Guntram Vesper: Zu Guntram Vespers Gedicht „Stark wie der Tod“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Guntram Vespers Gedicht „Stark wie der Tod“ aus Guntram Vesper: Die Inseln im Landmeer. −

 

 

 

 

GUNTRAM VESPER

Stark wie der Tod

Kurz vor ihrem Verschwinden fuhren wir
immer wieder
durch das dunkle schwer schlafende Land
und sprachen von den Menschen, die
so unheimlich
tot waren, daß man sie nicht
zum Leben
erweckt sehen wollte:
sein Glück auf dem Unglück
der anderen
aufbauen
und die Geschichte zur großen Säuberung machen.

Einmal geriet ein Hase unter
die Räder, sie
zerstampfte ihn mit dem Absatz.

Ihr langsames Lächeln, als hätte sie gerade
die Ursache aller Traurigkeit
ausgerottet.

Mit einer Art Neid sah ich
jedesmal
in ihr entstelltes Gesicht.
Bildete mir ein, daß ich restlos verstand.

 

Einige Bemerkungen zum Schreiben von Gedichten.

Das Fazit im voraus: ein geglücktes Gedicht, das bedeutet für mich größte Freiheit am Anfang und größte Geschlossenheit am Ende der Arbeit, intensivste und intimste Form des Sprechens, Nähe zu mir selber, Kunst.
Ich habe keine Regeln, kein Programm, wenn ich lyrische Texte entwerfe, an ihnen arbeite, ein Autor ist vorhanden, die Welt um ihn herum und in ihm, ich kenne die alten Gedichte. Bis auf Feder, Papier und Notizbuch liegt nichts auf der Platte des Tisches.
Kürzlich habe ich zwei Aufsätze aus dem Anfang der sechziger Jahre noch einmal gelesen, „Die Entstehung eines Gedichtes“ von Hans Magnus Enzensberger und Walter Höllerers „Wie entsteht ein Gedicht“.
Es sind erstaunliche, sorgfältige Arbeiten, die Schritt für Schritt, Stufe für Stufe ein Gedicht aufbauen oder besser: nachbauen. So ließe sich verfahren; indem man die Entstehung eines lyrischen Textes belegt. Zum einen Wort wird das andere gestellt, Bilder tauchen auf, werden verworfen oder verwendet, hypothetische oder endgültige Sätze bilden sich, jede Operation erfährt eine Begründung.
Aber wie ließen sich in eine solche nachträgliche Genese meine dreißig, vierzig Fassungen eines Gedichts einsetzen? Auf welche Weise könnte ich den Zweifel, den Überdruß und quälenden Leerlauf an diesem oder jenem Punkt der Arbeit, die Aussichtslosigkeit und den Mangel an Bildern, das Fehlen von Wörtern belegen? Ich würde eine Retorte beschreiben, die es nicht gibt. Um sie wahrscheinlicher zu machen, müßte ich über jede Zeile des Gedichts fünf oder fünfzehn Sätze der Erklärung ziehen, Enzensberger hat das „Rückübersetzung“ genannt. Dabei ordnet man, wenn es sich um Gedichte handelt, Knochen und gibt sie als Ganzes aus.
Ein anderes Verfahren haben mir der Zufall und ein Brief gezeigt, den ich im Sommer dreiundachtzig von einer siebzehnjährigen Schülerin aus einem Dorf bei Neustadt an der Aisch bekam. Anscheinend wurde in der Unterprima mein Gedicht „Stark wie der Tod“ besprochen.

Es geht, las ich, um Ihr Gedicht „Wie der Tod“, das in meiner Klasse analysiert wird. Da ich aber damit nicht ganz klarkomme, möchte ich mich mit einigen Fragen an Sie wenden. Wann wurde das Gedicht verfaßt? Aus welchem Grund wurde es verfaßt? Wer ist mit dem weiblichen Pronomen „sie“ gemeint? Wer sind die „Menschen, die so unheimlich tot waren“? Warum war der Ich-Erzähler neidisch? Warum war ihr Gesicht entstellt? Was hätte der Ich-Erzähler verstanden haben sollen? Ich möchte Sie bitten, meine Fragen möglichst bald zu beantworten, und bedanke mich schon jetzt dafür.

Dem Brief beigelegt war eine Kopie des Gedichtes.

Ich schrieb noch am gleichen Vormittag einen Antwortbrief von drei Seiten, das hat keine zwei Stunden gedauert. Zeile auf Zeile ging ich das Gedicht durch, ich baute es nicht nach, ich gab Hinweise auf Knotenbereiche und Weichenstellungen, ich bekundete und behauptete nichts, ich setzte nur Fragezeichen, wies auf Möglichkeiten hin. Was am Ende vorlag, war kein Kontext, noch weniger Interpretation, es handelte sich um einen Gang durch das Gedicht, aus einem Einfall heraus und ohne Vorbereitung, der Versuch war mit den Bedingungen des Alltags belastet.

Das Gedicht, schrieb ich, stammt aus meinem im letzten Winter erschienenen Lyrikband Die Inseln im Landmeer. Es ist, wie fast alle dort versammelten Texte, in den Jahren einundachtzig und zweiundachtzig entworfen und bearbeitet worden. Da ich jedes Gedicht vom ersten Entwurf bis zur endgültigen Fassung mindestens zwanzig Mal abschreibe, durch Wochen und Monate, kann ich nur diesen ungefähren Entstehungszeitraum angeben.
Der vollständige Titel des Gedichtes lautet übrigens „Stark wie der Tod“. So heißt der Roman von Maupassant über eine Liebe, die zerstörerisch wie der Tod ist. Ich habe ihn in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren drei oder vier Mal gelesen, immer anders, er gehört zu meinen Lieblingsbüchern.
Statt die mir und dem Gedicht gestellten Fragen einzeln und isoliert vom Ganzen zu beantworten, will ich versuchen, etwas wie eine Expedition durch den Text zu machen, Fragesätze, die oft schon halbe Antworten in sich tragen, zu finden, Hinweise auf Gedankenketten hinter der Niederschrift zu geben. Natürlich ließe sich viel mehr sagen. Aber das wäre uferloses Sprechen. Was ich gemeint habe, ist im Wortlaut des Gedichts geronnen.
Also: es handelt sich um ein Paar, um Mann und Frau. Er tritt als „ich“ auf, von ihr wird erzählt. Als erstes hören wir, daß sie, später, verschwunden ist. Das heißt, nicht mehr bei ihm oder um ihn. Ist sie weggegangen? Zu einem anderen? Tot? Untergetaucht? Das wird bewußt unklar gelassen, Gewicht liegt nur aus seiner Empfindung, allein zu sein.
Wovon das Gedicht spricht, hat sich kurz vor ihrem Verschwinden ereignet. Die Vermutung liegt nahe, daß ein Zusammenhang besteht. Oder ist, was geschieht, Anzeichen für eine Veränderung der Frau, die viel früher eingesetzt hat und am Ende zu ihrem Verschwinden führt? Darüber ließe sich, beim Weiterlesen, nachdenken.
Im Folgenden wird berichtet, daß das Paar, über dessen bürgerliche oder nichtbürgerliche Beziehung bezeichnenderweise kein Wort fällt, nächtelang durch das schlafende, schwer schlafende Land gefahren ist, ruhelos, ohne Ziel. Der außergewöhnliche Zustand, in dem sich beide befinden, kommt besonders in der Art und Weise zum Ausdruck, wie sie die anderen Menschen sehen: aus großer Distanz, als „tot“, nämlich als dumpf und erstarrt. Und dieses Totsein wird als positives Moment negativer Zustände empfunden. Denn wehe, wenn die Schlafenden aufgeweckt. Dann bauen sie ihr Glück auf Kosten anderer auf. Oder kennen nur die rigorose Ideologie, die beispielsweise zu den rassischen „Säuberungen“ der Nazis und zu der Tschistka Stalins geführt hat.
Jetzt folgt im Gedicht der Vorfall mit dem Hasen, auf einer der nächtlichen Fahrten. Er liegt verletzt auf der Straße, vielleicht bewegt er sich noch. Tritt sie ihn tot, weil sie das Werk des Autos vollenden will? Aus Zorn? Oder hat sie Mitleid mit dem gequälten Tier?
Als sie zurückkommt, aufs Auto zu, und ins Scheinwerferlicht tritt, sieht er, daß sie lächelt, „als hätte sie gerade die Ursache aller Traurigkeit ausgerottet“. Aber wie lächelt man denn dann? Wie kommt der Mann gerade auf diese Vermutung? Es muß ein Zusammenhang mit der Tötung des Hasen bestehen, der die Frage nahelegt, ob das Leiden der Kreatur als „Ursache aller Traurigkeit“ verstanden werden kann. Aber darüber ist, warum, nichts gesagt.
Vielleicht soll man als einzelner antworten.
Jedenfalls würde eine solche „Ausrottung“ ein sehr großes Unternehmen sein. Vermag einer allein das überhaupt? Und wenn es viele unternähmen, was wäre das Ergebnis? Möglicherweise hat es Versuche gegeben, an die „Säuberungen“ ließe sich denken, eine Parallele zum Tod des Hasen könnte gemeint sein.
Es gibt einen Widerspruch und eine Verbindung zugleich zwischen der Art, wie er ihr Lächeln sieht, einordnet, und der Möglichkeit an sich. Unterlegt er ihr also etwas, verlangt er ihr mit seiner Vorstellung, „als hätte sie gerade…“, etwas ab? Der Schlußvers spräche dafür.
Was wäre das aber? Eindeutig etwas, das „eine Art Neid“ in ihm hervorruft. Was er selbst gern täte? Doch dieser Versuch zu handeln, die Ursache aller Traurigkeit auszurotten, entstellt in seinen Augen ihr Gesicht. Alle Gesichter, möglicherweise. Auf welche Art hängen dann Lächeln, Ausrottung aller Traurigkeit, Säuberung und Entstellung zusammen? Hängen sie überhaupt zusammen? Oder sieht er das nur so? Will er es so sehen?
Hier ist wieder der einzelne Leser gefragt. Mit einer Antwort sollte man sich Zeit lassen. Man sollte genau und wahrhaftig zu sein versuchen. Denn wenn der Erzähler im Augenblick des Sprechens im Gedicht, in der letzten Zeile, sagt: „Bildete mir ein daß ich alles verstand“, dann ist das als Warnung gemeint. Anscheinend hat es falsche Bilder, verkehrte Schlüsse gegeben, man kann die Durchdringung nicht nachhholen, das Verschwinden nicht rückgängig machen.
Das Verhältnis zweier Menschen zueinander, das Verhältnis des einen zu den anderen, der anderen zu dem einen, das Gedicht hat einen unauflösbaren Rest eine letzte Frage, an den Autor genauso wie an den Leser.
Ein Wort noch zum Schreibtischleben, zur Arbeitsweise. Ich sitze in meinem Zimmer, manchmal im Café oder im Speisewagen. Außer dem Netz meiner Gefühle, dem Gitter meiner Erfahrungen und dem wechselnd beschränkten Verzeichnis meiner Wörter habe ich das blaue Notizbuch. Die inzwischen zweieinhalbtausend Gedankenscherben können ein Gedicht auslösen, können der Arbeit weiterhelfen, mich einen Schlußvers finden lassen. Allerdings gewinnt nur jede zwanzigste, dreißigste Notiz irgendwann Bedeutung.
Der harte Stuhl, ich beuge mich über die Platte. Vor mir Tintenglas, Federhalter und Papier, in meinem Rücken die Regale, die Bücher. Stiller Vormittag. Dann habe ich das Gefühl großer Möglichkeiten aus der Ruhe der Arbeit heraus. Wenn ich mich anspanne, ohne mich zu verengen, werde ich sagen können, was gestern noch nicht möglich war, was morgen schon verschüttet ist.
Diese Stimmung löst am ehesten ein Gedicht aus. Der Vorgang selber ist dunkel. Unmöglich zu sagen, wie ich beteiligt bin, mit welchen Bereichen der inneren Welt. Wahrscheinlich: mit allen. Auf jede Formulierung, auf jeden Satz, jedes Bild, die festgelegt sind, suche ich eine Antwort, als Annäherung und als Weiterführung. Um die vierzig Gedichte des Buches Die Illusion des Unglücks als Entwürfe aufzuschreiben, dazu zehn Texte, die am Ende ausgeschieden sind, habe ich sechs ungestörte Wochen in Steinhein gebraucht. Dort ist jeden Tag die erste Fassung eines Gedichtes entstanden. Die Bearbeitung dieser vierzig, fünfzig Entwürfe hat dann beinahe ein Jahr gedauert, es gibt von einigen Gedichten gegen fünfzig handschriftliche Fassungen, das Manuskript für den Band sieht aus, als hätte ich einen Roman von sechshundert Seiten geschrieben. Mit den folgenden Arbeiten Nordwestpassage. Ein Poem und Die Inseln im Landmeer verhält es sich ähnlich. Hinter einem solchen Verfahren steht die Erwartung und Hoffnung, daß das Gedicht durch die Fassungen hindurch meinem inneren Sprechen immer näher kommt, daß der Wortlaut des Gedichts und meine Welt der Empfindungen und Überlegungen, der ästhetischen Vorstellungen sich im Prozeß von Frage des Textes und meiner Antwort aufeinanderzubewegen. So eröffnet das Schreiben von Gedichten die Möglichkeit, der eigenen unverwechselbaren Sprache auf der Spur zu sein, ja sie ansatzweise zu sprechen. Das Zwiegespräch zwischen den Wörtern auf dem Papier und mir, der ich undeutlicher und reicher bin, macht mich vor mir selber wahrnehmbarer.
Denn das, was ich in Form stark stilisierter, verkürzter und verdichteter Geschichten erzähle, ist keine Widerspiegelung von Erlebnissen, sondern von Empfindungen, von Mitleid, Trauer und Empörung etwa, ist eine Kette, ein Arrangement innerer Bilder, Literatur eben, Kunst vielleicht.

Guntram Vesper, Sprache im technischen Zeitalter, Heft 90, 15.6.1984

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