Harald Hartung: Zu Gottfried Benns Gedicht „Eure Etüden“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Gottfried Benns Gedicht „Einsamer nie −“ aus  Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. −

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Eure Etüden

Eure Etüden,
Arpeggios, Dankchoral
sind zum Ermüden
und bleiben rein lokal.

Das Krächzen der Raben
ist auch ein Stück −
dumm sein und Arbeit haben:
das ist das Glück.

Das Sakramentale −
schön, wer es hört und sieht,
doch Hunde, Schakale
die haben auch ihr Lied.

Ach, eine Fanfare,
doch nicht an Fleisches Mund,
daß ich erfahre,
wo aller Töne Grund.

 

 

Die andere Musik

Gottfried Benn liebte Musik, doch er wollte nie als großer Musikkenner erscheinen. Ihm sagte „Tosca“ mehr als „Die Kunst der Fuge“, und beim Schreiben schätzte er ein wenig Hintergrundsmusik. „Ein Schlager von Rang“, meinte er, „ist mehr 1950 als 500 Seiten Kulturkrise.“ Ihm war aber wichtig, daß er noch Pablo de Sarasate auf seiner Geige gehört hatte und Caruso in der Met. Für Hindemith schrieb er den Text eines Oratoriums, eines seiner statischen Gedichte reklamiert Chopin für den Begriff der Artistik, und die letzte Einzelpublikation – 1955, ein Jahr vor Benns Tod erschienen – prägt den Begriff „Aprèslude“. Hier erschien erstmals unser Gedicht, das in jeder seiner Strophen auf Musik anspielt.
Aber ist Musik überhaupt sein Thema? Oder ist es bloß Motiv oder gar Vorwand für etwas ganz anderes – etwa für die Frage nach dem Glück? „Dumm sein und Arbeit haben: / das ist das Glück“, dies zynische Bonmot erscheint gleich im ersten Entwurf des Gedichts. Es verrät den Intellektualisten, der „dem Gegenglück, dem Geist“ dient und doch von offenkundiger Glückssehnsucht erfüllt ist. Daher der ironisch-sarkastische Ton, mit dem das Gedicht beginnt. Daher die Geste der Distanzierung. „Eure Etüden“, so setzt sich der Sprechende ab – aber von wem? Und was hat er ihnen entgegenzusetzen?
Es ist der Rundumschlag, um den es ihm geht. Jedes Stichwort ist ihm recht, um sich einen bösen Reim darauf zu machen. Etüden ermüden, und der Dankchoral bleibt lokal – „ist nicht das ganze Lied“, wie es in den Entwürfen heißt. Aber was ist das ganze Lied? Auch die Kreatur sucht nach Ausdruck, nach Erlösung – die Raben, die Hunde, Schakale, „die haben auch ihr Lied“. Doch der freche, der lästerliche Reim, der das „Sakramentale“ provoziert, führt nur in eine neue Aporie: in die Sackgasse des Nichtglaubenkönnens. „Glauben“, sagt Benn in Doppelleben, „stellt mich schon außerhalb der Substanz, in der ich arbeite“ – gemeint ist die Sphäre von Kunst und Artistik.
Doch nun, wo nach Benns Artistenreligion das Bekenntnis zur erlösenden Funktion der Kunst fällig wäre, die obligate Maxime à la „Form nur ist Glaube und Tat“ – nun geschieht etwas völlig Unerwartetes. Ein tiefer Seufzer, der Sehnsuchts- und Schmerzenslaut „Ach“ leitet es ein, und dieser Ton eröffnet eine ganz andere Sphäre: nach der forcierten Munterkeit ein wahrhafter Ausbruch von Erlösungssehnsucht, fast die Evokation der Erlösung: „Ach, eine Fanfare, / doch nicht an Fleisches Mund, / daß ich erfahre, / wo aller Töne Grund.“
Das ganz andere ist in das kleine Gedicht eingebrochn, im Bibelton des Alten Testaments und der Offenbarung Johannis (Benn von Jugend an vertraut). Aber nicht plump und das Format sprengend. Zu bewundern ist, wie kunstvoll der Autor es anspielt und zusammenfügt. Die weltliche Fanfare, nicht die biblische Posaune ist das Instrument dieser anderen Musik. Dafür läßt „doch nicht an Fleisches Mund“ keinen Zweifel an Bibelton und -kontext und ersetzt das blasse „Menschenmund“ des Entwurfs. Schließlich, als wär’s von Paul Gerhardt, scheint die Strophe daraus den Reim und die fromme Lehre zu machen. Ich sage: scheint. Denn die Evokation der göttlichen Fanfare ist an das „Ach“ gebunden, ist Wunsch-Bild, Wunsch-Musik, nicht Erfüllung.
Ist also der Pfarrerssohn, der sich einst als „armen Hirnhund, schwer mit Gott behangen“, empfand, zum Glauben der Väter heimgekehrt? Er hat ja immer am „Fanatismus zur Transzendenz“ festgehalten, aber diese Transzendenz blieb ihm rein verbal. Gott galt ihm als schlechtes Stilprinzip. Andererseits gibt es vom alten Benn Bezeugungen der Demut, Distanz als „reine Ehrfurcht vor dem großen Wesen“ und – im letzten Brief an den Freund Oelze – die Hoffnung: „Wir werden nicht fallen, wir werden steigen.“

Harald Hartung, Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002

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