Hans-Ulrich Treichel: Zu Günter Eichs Gedicht „Tage mit Hähern“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Eichs Gedicht „Tage mit Hähern“ aus Günter Eich: Gesammelte Werke in vier Bänden. Band I: Die Gedichte. Die Maulwürfe

 

 

 

 

GÜNTER EICH

Tage mit Hähern

Der Häher wirft mir
die blaue Feder nicht zu.

In die Morgendämmerung kollern
die Eicheln seiner Schreie.
Ein bitteres Mehl, die Speise
des ganzen Tags.

Hinter dem roten Laub
hackt er mit hartem Schnabel
tagsüber die Nacht
aus Ästen und Baumfrüchten,
ein Tuch, das er über mich zieht.

Sein Flug gleicht dem Herzschlag.
Wo schläft er aber
und wem gleicht sein Schlaf?
Ungesehen liegt in der Finsternis
die Feder vor meinem Schuh.

 

 

Vogelfeder ohne Sinn

Zwei Gedichte dürften zu seinen berühmtesten zählen: das eine heißt „Inventur“, stammt aus dem Jahr 1947 und gilt als das programmatische Gedicht der Kahlschlagliteratur, welche allem ideologischen Ballast entsagen möchte und sich auf das pure Dasein der Dinge konzentriert:

Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel
(…).

Das andere Gedicht bezieht seinen Ruhm aus einer Provokation: Es heißt „Latrine“, stammt aus dem gleichen Zeitraum (1946/1948), und es erlaubt sich „Hölderlin“ auf „Urin“ zu reimen:

Über dem stinkenden Graben
voll blutigem Kot und Urin
(…)
Im Fieber schallen im Ohre
mir Verse von Hölderlin.

Das Gedicht kann als Attacke gegen jene gesellschaftsferne und restaurative Lyrik gelesen werden, die von den Schrecken der Geschichte nichts wissen und die Natur als höhere, metaphysisch erfüllte Daseinsform besingen, die sich weihevoll vor der Kunst und ihren Traditionen verbeugen möchte und die nach 1945 durchaus wieder im Kommen war. Der Affront der „Latrine“ ist inzwischen verhallt, und auch der Lyriker Günter Eich ist diesen Weg der Provokationen nicht weitergegangen. Im Gegenteil: Wer heute beispielsweise das in dem Band Botschaften des Regens (1955) veröffentlichte Gedicht „Tage mit Hähern“ liest, der wird, zumindest auf den ersten Blick, einiges von dem Inventar wiederfinden, das eine gesellschaftsferne Naturlyrik von jeher auszustatten scheint. Da ist der Vogelflug und die Morgendämmerung, da sind die Eicheln und das Laub, da sind die Äste und Früchte, und da ist das – metaphorisch sehr konventionelle – Tuch der Nacht, das der Eichelhäher – sehr kühn – aus Ästen und Baumfrüchten „hackt“. Und da ist eben auch ein lyrisches Ich, das ein – allerdings vergebliches – Zwiegespräch führt mit der Natur, genauer: dem Häher.
Konnte Eich in „Ende eines Sommers“, das den „Tagen mit Hähern“ unmittelbar vorangestellt ist, noch schreiben: „Dem Vogelzug vertraue ich meine Verzweiflung an“, so setzt er nun eine Beziehungslosigkeit zwischen Natur und lyrischem Ich ins Bild. Die blaue Feder, schönster Schmuck des Vogels und poetisches Zeichen, wird nicht zur blauen Blume des Dichters. Der Vogel verweigert sie ihm. Und dort, wo er sie ihm schließlich überläßt, weiß das lyrische Ich das Zeichen nicht nur nicht zu deuten, es nimmt es nicht einmal wahr:

Ungesehen liegt in der Finsternis
die Feder vor meinem Schuh.

Es ist gerade das Eingeständnis dieser Beziehungslosigkeit zu einer bedeutungshaften oder gar sinngebenden Natur, aus dem das Gedicht seine, paradox formuliert, desillusionierende Kraft bezieht. Darum ist auch ein anderes Gedicht Günter Eichs, „Die Häherfeder“ (entstanden 1946), das weniger radikale und wohl auch weniger wahrhaftige:

Ich bin wo der Eichelhäher
zwischen den Zweigen streicht,
einem Geheimnis näher
das nicht ins Bewußtsein reicht.

Zwar hütet sich Eich, das Geheimnis beim Namen zu nennen (das Numinose hat schließlich auch keinen), aber es genügt doch diese Andeutung, damit wir es wispern und raunen hören im Gedicht. „Die Häherfeder“ suggeriert einen unaussprechlichen tieferen Sinn, und das in einer Zeit, in der die Welt in Trümmern liegt. Der spätere Text verweigert den raunenden Hinweis, stellt nicht mehr die nur noch ornamentale, nur noch rhetorisch gewordene Frage:

Das Rauschen der Vogelschwinge,
begreift es den Sinn der Welt?

In den „Tagen mit Hähern“ begreift der Naturlyriker Eich, daß wir allein sind und unaufgehoben vor der Natur.

Hans-Ulrich Treichelaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreiundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2000

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00