötig, sich solcher Bemühung zu unterziehen? Einer Bemühung um gute Aussicht gar, bei der immerhin die Nähte seines Ehrenkleids krachen könnten? Ich finde, die ersten fünf Zeilen des Gedichts geben so etwas wie die Meinung des Verfassers wieder, ja, mir scheint sogar, er mag es nicht: das Militär schlechthin, gleich welcher Nation und Herkunft.
Noch ein Wort dazu: hätte ich nicht selber beim Anlesen des Gedichts herzhaft lachen müssen – teils wegen der Bildkomik, teils über das (wie ich anfangs dachte) naive Talent des Verfassers, seine Umwelt zu konterfeien −, wäre ich also zugegebenermaßen nicht entzückt von der launigen Szene des baumbesteigenden Offiziers, so müßte ich die ganze erste „Geschichte“, die hier beim Geschichtenerzählen erzählt wird, für pure Veräppelung des Soldatenstandes halten.
Was aber wird weitererzählt? Ich möchte zunächst sagen: die beiden nachfolgenden „Geschichten“ sind Musterbeispiele schlüssiger Trinkerlogik. Wie verrückt die Sache auch sei, wer will schon etwas einwenden gegen die Folgerung, daß drei teppichklopfende, grüne Fische (Heringe? Anspielung auf die beliebte Katermahlzeit?) gemeinsam einen Anblick abgeben, über den man sich nicht zu verwundern braucht, sofern man ihn, diesen Anblick, entweder für möglich hält oder ihn gar nicht zu Gesicht bekommen hat. Doch hier (anders als bei der ersten „Geschichte“) gerate ich bereits in ernsthafte Zweifel, ob die drolligen Fische allein aus reiner Lust am schönen Humbug ins Bild gesetzt wurden.
Sind diese grünen Teppichklopfer nicht eher vermummte, verwunschene Hausfrauen, die jeden Freitagmorgen in den Höfen der Großstädte mit der Säuberung ihrer Läufer, Brücken, Bett- und Klosettumrandungen beginnen? Allzu leicht könnte man aus dem einleitenden Passus „Heute früh / sah ich …“ (mit dem Einschiebsel „Heute früh / am Freitagmorgen / sah ich…“) auf eine geradezu perfide Umkehrung alltäglicher Geschehnisse schließen, will sagen: bisher hat sich niemand verwundert über den Anblick teppichklopfender Hausfrauen – nun aber, irgendwann Freitag früh, werden die Rollen vertauscht: die Fische, die sonst am Freitagmorgen in der Pfanne brutzeln, steigen in den Hof hinunter und übernehmen das Teppichklopfen, während oben, in der Küche, die Hausfrauen gesotten werden.
Gewiß, diese Auslegung mag überspitzt sein. Tatsache bleibt: sie wurde angeregt durch den vorliegenden Text. Demnach gibt dieses Gedicht, das (wie ich eingangs sagte) reichlich albern auf mich wirkt, eine erschreckend-gegenteilige Dimension frei: aus vermeintlicher Trinkerlogik, die den Leser hell auflachen läßt, indem er drei allerliebste Fische in ungewohnter Umgebung erblickt, entpuppt sich der gallige Unmut des Verfassers, der (im Sinne meiner fiktiven, aber plausiblen Darstellung) wütend eingenommen ist gegen das gewohnheitsmäßige, freitagliche Dreschen und Bürsten.
Ich fürchte, diese zweite „Geschichte“ will eindeutig als Ergänzung zur ersten verstanden sein. Das destruktive Ergebnis beider Teile lautet also: Gewohnheitsmäßige Handlungen bieten beste Aussichten für Militärs. (Ich muß hier etwas einfügen. Der sattsame Leser wird nur selten imstande sein, ein Gedicht in ähnlicher Weise zu interpretieren. Ein Gedicht wie dieses verweilt für ihn in vordergründiger Albernheit. Es wird ihm nichts anhaben. Es sei denn, der Leser geht den schwierigen Weg des Kritikers. Mit anderen Worten und damit in eigener Sache: nur der erfahrene, geübte Kritiker kennt die gezinkten Karten und versteht sie aufzudecken. Er ist es, der den Hintergrund erreicht, wo die Absichten bestimmter Verfasser auf der Lauer liegen. Man wird mich gleich verstehen. Wenden wir uns der dritten und letzten „Geschichte“ zu!)
Das bestürzende Bild schwimmender Telefonzellen trieb mir beim ersten Lesen wahre Lachtränen ins Auge. Später, beim zusammenhangvollen Durchdringen des Ganzen, standen mir die Haare zu Berge. Man denke: dieser Zustand, ausgelöst durch das abgefeimte Vexierspiel weniger Zeilen, ausgelöst durch ein Gedicht! – Es hatte mich in die Falle gelockt, hatte mich schmunzeln und kichern lassen, hatte mir „Geschichten“ erzählt, wie sie betrunkener nicht sein konnten, und jetzt fragte es mich: „Nun, wie gefällt Ihnen das?“ Jetzt endlich wollte es mich ins Bockshorn jagen, wollte mich überlisten, als hätte ich nicht verstanden, wie sein „Geschichtenerzählen“ gemeint war, jetzt also legte es mir die Worte seiner eigenen Schlußzeilen in den Mund, damit ich es sage, damit ich es bin, der ihm zuruft: „Bitte bitte, ,hören Sie auf! – / Ich glaube, / Sie erzählen mir da lauter Geschichten.“
Seine Absicht schlug fehl. Ginge es hier nicht um die sachliche Auseinandersetzung mit einem Text, ich könnte ehrlich sagen: Gottseidank! So sehr hat es mich geäfft. Bis zum Schluß. Bis zu den drei Telefonzellen, die über den Ozean schwimmen. Als hätten noch Zweifel bestanden, daß es sich hier nicht um drei Telefonzellen, sondern um jene drei grünen Fische handelt, die nach vollzogener Teppichklopf-Arbeit unseren Kontinent verlassen und das Lob ihrer Leistung nach Übersee tragen, von wo aus die Nachricht zu uns kommen wird: Auch dort ist’s an der Zeit, mit der alten Gewohnheit zu brechen!
Und dieser tückische Höhepunkt in einem Gedicht, das ganz und gar mißverstanden werden kann! Denn es wirkt reichlich albern. Und so, als hätte es einen albernen Menschen zum Verfasser. Oder einen Trinker. (Leichtsinnige im Urteil, lest meinen Aufsatz!)

Günter Bruno Fuchs aus Günter Bruno Fuchs: Erlernter Beruf eines Vogels, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, 1981

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