Heinrich Detering: Untertauchen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Heinrich Detering: Untertauchen

Detering-Untertauchen

KLOPSTOCK, SPRACHLOS

die Sichel die den Sternenhimmel ritzt
er sucht die bleiche Sichel mit dem Blick
und jählings packt ihn wieder im Genick
die kalte Macht die ihn bei Nacht besitzt

verschwunden erst dann unverhofft so nah
ist sie ihm viel zu hoch und viel zu oben
er will sie gleich in einer Ode loben
wie abgrundtief die Nacht wär sie nicht da

wie abgrundtief die Nacht und er inmitten
der Finsternis im kahlen Eichenwald
wie himmelhoch die fahle Lichtgestalt
er greift nach ihr und hat sich schon geschnitten

so liegt er still am Rand des Sterngewimmels
geklammert an den Haltegriff des Himmels

 

 

 

Heinrich Detering stellt am 21.3.2019 seinen Band im Lyrik Kabinett München vor.

 

 

In Waterloo und Stratford,

zwischen Schierke und Elend, Ithaka und Tennessee legen die Gedichte von Heinrich Detering Spuren vergessener Geschichten frei. Sie erzählen von Begegnungen mit Tieren und Menschen, treffen auf Gespenster und Märchenhelden, Aufsteiger und Untertaucher. Sie gehen ins Kino und singen den Blues. Immer erkunden sie dabei die Spannungen zwischen Formstrenge und Leichtigkeit, und immer balancieren sie zwischen Wahrheitssuche und Lügengeschichten.

Wallstein Verlag, Klappentext, 2019

 

Das geheime Leben der Seegurke

– In seinem neuen Lyrikband begibt sich Heinrich Detering an die Grenze des Sichtbaren – und zeigt, wie Bewunderung einen neuen Zugang zur Natur ermöglicht. –

Klimawandel, Umweltverschmutzung, Tierleid. Wie schreibt man Lyrik über eine Natur im Transformationsprozess? Über Arten, die aussterben oder Täler, denen längst jedwede Ursprünglichkeit abhandengekommen ist? Manch ein Poet wird zum Alarmisten oder Melancholiker, andere retten sich in utopische Gegenbilder zu einer zunehmend verheerenden Realität.
Beschäftigen tun Natur und ihr Wandel in jedem Fall viele Lyriker. Wie kaum eine andere literarische Gattung hat sich die Dichtung im deutschsprachigen Raum in den vergangenen Jahren mit diesen Themen befasst. 2016 veröffentlichte kookbooks die Anthologie Lyrik im Anthropozän, inzwischen hat sich unter dem Schlagwort eine eigene Traditionslinie entwickelt, die von Daniel Falb über Silke Scheuermann bis hin zu Marion Poschmann reicht.

Heinrich Deterings Band Untertauchen reiht sich dort ein und ragt doch heraus, weil sich das Bewusstsein des möglichen oder bevorstehenden Verlustes bei ihm nicht aufdrängt und trotzdem enthalten ist, und zwar in der Anerkennung all der schnell zu übersehenden Meisterleistungen der Natur. Die Faszination etwa über einen Wasserläufer:

diese leichteste Berührung übers
Wasser zu laufen das Wunder
ist so einfach und niemand
macht es ihm nach

Und kommt einmal kein Staunen auf, so bringt das lyrische Ich immerhin Mitgefühl auf. Bei einer „unter dem Fenster“ liegenden „Mönchsgrasmücke […] / fiel // mir wieder ein, wie man es richtig machte / ein wenig Erde Speichel das genügt / ein rasches Streichen mit der Fingerspitze“. Hinausgetragen „flog sie singend in den Mondschein auf“.
Statt einem Bedenkenträger begegnen wir einem enthusiastischen Beobachter des Schönen und bisweilen Verblüffenden. Dieser pflegt eine Kultur des Respekts, einer der ethisch begründeten Zurücknahme des Menschen gegenüber seiner Umwelt, die Detering in zärtlich-romantischen, aber nie naiven Bildern darlegt.

Was wir im Zuge der technologischen Modernisierung zu verlieren drohen, was festgehalten werden muss, weil es vergänglich ist, mag man als die zentrale Frage dieses Bandes, wenn nicht gar Deterings Œuvres der letzten Jahre im Allgemeinen ansehen. Nachdem er in seiner Gedichtkompilation Wundertiere (2015) versuchte, anknüpfend an die Romantiker eine Sprache der Natur zu finden, zielen seine aktuellen Poeme sogar noch weiter in die Vergangenheit. So verweist die Kapitelüberschrift „auf Selkirks Insel“ auf das reale Vorbild für Daniel Defoes Robinson Crusoe, dem prototypischem Werk über die humane Unterwerfung der Wildnis am Beginn des 18. Jahrhunderts. Detering griff mit der Nennung Selkirks nicht ohne Grund direkt auf den wirklichen Hintergrund und nicht auf Defoes Geschichte zu. Er interessiert sich nicht für die Überlagerung und Überschreibung, sondern sucht nach den Ursprüngen vor oder jenseits der Zivilisation, gerade im Wissen, dass sie nicht mehr so leicht zugänglich sind.
Seine poetische Strategie vermittelt dabei bereits der Titel Untertauchen. Immer wieder dringt sein lyrisches Ich in kaum bekannte Tiefen ein: hinab zu „Ungesehene[em]“ in „Korallenbänken des Rothen Meeres“ oder der seit „tausend[en] Jahre[n]“ in der „Dunkelheit“ verweilenden Seegurke. Nicht minder reizvoll erscheinen ihm die „Wisperer“ im Gras. Kaum je selbst erblickt, „sind [sie] nur ein Gerücht“.

Die Lyrik des Literaturwissenschaftlers und ehemaligen Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ringt um das Unsichtbare. Es betrifft all das, was im rasanten Fortschritt möglicherweise unterzugehen droht, und all das, was trotz aller zivilisatorischen Expansion im Verborgenen immer schon Bestand hatte. Nämlich so stille Zeitgenossen wie just die Seegurke oder auch die Krähe. Offenherzig bietet ihnen der 1959 geborene Autor einen sicheren Ort, in manchmal festen Formen wie Quartetten und manchmal kurzen Versnotizen. Wie in einem Album blättern wir uns durch diesen Band mit seinen rätselhaften und verwunschenen Wesen. Es ist eine Lektüre für den Frühling, die Lust dazu bereitet, versteckten Spuren in der Landschaft nachzugehen.

Björn Hayer, Die Zeit, 17.5.2019

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Timo Brandt: Wehmutsufer
signaturen-magazin.de

Rainald Simon: Vom heilignüchternen Schreibtisch
fixpoetry.com, 7.6.2019

Thorsten Paprotny: Leise Fantasien – eine lyrische Metaphysik der Güte
rezensionen.ch, 4.5.2019

Petra Hartmann: Heinrich Detering: Untertauchen
scifinet.org, 3.11.2019

 

 

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Georg Langenhorst: Germanist, Katholik, Poet – Heinrich Detering wird 60
feinschwarz.net, 17.10.2019

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