Hans Thill (Hrsg.): Meine schlichten Reisen

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Hans Thill (Hrsg.): Meine schlichten Reisen

Thill (Hrsg.)-Meine schlichten Reisen

Parmi des merveilles ruinées
Des morceaux, pas même des éclats
Des trous dans la pensée

L’enfer, c’est aussi quand du calme envahit
Chaque bruit détaché existant pour lui-même
Relié d’aucune sorte : une stupéfaction
Où neige l’absent…

Et dormir serait à jamais comme un soulagement
Du vacarme sale que font ainsi les heurts
Le quotidien, goutte à goutte

Eric Brogniet

 

unter ruinierten wundern
bruchstücke, nicht mal splitter
gedankenlöcher

hölle ist wenn schweigen
jedes geräusch verschlingt
isoliert in sich, getrennt
von allem: ein großes staunen
durch das abwesendes sinkt wie schnee

von da an könnte schlaf wie ferien sein
vom alles beschmutzenden lärm des gedrängels
tagtägliches, tropfen für tropfen

Übersetzung Michael Speier

 

Unter all der Schönheit im Verfall
Stückchen, nicht einmal Splitter
Gedankenlöcher

Hölle ist auch, wenn Ruhe einkehrt
Jedes Geräusch, das sich ablöst, nur für sich besteht
Keinerlei Verbindung: Erstaunen
Wo Absenz herabschneit…

Und der Schlaf wäre für immer Entlastung
Vom schmutzigen Radau wenn die Dinge aneinander prallen
Tropfen für Tropfen Alltäglichkeit.

Übersetzung Hans Thill

 

Unter ruinierten Wundern
Splitter fast, kaum noch Funken,
Lücken im Denken

Die Hölle dann, wenn Lautlosigkeit einflutet
Geräusche losgelöst von allem, nur für sich
Mit nichts verbunden: betäubte Sprache
In die wie Schnee sich die Absencen senken

Schlaf wäre die endgültige Erlösung
Vom krassen Lärm, vom unaufhörlichen Klopfen
Des Alltags, Tropfen für Tropfen

Übersetzung Gerhard Falkner

 

 

 

Vorbemerkung

Vielleicht ist es kein Zufall, daß eine der ersten wirklich europäischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, der Surrealismus, nach dem zweiten Weltkrieg eine Erneuerung erfuhr, die von den Rändern der Metropolen kam: Copenhagen, Brüssel, Amsterdam. Wer sich für eine experimentelle Kunst interessiert, die die Grenzen überschreitet und Übergänge produktiv macht, wenn sie ihre poetischen Slogans und Verwirrsätze in die Welt hineinschreibt, der wird sehr bald bei Pierre Alechinsky und Christian Dotremont fündig. Beide sind Belgier, wobei letzterer, Bild-Dichter mit einem sprechenden Namen (autrement, autre monde), Theoretiker der Gruppe COBRA, zeitlebens die Einsamkeit des Künstlers thematisiert hat – indem er das Malen zu mehreren propagierte und praktizierte. Bei manchen gemeinsam entstandenen Bildern des Duos Alechinsky/Dotremont handelt es sich um eine sich gegenseitig befeuernde spontane Wortkunst, direkt auf die Leinwand geschrieben, gemalt:

Wenn die Nacht kommt, zünde ich ein wenig Schrift an, damit ich etwas sehe, aber ich sehe nichts, also krieche ich unter den Buchstaben hindurch, um in dem, was ich gesagt hätte, davonzufliegen.

Eine Übersetzung dieses Bild-Textes, wie ich sie hier gewagt habe, bleibt notwendigerweise halbseitig, nur ein trauriger Abklatsch des Kunstwerks. Der Übersetzer, der den Text nicht mit vergleichbarem Schwung auf die Leinwand zu bringen vermag, gibt nur den Inhalt wieder, verglichen mit den beiden Kunst-Aktionisten ist er ein trauriger Maulheld.
Das Problem einer adäquaten Wiedergabe poetisch aufgeladener Texte beschäftigt uns in Edenkoben, wenn sich Dichter und Dichter zur Übersetzung treffen. Dass man erst dann ein guter Übersetzer ist, wenn man sich der Unzulänglichkeit seines Produkts bewusst ist, diese Erkenntnis soll schon immer, seit es das Projekt Poesie der Nachbarn gibt, in einen Prozess gemeinsamer künstlerischer Arbeit umgemünzt werden. Hier, wo die Sprachen beides sind, Material an dem gearbeitet wird und Medium in dem gearbeitet wird, zeigt sich eine leise Politik von Verstehen und Verständnis, besonders wenn eine mehrsprachige Nation wie Belgien zu Gast ist. Angesichts einer Krise, in der diese Nation auseinanderzubrechen drohte, wäre das nicht wenig (mehr darüber im Nachwort der beiden Interlinearübersetzer Beate Thill/Stefan Wieczorek am Ende dieser Anthologie). Um die Vielfalt der Übersetzungen zu präsentieren und zu signalisieren, dass sie bei aller Unterschiedlichkeit jede für sich triftig sein können, wurden, wo es sich anbot, zahlreiche deutsche Versionen eines Gedichts aufgenommen. Der Titel dieser Anthologie Meine schlichten Reisen ist die (gewagte) Übersetzung aus einem Gedicht von Karel Logist, die allerdings keiner der Nachdichter für seine Version gewählt hat.

Hans Thill, Vorwort

Beobachtungen zum Übersetzungsmodell

Wie unterscheidet sich Übersetzen von Interlinearübersetzen? Der Vorgang des Übersetzens läßt sich in Phasen beschreiben, beispielsweise: die erste Phase beginnt mit dem Lesen des Originaltextes und seiner Einordnung in einen größeren Zusammenhang des Werks eines Autors und seines Umfelds. Danach folgt eine Phase der Interpretation, des genauen Lesens und Herausfindens der Stilmittel, Leitideen, Leitwörter, um diese Struktur im übersetzten Text wiederzugeben. Erst danach folgt das Suchen von Lösungen im Deutschen für einzelne Wörter oder Ausdrücke, für den Satzbau und seine Struktur.
Interlinearübersetzung läßt sich definieren als der Versuch, diese ersten Schritte eines Übersetzungsvorgangs transparent zu machen. Interlinearübersetzen hat eine pädagogische Seite. Während Übersetzung von Lyrik auf das ästhetische Ergebnis, oder besser, Erlebnis ausgerichtet ist, gibt die Interlinearversion den übersetzenden Autoren das Material an die Hand, um zu einem solchen poetischen Ergebnis zu gelangen. Der Interpretationsphase des Übersetzens gilt hier besonderes Augenmerk.
Der Interlinearübersetzer schlägt dem Dichter eine möglichst wörtliche Übersetzungsvariante des gesamten Gedichts vor, angereichert mit Anmerkungen zu dem Bedeutungsraum der Wörter im Original. Es ist von höchster Wichtigkeit, diesen Raum möglichst ganz auszuleuchten, denn Lyrik spielt ja per definitionem mit den verschiedenen Assoziationen, emotionalen Ladungen, die Wörter auslösen, und was in ihnen anklingt – dazu gehören auch Homonyme und leichte Verschiebungen.
Es wäre nicht sinnvoll, aber auch wohl nicht möglich, einen Text, der nur aus Fußnoten besteht, als Interlinearversion einzureichen. Denn die „aufgeladene“, emotive Dimension des Gedichts, die Ballung von Sinn, Semantik und gelenktem Zufall in einem Bild, einer Zeile, muß in einem bereits deutenden lesbaren Text weitergegeben werden.
Das interlineare Übersetzen produziert einen unstimmigen Text, einen, der sich vor Entscheidungen drückt und sich alle Möglichkeiten offen hält. Sein Alibi ist die Korrektheit. Aufgabe des Dichters in der Übersetzungswerkstatt ist es, diesen Text zu stimmen und umzustimmen, um schließlich Literarizität, das was das Gedicht zum Gedicht macht, zu erzeugen. Dies ist immer ein Prozeß der Emanzipation. Wie dieser Prozeß sich entwickelt, kann von Übersetzer zu Übersetzer sehr unterschiedlich sein. Der eine verbrüdert sich gleichsam mit der Interlinearversion, läßt sich von ihr führen, schreibt sie fort, für den anderen ist sie eher ein „falscher Freund“, dem es zu mißtrauen gilt, von dem sich das eigene übersetzte Gedicht distanziert. (Mit „falschem Freund“ bezeichnet die Übersetzungskritik Wörter aus verschiedenen Sprachen, die aufgrund von Gleichklang oder identischer Schreibweise auch eine identische Bedeutung vorgaukeln, wie zum Beispiel das niederländische Adjektiv „deftig“, das allerdings nichts deftiges bezeichnet, sondern so viel wie „vornehm“ meint; in diesem Sinne gaukelt die Interlinearversion ihre Identität mit dem fremdsprachlichen Gedicht vor).
Die Arbeit in der Übersetzungswerkstatt verläuft in einem Wechselspiel aus Gespräch und Stille, Geselligkeit und Rückzug, Beschleunigung und Verzögerung. Einen Rahmen setzt das vorgegebene Programm. Jedoch scheinen diese Wechselspiele oder Spannungen beinahe Grundprinzipien kreativer, schreibender Prozesse zu sein, und es ließen sich die verschiedensten Strategien in der Übersetzungswerkstatt beobachten, diese zeitlich und räumlich zu organisieren. Dazu gehört auch der Umgang mit den Arbeitsmaterialien: sei es das Überschreiben und handschriftliche Kommentieren der Interlinearfassungen, der suchende mündliche und schriftliche Übersetzungsentwurf oder die entschlossene Geste, direkt am Laptop zu arbeiten.
Quasi alle am Projekt beteiligten Autoren haben Erfahrungen mit dem Übersetzen – durch die Zusammenarbeit mit den Übersetzern der eigenen Texten oder vielfach durch eigene Übersetzungstätigkeit. Dadurch herrscht auch eine gewissen Vertrautheit mit den übersetzerischen Gepflogenheiten, Erwartungshaltungen gegenüber Übersetzungen sowie den gängigen Qualitätskriterien. So wurde beispielsweise der offene Begriff des „Nachdichtens“ in diesen Tagen weitgehend gemieden. Dies erhöht das Niveau der Übersetzungen, erzeugt aber auch eine Art von Übertragungsdisziplin, die der eigenen Kreativität möglicherweise Grenzen setzt. Zum Prüfstein wird das einzelne Gedicht.
Die Übersetzungswerkstatt nach diesem Modell erfordert und ermöglicht das Gespräch von Autor, (Interlinear-)Übersetzer und Moderator in wechselnden Konstellationen und mit wechselnden Rollen. Dabei lassen sich variierende Motivationen und Ziele beobachten. Zunächst geht es um semantische und syntaktische Klärung, insbesondere darum, die Bedeutungshöfe und die Metaphern der anderen Sprache auszuloten. Ein wesentlicher Emanzipationsschritt von der Interlinearfassung stellt die Auseinandersetzung mit Lautlichkeit, Rhythmus und Klangfiguren des Originalgedichts dar. In anderen Fällen wird der Autor befragt, um dessen Intention zu rekonstruieren oder zumindest dessen Lesart des eigenen Textes zu verstehen. Wieder andere fragen gar nicht danach, was etwas bedeutet, sondern nach der Poetologie, also beispielsweise danach, wie das Gedicht gemacht ist, welche sprachlichen Verfahren es von der Alltagssprache unterscheiden, um in der Übersetzung diese Verfahren in der anderen Sprache zu realisieren. Hinter diesen Perspektiven steht zweifelsohne auch ein jeweils spezifisches Dichtungs- und Übersetzungsverständnis.
Dem Leser bleibt es überlassen, die Übersetzungsstrategien und ihre Spielfreude in den nunmehr deutschsprachigen Gedichten dieser Anthologie wieder zu entdecken.

Beate Thill / Stefan Wieczorek, Nachwort

 

Über dieses Buch

Philologisch begleitet von Beate Thill (Französisch) und Stefan Wieczorek (Niederländisch) haben deutschsprachige Lyriker ihre flämischen und wallonischen Kollegen ins Deutsche übersetzt. Neben den drei Schriftsprachen niederländisch, französisch, deutsch fanden noch viele weitere Idiome ihren Einsatz, ein schönes Babylon im gemeinsamen Bemühen zur Erstellung von Nachdichtungen herausragender Autoren Belgiens. Die Anthologie vermittelt einen faszinierenden Überblick über die belgische Szene, die in ihrer Vielfalt der Sprachen und Stimmen in Europa ihresgleichen sucht. Dirk van Bastelaere, Eric Brogniet, Karel Logist, Els Moors, Erik Spinoy, Liliane Wouters übersetzt von Gerhard Falkner, Zsuzsanna Gahse, Norbert Lange, Michael Speier, Ulrike Almut Sandig, Hans Thill.

Verlag Das Wunderhorn, Ankündigung

 

Informationsseite für Poesie der Nachbarn

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Facebook
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Galerie Foto Gezett +
Dirk Skiba Autorenporträts
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Hans Thill

 

Hans Thill liest sein Gedicht „Kühle Religionen“.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00