Heinz Czechowski: Zu Richard Leisings Gedicht „Rückfall“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Richard Leisings Gedicht „Rückfall“ aus Richard Leising: Die Rotzfahne. –

 

 

 

 

RICHARD LEISING

Rückfall

Meine Augen sehen mich nicht mehr
Verglast von dem Schnaps
Dem zuschlagenden, übelriechenden
Dem teuren

Ich habe mir im März 90 die Pfote verkohlt
Als ich blau die Gasflamme anbrannte
Die mich dann anbrannte
Zusammen mit den Makkaroni
Auf der Kräuterbutter

Das schreibe ich angesoffen
Ich brauche Stoff, aber es ist keiner mehr da
Und bis zur Kaufhalle schaffe ich es nicht

Tagelang nichts gegessen
Trotzdem dieses Würgen vom Bauch bis zum Hals

Schon der Weg zum Klo ist ein langer Weg
Neun Meter lang
Das ist zu lang
Da liegt grüner Teppich
Den versaue ich jetzt
Schön grün

(1991)

 

Leisings „Rückfall“

Widerstand gegen das Regime war bei einem Autor wie Richard Leising keine Kopfgeburt. Er entstand aus dem inneren Bedürfnis, den Sprach- und anderen Regelungen der offiziellen Literatur- und Kulturpolitik der DDR etwas entgegen zu setzen. Ein Dichter wie Richard Leising war kein „Dissident“, sondern eben ein Dichter.
Als ich Richard Leising kennenlernte, es muß in den sechziger Jahren gewesen sein, befand sich die Sächsische Dichterschule, der man auch Leising zurechnet, in einer schwierigen Lage. Adolf Endler und Karl Mickel edierten ihre Anthologie IN DIESEM BESSEREN LAND noch immer aus dem Selbstverständnis, der DDR-Literatur mit ihrer Auswahl von Gedichten einen Dienst zu erweisen. Das Buch wurde zum Dokument der unauflösbaren Widersprüche, von denen die Lyrikerinnen und Lyriker, geboren zwischen 1928 und 1935, bis in unsere Tage hinein gezeichnet sind. Diese Anthologie entsprach nicht mehr dem von Hans Koch geforderten Kanon der „Volkstümlichkeit“ und der liedhaften Reimgefälligkeit von Versen. Endlers und Mickels Beurteilung der DDR-Lyrik und der schon abgeflauten „Lyrikwelle“ fiel hart aus.
Ebenso hart war die Aburteilung dieses Buches durch Kulturfunktionäre und Kritik. Immerhin gab es aber noch so etwas wie eine öffentliche Debatte um dieses Buch. Einige Zeit später wäre es vermutlich einfach verschwiegen worden. Die wesentlichen Lyrikerinnen und Lyriker der DDR gingen jedoch aus dieser Debatte gestärkt hervor. Die Spreu sonderte sich vom Weizen. Man schrieb künftighin mit abgewandtem Gesicht zum Staat und zur Partei. Die Reihen der Gebliebenen lichteten sich endgültig nach der Biermann-Affäre. Die Bleibenden schrieben, wie es Jürgen Serke genannt hat, „zu Hause im Exil“, Scheinbare private Tragödien – zerbrochene Ehen, psychische Krisen und Zusammenbrüche, Promiskuität und Alkoholismus – erwiesen sich als Folgen des Verlustes an einer Identität, die viele in der Hoffnung auf ein „besseres Land“ sich erträumt hatten. Die DDR war aber ein in Wirklichkeit graues Land, eine trostlose, wenn auch vorübergehend wirtschaftlich besser gestellte Enklave im „sozialistischen Weltsystem“. Ihr zwar nicht unerwarteter, jedoch alle Dämme brechender Zusammenbruch im Jahr 1989 traf auch Richard Leising mit voller Wucht.
Wurde in den letzten Jahren der DDR Lyrik von einem nicht kleinen Publikum als Lebenshilfe verstanden – ich erinnere mich an viele Lesungen im Klubhaus Arthur Hoffmann in Leipzig, die Adolf Endler als geheimer Regisseur dirigierte –, so gab es nach dem Zusammenbruch der DDR kein Publikum mehr, das einer solchen Lebenshilfe bedurft hätte. Die Lorbeeren ernteten vielmehr Autorinnen und Autoren wie Erwin Strittmatter, Christa Wolf oder Volker Braun – um nur die Prominentesten zu nennen –, die ein aufkommendes Bedürfnis vieler ehemaliger DDR-Bürger nach Bestätigung ihrer Vergangenheit befriedigten. Die schnelle Vereinigung, die D-Mark mit ihrer Wirkung „durch des Gelds Gewalt“ (Brecht) verunsicherten zwar die Menschen, entwickelten aber keine Abwehrkräfte gegen die Verklärung der Vergangenheit.
Richard Leising, der sein Brot als Dramaturg eines Kindertheaters verdiente, wurde selbst im Heer der Arbeitslosen, das der Vereinigung der beiden deutschen Staaten auf dem Fuß folgte, rekrutiert. Als von den Folgen des Vereinigungsprozesses Gezeichneter vollendete er mit erstaunlich gehämmerten Versen sein, wenn auch schmales Lebenswerk.
Über die Ästhetik der DDR-Lyrik ist viel geschrieben, aber auch gerätselt worden. Leising selbst war nicht Zeuge eines Prozesses, der viele DDR-Schriftsteller ins Nichts führte, sondern sein integraler Zugehöriger. Für einen Dichter wie Leising, der, sich selbst gegenüber unerbittlich, nur solche Gedichte aus seiner Feder gelten ließ, die seinem Selbstverständnis entsprachen, war der Fall der DDR ein Sturz ins Bodenlose. Sein zweiter Gedichtband DIE ROTZFAHNE enthält keinen Vers, der von einem neuen Anfang kündet, sondern ist der Abgesang auf ein Leben, das sich in keiner Hinsicht vollenden konnte. Sein Tod im Mai 1997 war, so berichtet Jürgen Serke, gut vorbereitet. Weit entfernt von Attitüden einer Selbstinszenierung, sprechen die Gedichte des Nachlaßbandes die Sprache eines Dichters, der bis in die letzten Fasern seines Ichs sein Schicksal zu formulieren trachtete.
Keine Selbstzerknirschung, jedoch eine bedingungslose Ehrlichkeit kennzeichnet die Haltung des „lyrischen“ Ichs: Leising hat an seinem eigenen Versagen selbst Maß genommen – und das wie kein anderer der ehemaligen DDR-Dichter. Was jetzt bei Endler fratzenschneidende Selbstbespiegelung oder bei Mickel kühle Distanzerheischung, bei Rainer Kirsch bohrende Vergangenheitsbefragung bei Aussparung des eigenen Ichs ist, äußert sich bei Leising in letzten Botschaften, die, vermutlich, an niemanden als an sich selbst gerichtet waren. Trotzdem vermitteln späte Gedichte den Eindruck, Leising habe nichts von dem, was ihn bedrängte, hinausgeschleudert, sondern jedes Wort und jeden Vers sich selbst gegenüber gewogen und nur dann gelten lassen, wenn er damit im Angesicht poetisch höchster Maßstäbe zufrieden war.
Das gibt auch einem Gedicht wie „Rückfall“ ein Gewicht, das schwerer wiegt als manch ein anderes seiner Freunde der Sächsischen Dichterschule. Ich weiß, wovon ich in diesen Zusammenhang rede, denn Leisings Scheitern am Alkohol war für mich ein Erlebnis, auf das ich gern verzichtet hätte. Noch bevor ich ahnen konnte, daß es mich einmal nach Schöppingen verschlagen würde, war ich Gast innerhalb einer Veranstaltung des PEN, die im dortigen Künstlerdorf über die Bühne ging. Mein Versuch, Leising, der als Stipendiat dort weilte, zu erreichen, nachden ich ihm schon jahrelang nicht mehr begegnet war, schlug fehl. Leising ließ sich während der gesamten Veranstaltung nicht sehen. Er reagierte nicht auf mein Klopfen an seine Zimmertür. Erst später erfuhr ich, daß man dem an den Folgen des Alkohols und einer Depression Zusammengebrochenen kurz nach Ende der Veranstaltung mit einem Notarztwagen in eine Klinik gebracht hatte, nachdem sein Zimmer gewaltsam geöffnet worden war.
In den Gedichten der ROTZFAHNE wird man verbale Hinweise auf eine depressive Existenz vergeblich suchen. Leising entzieht sich auf seine Weise dem Eingeständnis seiner Not. Nur indirekt findet sich in einzelnen Gedichten das wieder, was er auf einen Zettel, der in seinem Nachlaß gefunden wurde, notiert hat:

Hilf mir, die Jahre, die du mir gegeben hast, nicht länger zu verkürzen und zu vergeuden. Hilf mir, daß die Stunde meines Todes nicht zur Hölle werde angesichts all dessen, was ich in diesen Jahren hätte tun sollen, können und nicht tat. 4. Sept. 1995, in der Nachtfrühe.

Im Umgang mit Leising, bin ich im übrigen in ihm nie einem Menschen begegnet, der klagte. Im Gegenteil, ich erlebte ihn als einen, der seinem Gegenüber Mut zu machen verstand. Die beiden Gedichte „Rückfall“ und „Psalm“ von 1991 und 1996 geben in Wortwahl und Syntax nicht das Zerstörerische preis, das Leising längst erreicht und beschäftigt hatte. Beide Gedichte sprechen im Gegenteil in höchster Nüchternheit von alarmierenden Situationen, denen Leising offenbar mehr und mehr zu erliegen drohte.
Heute, in Schöppingen lebend, sehe ich Leising als einen Bruder, dessen Gedicht „Rückfall“ eine Situation beschreibt, die auch mir nicht ganz fremd ist. Ich hätte ihm gewünscht, sich abseits derartiger Gefährdungen vollenden zu können. Die Krise, in die er geriet und aus der er sich nicht mehr befreien konnte, ist angesichts eines Fotos des jungen Leising, das vor mir liegt, von tragischer Relevanz. Wir, die wir zeitweilig glaubten, in der besten aller möglichen Welten zu existieren, zahlten für diesen Irrtum einen hohen Preis. Leising hätte heute vermutlich die Ansichten einiger seiner Freunde nicht geteilt, die sich von ihrer Vergangenheit lossagten und einen guten Teil ihres Lebenswerkes abschnitten. Die wahre Geschichte der DDR-Lyrik wird noch geschrieben werden. In ihr wird Leising einen gesicherten Platz einnehmen.

Heinz Czechowski, Anfang Dezember 1999, Ostragehege, Heft 20, 2000

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00