Inge Müller: Irgendwo; noch einmal möcht ich sehn

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Inge Müller: Irgendwo; noch einmal möcht ich sehn

Müller-Irgendwo; noch einmal möcht ich sehn

SANFTE BÜCHER MIT VERSEN
Sind Sterne, die ziehen.
Durch Stille und Schweigen
Im Reiche des Nichts
Und schreiben auf den Himmel
Ihre Strophen aus Silber.

 

 

 

Nachwort

Vom Werden einer ungeschriebenen Sinfonie

Fragt ihr nach meinem Recht
Euch anzuschreiben,
Ich will, mit euch, bleiben.

Inge Müller

Inge Müllers poetische Sprache ist unmittelbar und klar, darin in keinem Moment voraussetzungslos. Die ihre Texte gelesen haben, vermuten, daß die Dichterin einen extremen Weg zu ihrer Sprache nahm. Wer über längere Zeit mit ihrer Poesie lebt, erfährt diese als verschlossen, einen eigenen Kosmos entwerfend, den niemand einfach so verläßt: Wirksamkeit direkt oder auch verzögert als ein langes, unaufhörliches Sprechen über die Zeiten hin.
Der literarische Nachlaß von Inge Müller macht erlebbar, daß ihr künstlerischer Weg als Lyrikerin der eines intensiven Suchens in beinah allen literarischen Medien war. Sie begann mit Literatur für Kinder, Lyrik und Prosa, schrieb Krimis, auch Schlager, wichtige Jahre arbeitete sie fürs Theater, schrieb Hörspiele, übersetzte, bearbeitete ihr Hörspiel Die Weiberbrigade auch als Fernsehfilm, konzipierte atemlos: Porträts von Frauen, „Hörszenen für mehrere Stimmen“, Stücke fürs Theater, schrieb an den beiden Romanfragmenten Es ging ein Kind und Jona – um doch letztlich in ihrer späten Lyrik den körperlichsten und intimsten Ausdruck für ihr Erfahren zu finden.
Zwischen der frühen Naturlyrik und frühen Prosa, den Texten der Kinderrevue Karsten Kindiger, dem Kinderbuch Wölfchen Ungestüm, ihren Kinderversen und Kinderreimen – den Texten also bis 1957 – und der Szene „Spiegel“, dem „Jona“-Fragment oder der späten Lyrik bis zu Inge Müllers Tod 1966 liegen nur wenige Jahre. In dieser kurzen Zeit jedoch vollzieht sich eine Radikalisierung, ja beinahe eine Explosion ihres Schreibens.
Mit dem vorliegenden Band werden, neben bereits publizierten, aber in Buchhandlungen nicht mehr erhältlichen Texten, erstmals frühe Lyrik und Prosa, das „Jona“-Fragment, die Szenen „Der Kämpfer“ und „Spiegel“, Tagebuchfragmente von 1957 und 1962 und bisher nicht bekannte, späte Lyrik veröffentlicht.
Der Band möchte die Genese des Schreibens von Inge Müller aufzeigen, spricht vom Werden ihres Werks, seiner Eigenständigkeit, seiner grundlegenden ästhetischen Anlage als Fragment und von den tödlichen Verbindungen ihres andauernden Kriegsmaterials.
Deshalb folgt die Zusammenstellung nicht der Chronologie der Textentstehung. Der erste Teil- „Die Blechnummer auf deiner Brust“ – vereint Inge Müllers Kriegs-Lyrik, die Szene „Der Kämpfer“ und das „Jona“-Fragment und gilt so dem zentralen Thema ihres Schreibens – dem Krieg. Dieser Teil wird zu einem langen „Brief einer Wehrmachtshelferin“, einer Frau als Soldat von Januar bis Mai 1945 an der Front in und um Berlin. Das ist ihr Material, für das sie erst etwa zwölf bis fünfzehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein sehr eigenes Verfahren der Bearbeitung findet und das kein Beispiel in der deutschsprachigen Literatur hat.
Der zweite Teil der Auswahl – „Der Wind kommt wieder“ dokumentiert die Schreibanfänge. Hier finden sich einige der frühen Lehnitzer Texte in Lyrik und Prosa, die noch unter dem Namen Ingeborg Schwenkner geschrieben sind. Einzig diese frühen Texte hat die Dichterin datiert. Die später gänzlich aufgegebene Chronologie ist Ausdruck der Bestimmtheit im Umgang mit ihrem künstlerischen Material.
Zum dritten Teil – „Leben, (Leben,) Leben.“ – gehören die Tagebuchfragmente von 1957, Liebesgedichte, ihre Porträtgedichte, Gedichte an die Freunde und wenige Nachdichtungen. Dieser Teil wird bestimmt von der literarisch-intimen Auseinandersetzung mit der „Sächsischen Dichterschule“ oder dem russischen Dichter Wladimir Majakowski und dem ungarischen Dichter Attila József.
Der vierte Abschnitt – „Das letzte Gefecht ist das erste“ – greift in seiner künstlerischen Vehemenz auf den ersten Teil der Auswahl zurück. „Spiegel“, das einzig aufgefundene Stück der „Hörszenen für mehrere Stimmen“, hat den russischen Ton ,absurder‘ Literatur eines Aleksandr Vvedenskij oder Daniil Charms.
Der immer kälter werdende Ton der Poesie von Inge Müller korrespondiert mit dem Staccato-Stil in den Arbeitsaufzeichnungen von 1962. Sie sucht das Fragmentarische, Periphere und das Detail. Ihre deutlich spürbare Faszination der ästhetisierenden Wiederholung, des poetischen Fließens und Ausuferns bei Friedrich Schlegel oder Jean Paul, aber auch bei Gertrude Stein, werden in den Tagebuchfragmenten von 1962 zwar deutlich, doch liegt das ihr einzig mögliche poetische Sprechen nahe der Atemlosigkeit.
Die späten Gedichte, die mit dem bisher unveröffentlichten Gedicht „Ein Mensch steht an der Mauer“ einsetzen, suchen dem Unmittelbaren, Zerrissenen, dem Vorsichtigen und Ortlosen eine Sprache zu geben, sind grundsätzliche poetische Kritik am Zustand der Welt.

Die 1925 im Osten Berlins geborene Ingeborg Meyer gehört in eine Familie sozialer Gegenbewegungen: Die Mutter wegen des sozial deklassierten Mannes verstoßene Tochter einer preußischen Offiziersfamilie, der Vater schlesischer Zuwanderer, der sich vom Boten zum Abteilungsleiter im Ullstein Verlag hocharbeitet. Die Liebe zur proletarischen Großmutter, Ballettunterricht, Akkordeonspiel und eine gehörige Portion Drill prägen ihre Kindheit. In das Suchen der gerade Vierzehnjährigen fällt die Wucht des Krieges. 1942, nach Handelsabschluß, Kriegshilfsdienst und Arbeit in den Berliner Solvay-Werken, erhält sie in den letzten Kriegstagen noch eine Kurzausbildung als Kraftfahrerin und wird als Luftwaffen- und Nachrichtenhelferin eingezogen. Inge Meyer erlebt das Wüten um Berlin in der Soldatenuniform der Wehrmacht. Drei Tage liegt sie unter einem Haus Berlins, der stürzenden Stadt. Tage später birgt sie die Eltern tot aus den Ruinen.
Wenigstens das Ende des Krieges läßt sie hoffen – Inge Meyer findet Halt im Privaten, heiratet im November 1945 den Schulfreund Kurt Lohse. Ein Jahr später, im Dezember 1946 wird der Sohn Bernd geboren. Ihre äußeren Aktivitäten sind in dieser Zeit vielfältig: sie arbeitet als Volkskorrespondentin, Demontagearbeiterin, Sekretärin, Referentin für Kultur. Sie organisiert in der Bürgermeisterei Friedrichsfelde die Kinderspeisung, Altenbetreuung und Seuchenbekämpfung. Die erste Ehe geht nicht lange gut. 1948 heiratet sie noch einmal, den Verwaltungsdirektor des Zirkus Busch und Barlay, heißt jetzt Ingeborg Schwenkner. Mit dem Zirkus zieht sie durch das Land, gehört zum fahrenden Volk. 1951 siedelt sie nach Lehnitz bei Oranienburg über, weg aus den Trümmern Berlins in eine Landschaft mit Seen und viel Grün. Zunächst erweist sich Lehnitz als ein beruhigtes Interregnum, in dem Ingeborg Schwenkner nun auch zu schreiben beginnt. Der Ton der frühen Lyrik bleibt naiv. Mit der Faszination des Spielerischen in der Sprache gilt er dem Erinnern an bedenkenlose, durchsichtige Kindertage und dem Erlernen, Einspielen von sehr Eigenem. Die Lehnitzer Verse suchen die Melodie, den Reim- den Atem- oder Herzrhythmus des Körpers, formen nach den Stimmen der Natur. Diese frühe Lyrik ist melancholisch, vielleicht mit einem kleinen Riß im Ton, doch noch zählt der Singsang des Abzählreims.
Der Karriere von Ingeborg Schwenkner als Kinderbuchautorin stand nichts im Weg. Ihr Schreiben für Kinder, in denen die didaktischen Vorgaben auffallen, rückt das Verhältnis des Kindes zum anderen – dem kranken Mitschüler oder alten Menschen, der Aufmerksamkeit gegenüber Tieren, der gesamten Natur – in den Mittelpunkt.
Das gilt auch für die didaktische frühe Prosa, kleine, alltägliche Geschichten – präzise erzählte Miniaturen. Zumeist sind es Geschichten von Wünschen und Entbehrungen der Kinder, die den Verbiegungen durch die geteilte Stadt Berlin zu entkommen suchen. Für das Verstehen von Geschichte und Mentalität der Nachkriegszeit im Osten Berlins haben sie auch dokumentarischen Wert.
Wo sich zu dieser Zeit Ingeborg Schwenkner einen Raum zum Erzählen baut, verliert sich zugleich ihre Stimme darin. Immer wieder taucht sie in den Stimmen der anderen – der Kinder, Alten, Schrulligen – unter. Doch nicht nur das ist Ursache, daß Verlage diese Texte nicht zum Druck nehmen. Ihre Themen sind nicht euphorisch genug, ihre Helden sprechen nicht im Ton der Gestaltung der ,neuen‘ Zeit.

Auch in späteren Texten, wie in den ersten Skizzen des „Jona“-Fragments, bleiben Kinder wichtig, wird das Schreiben für sie immer stärker zu einem Schreiben aus der Perspektive des Kindes: das Kind ist fähig, der Gewalt, die ihm widerfährt, durch eigene, dynamische Kräfte zu begegnen. Es hat die unerschöpfliche Möglichkeit zur Improvisation, steht für Ganzheit und Lebendigkeit. Die Sicht des Kindes auf die Welt, wie Jonas es nach erfahrener Verletzung im Wald demonstriert, verspricht das Poetische: Jona nimmt die Töne aus der Natur, formt sie um, spielt mit ihnen. Über die eigene Selbstvergessenheit und Spontanität balanciert sie die harten Worte und Aktionen der Mutter aus. Die wenigen Skizzen zum Kind Jona, das belegen die Handschriften, sind noch in Lehnitz geschrieben. Das Kindhafte der Kunst, die andere Wahrnehmung, brauchte dieses Interregnum, das Identische des Körpers mit der Natur. Aber diese Lehnitzer Texte sind schon mit dem Wissen geschrieben, daß sie sich nicht halten wird, diese Zeit.

1953 lernt Ingeborg Schwenkner im Schriftstellerverband Heiner Müller kennen, den sie 1955 heiratet. Zwei Menschen, die schreiben und sich lieben, zeigen Fotos dieser Zeit. Beide sind konzentriert und offen – bei Recherchen mit den Arbeitern von „Schwarze Pumpe“, dem größten Industrieprojekt der DDR, oder mit einem Bauern auf dem Land – notierend, sprechend, zuhörend. Dabei ist sie es, die das Gespräch eröffnet und findet.
Hörspiele entstehen, das Schreiben fürs Theater erhält in dieser Zeit sein Fundament. Die Konzentration auf antike Stoffe, mit Gewalt als den ursächlichen Konflikt, findet aber dann in den Texten von Inge und Heiner Müller sehr unterschiedliche Aufnahme: In Inge Müllers Lyrik, in deutlichem Kontrast zu Heiner Müllers Mythenbearbeitung fürs Theater, gibt es nur vorsichtige Varianten antiker Mythologie: die verspielte Nausikaa wird aufgefordert, Odysseus, dem gewalttätigen und listigen Heroen, gestrandet, aber nicht tot, ein weiteres Mal die Hand zu reichen; Prometheus eignet sich als Figur ihrer vielen zerschundenen lyrischen Ichs; hinter Didos Feuertat steht keine Eigenständigkeit mehr, nicht sie selbst zündet sich an, sie wird verbrannt.
Die Motive für Inge Müllers Antike-Rezeption gelten dem unmittelbaren Verstehen, suchen bisher verborgene oder gewaltfreiere Verschiebungen des Mythos.
Inge und Heiner Müller siedeln aus Lehnitz bei Oranienburg 1959 nach Berlin-Pankow über, um dem Theater näher zu sein. Die Stücke „Die Korrektur“ und „Der Lohndrücker“ werden gemeinsam geschrieben. Für sie gibt es Anerkennung, den Heinrich-Mann-Preis.
1960 schreibt Inge Müller das Hörspiel „Die Weiberbrigade“, Heiner Müller erhält nach der Premiere von „Lohndrücker“ einen Dramaturgenvertrag am Maxim-Gorki-Theater.
Und bald befinden sie sich in der Auseinandersetzung zwischen Kunst und Staatsmacht und inmitten der Groteske ostdeutscher Staatskultur, wie den Kampagnen des Bitterfelder Wegs „Greif zur Feder, Kumpel“ (1959), die zur Kunstdoktrin werden.

Die eigene Arbeit für das Theater und die Zusammenarbeit mit Heiner Müller für das Theater wirken heute wie das Bindestück zwischen Inge Müllers früher Lyrik und Prosa zu den späten, reduzierten Texten in ihrer kalt-klaren Sprache. Auf der Bühne erprobt sie den Text auf sein gestisches Potential, auf den Einsatz der Stimme, des Körpers. Dort kann Material noch und noch gedreht werden zum genauesten Ausdruck. Unnötig dabei, die große Bedeutung Bertolt Brechts für das Theater dieser Zeit zu betonen. Besonders Inge Müllers Realismusverständnis verweist auf das Studium seiner Arbeit das gilt für die Theaterarbeit ebenso wie für ihre Lyrik. Haben die frühen Lehnitzer Texte noch Naturlyrik und Motive des Nachkriegs zum Thema, wird über die Körperlichkeit des Theaters und auch durch Inge und Heiner Müllers gemeinsame poetische Arbeit das Material des Krieges expressiv.

In Inge Müllers literarischem Nachlaß finden sich präzise Überlegungen zu einem Vorhaben, das sie abwechselnd „Jona“, „Zäsuren im Alltag“ oder „Das neunte Leben“ nennt. Die unterschiedlichen Konzeptionen sind die Anlagen für einen großen Text mit sinfonischem Bau, der bereits in Lehnitz begonnen wurde. Vergebens aber bleibt die Suche nach den Ausführungen dieser Entwürfe. Einzig die in der vorliegenden Ausgabe als „Jona“-Fragment aufgenommenen Textsplitter setzen sich aus handschriftlichen und maschinenschriftlichen, gänzlich verstreuten Skripten zusammen. Diese jedoch eröffnen, wonach die Dichterin suchte: in ihren Tagebuchskizzen von 1962 heißt es: Jona – was wird aus einem weiblichen Faust. Im Kreis ,geschützt‘ (u. fixiert) durch Magie – was tritt an deren Stelle, wenn sie durch Atombombe ins Reale rückt.
Es ist nichts anderes als der ganze Grund ihres Schreibens, den Inge Müller hier in der Verschränkung tradierter und sehr eigener Themen vor sich aufstellt: der Prophet Jona – weil er ist, wie er ist −, der vor dem Wort Gottes flieht und sich dazu bekennt, im Bauch eines großen Fisches landet, um drei Tage und drei Nächte später wieder ausgespuckt zu werden, der den Untergang Ninives verhindert und daran leidet, der sterben möchte und durch Gott daran gehindert wird – dieser Jona also wird in Inge Müllers Entwurf durch den Weg und das Schicksal einer weiblichen faustischen Figur, die die Katastrophe erfährt, verändert. Das reale Ereignis – die Dichterin lag zu Kriegsende 1945 drei Tage verschüttet unter einem Haus des bombardierten Berlin – wird in der Frage: Wie überleben, wie weiter leben? das Zentrale ihres Schreibens.
So unterschiedlich sich die Konzeptionen für den späten Theater- oder Prosaentwurf, das „Jona“-Fragment, ausnehmen, die verschiedenen Anlagen kreuzen alle in dem einzig ausgeführten Stück „Der Bunker“. Nach langem Suchen hatte Inge Müller den Ort für ihre literarische Stimme gefunden.
Im Text „Der Bunker“ rutschen Bilder ineinander, das zersplitternde Prisma einer Stimme wie vor der endgültigen Detonation. Literatur, die sich so auslebt, tändelt nicht mit dem Wort, kommt nicht mit dem Schrecken davon.

Der Zeitpunkt ist bestimmbar, da die frühen suchenden, verspielten, manchmal auch ungelenk anmutenden Texte von Inge Müller zu der Realität des Wortes finden, wie sie das späte Werk kennt, bis zur skeletthaften Rückbildung ihres Schreibens, auf das, was unbedingt hat noch stehenbleiben müssen – bis zur Reduktion ihres Materials, so daß es einzelnen Klangereignissen gleichkommt.
Auf den Mauerbau 1961 in Berlin reagiert Inge Müller mit dem bisher unbekannten Text „Ein Mensch steht an der Mauer“. Wovon die Dichterin, die Eingeschlossensein bereits existentiell erfahren hat, angesichts der Spaltung ihrer Stadt schreibt, das sind erneut Realien des Krieges.
Die Folgen der Inszenierung des Stückes „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ im September 1961, an der Inge und Heiner Müller noch gemeinsam arbeiten und deren Vorbereitungen parallel zum Bau der Mauer laufen, machten die Hoffnungen auf einen in Aussicht gestellten geschützteren künstlerischen Raum zunichte. „Die Umsiedlerin“ wird nicht öffentlich aufgeführt, Heiner Müller wird aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Für beide führt das Verbot dieses Stückes in die Isolation.
1959 stirbt Inge Müllers geliebte Großmutter, Martha Meyer, die Geschichtenerzählerin aus dem alten Arbeiterviertel am Ostkreuz in Berlin, der einzig verbliebene elterlich-familiäre Bezug.
Die Attacken auf Inge Müllers Körper durch eine Krankheit mit manisch-depressiven Schüben häufen sich bereits. Medikamentöse oder andere Hilfe sind nicht möglich oder bleiben unwirksam.
Das grundsätzlichere Selbstverständnis als Dichterin allerdings ist vielleicht das tragende Motiv für die Radikalisierung ihres Schreibens. Bereits 1953 hatte Sie sich, noch unter dem Namen Ingeborg Schwenkner, mit verschiedenen literarischen Brotarbeiten und der zunehmend umfänglicheren Theaterarbeit ihre Existenz als Schriftstellerin ermöglicht.
Als die Arbeit für das Theater zur Formung des inneren Materials in den sechziger Jahren unwichtiger wird, als politische und private Verhältnisse sie noch einmal auf den tiefsten Punkt zurückzwingen, ist es die Dichterin Inge Müller, die um die Kontur des „Jona“-Fragments und ihre späte Lyrik kämpft. Diese Texte sind ein langer, schwerer Abschied, obwohl es Inge Müller so sehr ums Leben ging. Ihre Tagebuchaufzeichnungen von 1962 unterscheiden sich in ihrem Staccato-Stil bereits deutlich von den Notaten des Jahres 1957. Sie nehmen die Anlage der „Fragmente zur Poesie und Litteratur“ von Friedrich Schlegel auf, um zugleich ästhetisch dem unüberbrückbaren Riß Rechnung zu tragen, der durch die Dimension des erfahrenen Krieges besteht. Spätestens in dieser Zeit findet Inge Müller zu ihrem Stil des Realismus weitere Fermente – ihre Notizen nehmen Material auf, das die Idee des „Jona“-Textes zumindest erhellt. Sie nennen die Lektüre von Hans Henny Jahnns „Perrudja“ und das Motiv des Verborgenen in seiner Literatur. Sie beziehen. sich auch auf einen Brief Jahnns an Peter Huchel, in dem er die Musik als die abstrakteste und in ihren Formmöglichkeiten die vollkommenste bezeichnet. Die konstitutive Rolle von Musik und die Suche nach Entsprechungen zwischen Dichtkunst und Musik im Werk Hans Henny Jahnns unterstreichen das Vorhaben Inge Müllers, musikalische Formen in ihrer Dichtung durchzuführen. Der Begriff der „sozialen Symphonie“ fällt später im Zusammenhang mir dem Medium Film, wo das jeweilige Detail und die Richtung des filmischen Ereignisses zu einer Poesie der Bewegung führt. Inge Müllers Interesse am Film gründet in der Suche die unendliche Komplexität eines Ereignisses in Sprache zu bringen. Das zeigt sich in ihrer Methode der Bildschnitte im „Jona“-Fragment. Ein weiterer Bezug stellt sich her in ihrer Kritik an der Haltung des absurden Theaters, namentlich in einem Unverständnis gegenüber dem Schreiben von Samuel Beckett, das möglicherweise eine zu lineare Exegese von Theodor W. Adornos 1958 geschriebenem Beckett-Essay „Versuch, das Endspiel zu verstehen“ zur Ursache hat. Der von Inge Müller in ihren Arbeitsnotizen zitierte Essay verdeutlicht, daß es der Dichterin mit dem „Jona“-Fragment um ein „Endspiel“, aber sehr eigener Provenienz, ging: als hätte die Detonation freigesetzt, was unterm Drama vergraben ward, schreibt Adorno zur Form des „Endspiels“ und gibt vor, was Inge Müller für Jona als weibliche, faustische Figur plant. Auch die Überlegungen zum Gestischen in der Sprache und die einer musikalischen Anlage von Literatur finden sich bereits in Adornos Essay. Das kann nicht mehr verwundern: längst ist Inge Müller zur atemlosen Vielarbeiterin in Sachen Poesie geworden, die aufnimmt, variiert und in eigenständige Versionen bringt, was ihr zur Bearbeitung des monumentalen Kriegsblockes dienlich sein könnte. Ihre letzten, hastigen Arbeitsnotizen sind oftmals lineare Zitate. Sie wußte, wonach sie suchte, doch blieb ihr noch genug Kraft für das große Konstrukt?
Im „Jona“-Fragment nutzt Inge Müller die Selbstbiographie, genau datiert, um sich Raum für den ästhetischen Entwurf zu ermöglichen. Diese Prosa-Stücke suchen in der Aufnahme musikalischer Gestaltungsmerkmale ein identisches, Körperganzheit bewahrendes Gedächtnis gegen die erfahrene Zerstörung zu setzen. Das Kind Jona vermag, wie bereits erwähnt, an den Tönen des Waldes, den Stimmen der Vögel, an Schatten und Licht, erfahrene Verletzungen auszutarieren. Als Jona selbst in den Krieg muß, verlieren sich die Klänge ihrer Improvisationen. Andere Töne – Sirenen zur Warnung vor drohenden Bombardements, Stiefelklatschen, Töne des eigenen Eingeschlossenseins, des Gewaltsamen, der Angst fallen ein. Da kommt etwas abhanden, was nicht mehr rückzugewinnen ist.
Diesen Konflikt von Wahrnehmungsverlust versucht Inge Müller im Ästhetischen auszutragen. In den Anfängen ihrer Dichtung in Prosa und Lyrik arbeitet sie noch mit dem ,ganzen‘ Reim, der Tonalität der Sprache, der linear erzählten Geschichte. Im späten Werk ist sich Inge Müller ihrer Mittel sicher: kein Sentiment mehr, bewußt in ihrem Material und klar in der Reduktion. Was die Katastrophe ist, liest sich als Aufsammlung starrer Bilder, als eine kalte Polyphonie des Krieges. Im Sinne einer Sinfonie handelt dieser Text vom Verschwinden des Gesangs, verbleibt notwendig im Stadium des Entwurfs oder Fragments. Einzig nicht zu Vollendendes wird zum gültigen Gestus ihres Schreibens. Die Katastrophe dieses Krieges hat der Welt den Klang genommen. Nur noch in der musikalischen Anlage des Fragments erlaubt sich Inge Müller das Moment der Hoffnung. Nur hier, über den Impuls des Kunstwerks auf die gesamte Aktivität des wahrnehmenden Körpers, darf Neues entstehen.
Inge Müller, die aus dem Krieg kommt, bevor sie eine eigene Sprache hat, die den melodischen Reim aufgreift und als Vermächtnis ein ästhetisches Fragment setzt, das unmittelbare Wirksamkeit nicht mittels der Worte, vielmehr einzig über die Anlage des Textes erlaubt – eine solche Dichterin ist frei von modisch gefaßter Todesobsession oder den Worten von einer steckengebliebenen Nachkriegsliteratur.
Doch das Material, das Inge Müller braucht für ihren Prosa-Versuch, ist ihr eigenes, das ihr nie zum Ornament wird. Wo sie Konstruiertheit wahrnimmt, bricht sie ab, sucht in anderen ästhetischen Bereichen. Wo sie vereinnahmt werden soll, geht sie davon. Die musikalische Anlage dieses Prosa-Stücks hat sie gesucht, darüber hat sie nachgedacht, ihr zugleich galt alle Skepsis. Das wurde zum Schicksal derer, die in ein Sprachloch fielen, wurde zum Problem des Individuellen in der Katastrophe, derer, die sich erinnern müssen. Der Glaube an das große Konstrukt – im ästhetischen wie politischen – ist für immer dahin, eine für sie vorgezeichnete gesellschaftliche Bahn wird gänzlich unmöglich.
Und so scheint es zwingend, daß es noch einmal die Gedichte werden, die alle Unmittelbarkeit und Nähe und ihr Leben ermöglichen sollen. Mit der unablässigen Anrufung, doch im Gegenspiel mit den sie nicht mehr erreichenden Stimmen der anderen, entschwindet ihre Stimme in immer stillere Räume. Der Einschluß im Echolosen, Signal bedrängendster Einsamkeit, hat den Übergriff auf die Dichterin längst vollzogen. Manchmal mimen in ihrem Ringen, in ihrem übergroßen Wunsch nach Leben, die Worte ein sie selbst kaum mehr überzeugendes Aufgehobensein. Endlos zerfasert scheinen die Wege zum anderen. Wer Inge Müller in diesen Zeiten treffen will, wird sie sich in abgeschlossenen Räumen beim Akkordeonspiel vorzustellen haben, das melancholische Spiel ausreizend bis zur Erschöpfung.
Inge Müller ist eine Dichterin, die ihre Sprache vorantreibt, der das Schwerste gelingt – die Entsprechung ihrer Sprache zum inneren Material. Sie will den Sprachbruch nicht, nutzt oft einen simplifizierenden Sprachgebrauch, verzichtet zumeist auf Metaphern, macht das Wort greifbar, ganz leicht, fragil, zugleich aber zentnerschwer. Sie gibt uns ihr Gedächtnis in ihren Worten. Was sich im Leben nicht mehr zusammensetzt, mit den Worten vermag sie es. Aber immer ist es, als gäbe es nur Zeit noch, das Absolute zu sprechen.
Für ein neues Leben, für die Liebe, für die Kunst hatte Inge Müller ihre Sprache zusammenbinden wollen und fällt sich immer häufiger selbst ins Wort. Sehen und Gehen unaufhörlich im Medium der Sprache. Da wird in längst beschlossenen Räumen Atem gesucht, wird im Wort nachgespielt, was nur noch mit Lakonie gesetzt werden kann.
Wo die Sprache auf eine Leere reagiert, an der nicht mehr zu rütteln ist, gleichen Inge Müllers Worte einem Nachschreiben, das dem ihr entgleitenden Leben gilt.

Sie sind die schnell Vergessenen, zumeist nie wirklich Entdeckten – Dichterinnen und Dichter wie Dieter Leisegang, Evelyn Kuffel, Alexander Xaver Gwerder, Uwe Gressmann, Hertha Kräftner, Rainer M. Gerhardt oder Unica Zürn. Viele andere gehörten hier genannt.
Eine deutschsprachige Generation von Schreibenden, die durch den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg ging und beides nie mehr loswurde. Das Leise, Vorsichtige, Alarmiertheit oder auch Genauigkeit in der Wahrnehmung fanden im Vitalismus der Nachkriegszeit keinen Platz.
Zu ihnen gehört auch Inge Müller. Ihr literarischer Nachlaß spricht von einem sehr eigenen Kosmos, einem dichten Gewebe mit feinen Adern, mit zu deutenden Verweisen. Da sind unendliche Versuche bis zu einem gültigen Gedicht. Der später auf nur zwei oder vier Verszeilen reduzierten Lyrik gehen zumeist Prosaentwürfe voraus, sind demnach zumeist rhythmisierte Prosa, dabei in jeder Zwischenform eigenständig. Ihre handgeschriebenen Versuche ähneln eher einem Schlachtfeld, zerstoßen das Papier, sie werden ausgelöscht bis zur letzten Silbe, setzen von neuem an. Einige wenige Gedichte wie „Der schwarze Wagen“ oder „Trümmer 45“ begleiten die Dichterin von Beginn an. Die legt sie sich immer wieder in ihre Schreibhefter, in ihr Tagebuch, auf die Haut, in die Augen.
Später geht Inge Müller in den Rhythmus und Ton anderer Dichter und Dichterinnen. Sie studiert Sappho, Gabriela Mistral, sucht bei Guiseppe Ungaretti in der Nachdichtung von Ingeborg Bachmann. Gabriela Mistrals tragende Motive – die des Kindes und der Liebe – oder Guiseppe Ungarettis zentrales Thema – der Krieg – sind Linien zu Inge Müllers eigenem Suchen.
Inge Müllers Nachlaß wirkt wie eine poetische Versammlung der Schicksale von Menschen, die den Riß kannten, die von Geschichte zermahlt wurden oder denen einfach das Leben irgendwann unaushaltbar wurde. Sie fragt die Stillen, Ängstlichen, Wortlosen, Zerrissenen, sucht bei den Schreienden, Todsuchenden, in der Poesie.
Sie arbeitet an Nachdichtungen des nur 34 Jahre alt gewordenen ungarischen Dichters Attila József, der sich 1937 tötete. Seine Gedichtbände Vielleicht werd ich plötzlich verschwinden und Gefunden hab ich nun die Heimat aus seinem Todesjahr werden durch Gedichte Inge Müllers zitiert. Über Józsefs Werk findet Inge Müller zum Werk Wladimir Majakowskis, der sich ebenfalls sehr jung, 1930 mit 36 Jahren, in Moskau erschoß und dessen großes Poem Wolke in Hosen Inge Müller in knapper, doch sehr eigenständiger Form nachdichtet.
Ein poetisches Netzwerk der Ungeschützten baut sich Inge Müller als Halt für den Tag, als Impuls für ihr Schreiben. Uwe Johnsons 1957 geschriebene Prosa „Jonas zum Beispiel“ gehört wohl ebenso dazu wie die Erzählung „Die Frau am Pranger“ aus dem Jahr 1956 von Brigitte Reimann, deren Titel Inge Müller vermutlich für das Gedicht „Frau am Pranger“ nutzt.
Private Äußerungen, die sich die Dichterin noch in den Tagebuchfragmenten von 1957 gestattet, sind in den Tagebüchern aus dem Jahr 1962 nicht mehr zu finden. Ein Notizblatt zeigt ihre Lektüre eines Monats: Michelangelo – Gedichte; Gabriela Mistral; Brecht – Polly, Lied des Revolutionärs; Eisler – Faustus; Dante – La vita nuova; Zähmung der Widerspenstigen; Spur der Steine; Vergil – Dido und Aeneas; Celestina; Ödipus; Danin – Blick ins Unsichtbare; Aristophanes – Weibervollversammlung; Irische Stücke; Hans Henny Jahnn; Calderidge; Bücher über Hexenverbrennung, Mathematik, Physik, Ökonomie, Kybernetik.
Ihr Arbeitsstil wird zu einem atemlosen Hasten, die Türen der Literatur und des Denkens aufreißend. In der Zeit, da sie das ästhetische Konzept des „Jona“-Fragments aufgibt und sich noch einmal intensiv ihrer Lyrik widmet, sind Inge Müllers Lebensmöglichkeiten so weit ausgetragen, läßt sie sich derart von der Kraft der eigenen, poetischen Sprache führen, daß sie sich ein weiteres Mal, jetzt selbst, verschüttet. Die Angestrengtheit des Konstituierens führt das Zerstören mit sich – hier findet sich nichts Kathartisches. Inge Müllers Körper vollzieht, was in ihrem Schreiben, bereits beschlossen, zu finden ist. Immer wieder neu wird nachzudenken sein über das Konstituierende poetischer Sprache in Schmerzsystemen von Dichterinnen und Dichtern. Sylvia Plaths Briefe nach Hause, wenige Tage vor ihrem Selbstmord, sprechen nicht davon, daß sie sich sehr bald für den Tod entscheiden wird. In ihren Ariel-Gedichten jedoch, ihren letzten poetischen Texten, ist dieser Impuls deutlich lesbar. Ähnliches muß auffallen bei Marina Zwetajewa, Hertha Kräftner, Dieter Leisegang, Anne Sexton und eben auch bei Inge Müller. Das Poetische, die Dimension des Werdens, greift nach dem Körper, sucht sich einen doppelten Tod.

Zum real erfahrenen Verschüttetsein von Inge Müller am Ende des Zweiten Weltkrieges und dessen Wiederholung im Jahr 1966 gehört ein drittes, postumes, das ihrer Literatur. Sicherlich – gerade das Unmittelbare ihrer Lyrik, das Sichaussetzen in ihren Gedichten hat Inge Müller vermutlich entscheiden lassen, diese nicht oder eben sehr zögerlich der Öffentlichkeit zu geben. Niemand kann von ihrer Stimme, der Aura einer ihrer Lyrik-Lesungen berichten. Erst in ihrem Todesjahr 1966 erschienen erstmalig in drei Anthologien, Neue Texte 66, In diesem besseren Land und Auswahl 66, einige wenige ihrer Gedichte. Zu einer geschlossenen Veröffentlichung ihrer Lyrik, das zeigt ihr Nachlaß deutlich, war Inge Müller nicht bereit. Diese Zurückhaltung ging später mit den Schwierigkeiten zusammen, die die DDR mit ihren Selbstmördern hatte. Noch dazu „Kunst-Schaffenden“, von denen erwartet wurde, daß sie für die „Gestaltung“ des Systems arbeiten. Inge Müllers Texte waren nicht geeignet für ein solches Vorhaben. Sie sprachen unbeirrt von anderem, von Uneinlösbarem, vom einzelnen, vom Tödlichen des Mauerbaus, Verlusten und Unvergeßbarem. Sie haben im frühen Stadium einer Diktatur das konkrete Wissen, daß dem Leben in ihr elementare Essenzen fehlen. Auch Heiner Müllers Arbeitsschwierigkeiten in der DDR, das wäre dann ein bitteres Nachstück besonderer Art, könnten ein weiteres Moment der behinderten Rezeption der Texte Inge Müllers gewesen sein.
Zwar hatte kurze Zeit nach dem Tode der Dichterin Joachim Schreck, Herausgeber und Lektor des Aufbau-Verlages, Berlin, den ersten Gedicht-Band von Inge Müller unter dem Titel Du vor du hinter mir vorbereitet, doch mußte Joachim Schreck wegen politischer Auseinandersetzungen 1968 den Verlag verlassen. Sein Projekt wurde auf Eis gelegt. Erst das 1976 von Bernd Jentzsch herausgegebene Heft Poesiealbum 105 des Verlages Neues Leben, Berlin, veröffentlichte 37 Gedichte von Inge Müller. Die bis dato umfänglichste Veröffentlichung ist die aus dem Jahre 1985, beinah zwanzig Jahre nach Inge Müllers Tod. Es ist die von Richard Pietraß im Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar, herausgegebene Gedichtsammlung Wenn ich schon sterben muß, die die Vorarbeit von Joachim Schreck zur Grundlage hat. Sie erst ermöglichte eine Rezeption des Werkes von Inge Müller. Bereits 1987 ging sie in eine zweite Auflage und wurde 1986 vom Luchterhand Literaturverlag, Darmstadt und Neuwied, als Lizenzausgabe übernommen.

Es waren die Dichterinnen und Dichter, es waren Katja Lange-Müller, Adolf Endler, Elke Erb, Richard Pietraß, Kerstin Hensel, Bernd Jentzsch, Anna Rheinsberg, die in eigenen Texten Inge Müller einen literarischen Ort gaben. Und es sind die Autorinnen und Autoren dieses Bandes, die in dem schmalen Œuvre von Inge Müller das Einzigartige fanden – eine Zwiesprache, da das Nächste sich selbst nah bleiben kann.

Frühjahr 1996

Nachbemerkung

4. Juni 1996, auf dem Pankower Städtischen Friedhof, Berlin, finden sich mehr und mehr Menschen ein. Zum dreißigsten Todestag der Dichterin Inge Müller wird eine Steinstele gesetzt, gestiftet von Brigitte Maria Mayer, der Witwe Heiner Müllers. Monolithisch steht der helle Stein nahe des Friedhofeingangs. Nach dreißig Jahren gibt es für Inge Müller einen Erinnerungsstein, doch nicht mehr auf ihrem Grab. Das wurde vor einigen Jahren eingeebnet.
Der ortgebenen Geste des Steinsetzens folgt ein Streit: Die für August 1996 im Aufbau-Verlag geplante Textauswahl Inge Müllers mit Beiträgen zu ihrem Werk soll um einen Text Wolf Biermanns an die Dichterin reduziert werden.
Unter der Lyrik von Inge Müller fand sich im Januar 1996, nach der erst zu dieser Zeit möglich gewordenen gesamten Einsicht des Nachlasses, ein Porträtgedicht über Wolf Biermann (vermutlich aus den Jahren 1961 oder 1962), und so bat ich ihn um einen Beitrag für den geplanten Band. Er stellte einen bereits 1988 geschriebenen Brief und „Die Legende vom Selbstmord der Inge Müller im Jahre ’66“ (Erstdruck: taz, 11. Juni 1996) zur Verfügung. Es ist eine der selten gebliebenen männlichen literarischen Anrufungen der Dichterin. Brigitte Maria Mayer, die Witwe Heiner Müllers, fühlte ihre Persönlichkeitsrechte, die von Heiner Müller und auch Inge Müller verletzt und legte ihr Veto ein: Der Inge-Müller-Band durfte nur ohne die Biermann-Legende erscheinen.
Damit war das Erscheinen des Bandes gefährdet, da Wolf Biermann seine beiden Beiträge zurückzog und ich meine Herausgeberschaft, wenn seine Stimme in dem Band hätte fehlen müssen. Warum also nicht den Konflikt transparent machen, der jenseits von Persönlichkeitsrechten besteht? Warum nicht die Auseinandersetzung benennen, deren juristische Relevanz immerhin unbefragt geblieben ist für ein Buch, dessen Autorin mit ihrem Leben und Schreiben in den Spalt zweier totalitärer Systeme fiel? Warum nicht davon sprechen, daß an den Literaturen von Inge Müller, Wolf Biermann und Heiner Müller ihre Existenzen hängen – Inge Müller mit dem Kriegs-Trauma des Verschüttetseins und ihrem Selbstmord als Entscheidung, aus der zweiten Diktatur zu gehen – Heiner Müller mit langjährigen Arbeitsverboten in der DDR – Wolf Biermann, dessen Mutter den Sechseinhalbjährigen durch die Bombennächte Hamburgs trug und der nach jahrelangem Auftrittsverbot letztlich von der DDR-Diktatur 1976 ausgebürgert wurde?

Sind nicht unter diesem gemeinsam erfahrenen Druck je eigene, ja einzigartige Ästhetiken entstanden, die verlangen, daß sie, wenigstens heute, zusammenstehen können?
Unternimmt der vorliegende Band den Versuch, dem Werk von lnge Müller größere künstlerische Eigenständigkeit zu ermöglichen, ist es jedoch – meiner Meinung nach – nicht gelungen, ihre Texte in einem Zusammenhang grundsätzlicher Freiheit gegenüber dem künstlerischen Wort zu plazieren und den Band, wie konzipiert, erscheinen zu lassen.
Private Motive dahingestellt, verweist die Tatsache des inkriminierten Biermann-Liedes auf ein gesellschaftliches Symptom, das seinen Ausdruck in der politischen Antipathie, ja Hysterie gegenüber Wolf Biermann hat. Wiederholt ist er Spiegel für den Selbsthaß einer Generation.
Aufgrund der Einwilligung Brigitte Maria Mayers, den Brief Wolf Biermanns aus dem Jahre 1988 im Band zu belassen, ist es letztlich der Bereitschaft Wolf Biermanns zu diesem Kompromiß zu verdanken, daß die entstandene Pattsituation beendet und der Band doch noch möglich wurde.
So kommt zu den in der „Legende“ von Wolf Biermann verwendeten Chiffren für die Verleugnung einer bestimmten DDR-Geschichte ein sehr anderes Zeichen hinzu – gegen das Zerstören ein Werden, seine nunmehr sehr persönliche Hommage an Inge Müller, zu setzen.

Ines Geipel, Nachwort, 16.6.1996

 

Ein schmaler Gedichtband,

fast zwanzig Jahre nach ihrem Tod erschienen, war bisher alles, was die anhaltende Faszination dieser Dichterin begründete. Die neue Auswahl aus dem Nachlaß versucht, die Konturen ihres Bildes weiter auszufüllen, auch wenn es Fragment bleiben muß, so wie ihr Leben und ihr Werk.
Zum ersten Mal werden hier neben Inge Müllers publizierter und unpublizierter Lyrik auch Prosaskizzen und Tagebuchfragmente vorgestellt. Der Weg ihres Schreibens erklärt sich als Weg zu einem poetischen Ich: von den Anfängen mit Naturlyrik bis zu jener Explosion in den sechziger Jahren. Hier hat Inge Müller nach langem Suchen in fast allen literarischen Medien zu ihrer Sprache gefunden, zu dem atemlosen Staccato von Erfahrungen, Zeit und Sprache, das auch heute noch überrascht. Die Texte kommen aus dem traumatischen Kriegserlebnis und münden in der Frage: Wie kann man überleben? Mit dem bisher unpublizierten Prosafragment „Jona“ geht Inge Müller noch einmal durch jene Katastrophen, evoziert die Bedrohung von Körper, Sprache, Leben. In unzähligen Versuchen und Ansätzen bliebt dieser Text ein Splitter von beeindruckender sprachlicher Dichte und Eindringlichkeit.

Die neue Auswahl unveröffentlichter und bereits publizierter Texte von Inge Müller zeigt mit Lyrik, Prosa, Tagebuchfragmenten und unbekannten Fotos aus dem Nachlaß den poetischen und biographischen Weg dieser wichtigen deutschen Dichterin, die sich mit 41 Jahren das Leben nahm. Der materialreiche Band versucht, die Konturen ihres fragmentarischen Bildes weiter auszufüllen, und schaffte die Begegnung mit faszinierenden, atemlosen Texten, in denen Inge Müller die Erfahrung ihres verschütteten Körpers thematisiert und zugleich nach Lebensentwürfen in der Nachkriegszeit fragt.
Dieser wichtigen poetischen Stimme einen Ort in der Gegenwart zu geben ist Anlaß der Reflexionen zu ihrem Werk, die den Band ergänzen. Die Autoren: Herta Müller, Gernot Böhme, Adolf Endler, Reinhard Jirgl, Heiner Müller, Annett Gröschner, Gabriele Pleßke, Wolf Biermann.

Aufbau Verlag, Klappentext, 1996

 

Unterm Schutt

Der 1985 von Richard Pietraß zusammengestellte Band Wenn ich schon sterben muß (1987 in zweiter Auflage erschienen) ist heute ein ebenso begehrtes Antiquariats-Sammlerobjekt wie das Poesiealbum Nr. 105 aus dem Jahre 1976, jüngeren LeserInnen sind Texte von Inge Müller kaum bekannt. Um so mehr Aufmerksamkeit fand die von Ines Geipel jüngst zusammengestellte Inge-Müller-Textauswahl, die nicht nur bisher unbekannte Lyrik, sondern erstmals auch Prosa-Fragmente und Tagebuchnotizen präsentiert.
Interessant aus heutiger Sicht ist die Rezeptionsgeschichte der Texte: Zu Lebzeiten von der Autorin selbst vor nahen FreundInnen verborgen und, im Unterschied zu den gemeinsam mit ihrem Ehemann Heiner Müller erarbeiteten Theatertexten, wohl auch von ihr selbst zur Nebensache erklärt, fanden ihre lyrischen Texte kaum Widerhall. Gründe dafür mögen thematischer wie ästhetischer Natur sein. Inge Müller blieb ,rückwärtsgewandt‘: schwermütig, ernst und karg wurde die Kriegs- und Nachkriegserfahrung zu ihrem immerwährenden Thema, die Jahreszahl 1945 zur Chiffre eines Traumas. Gerade davon aber wollte man sich in den 60er Jahren endlich befreien, leben statt überleben. Nur zu verständlich, wenn Verse wie „Soldaten 45“, „Liebe 45“ oder „Unterm Schutt“ hier nicht hineinpaßten. Daß sich, von Joachim Schreck, Adolf Endler und Richard Pietraß einmal abgesehen, ab Ende der 80er Jahre vor allem jüngere AutorInnen für die melancholischen Bruchstücke zu interessieren begannen, halte ich für aufschlußreich. Historisches Interesse der Enkel für die deutsche Nachkriegsgeschichte oder modische Aufmerksamkeit für lange Marginalisiertes reichen nicht aus, um den Umstand dieser neuen Nähe zwischen Zeitgenossinnen der 90er und Gedichten aus den 50er und 60er Jahren zu erklären. Den Grund dafür suche ich eher im Poetischen: Es scheint, als würde gerade die Bruchstückhaftigkeit, die Härte und Trauer vieler Texte, ihre Kargheit und Spröde ja die fast minimalistisch zu nennende Poetologie heutigen Kunst-Erwartungen entgegenkommen. Entdecken wir in der ausgestellten Naivität und Reduktion vielleicht ein Konzept, das sich wohltuend von der vielbeklagten Reizüberflutung und Ästhetik der Short Cuts abhebt? Greifen wir deshalb nach diesen Zeugnissen eines Schmerzes, der noch ein genau benennbares traumatisierendes Erlebnis, die Verschüttung unter den Bombentrümmern, zu seiner Ursache hat? Vereinsamung, Verratensein, Verlassenheit sind menschliche Nöte, auf die wir auch in der Lyrik der 90er Jahre treffen, nur findet sich dort keine so eindringliche Chiffre dafür wie „Trümmer 45“.
Ines Geipel übernimmt die kurz nach dem Tod der Dichterin von Joachim Schreck geplante, aber nicht realisierte und von Richard Pietraß 1985 aufgenommene Auswahl von Gedichten, ordnet sie anders an und bringt sie damit in neue Zusammenhänge. Neu hinzu kommen frühe Lyrik und Prosa, das „Jona“-Fragment, die Szenen „Der Kämpfer“ und „Spiegel“, Tagebuchfragmente von 1957 und 1962 sowie bisher nicht bekannte späte Lyrik. Inwiefern das Anliegen, der Genese des Schreibens nachzugehen, einer chronologischen Anordnung der Texte entgegensteht, wie die Herausgeberin in ihrem Nachwort anmerkt, wird mir nicht einsichtig. Stattdessen fällt mir die Orientierung innerhalb der Zusammenstellung nach vier thematischen Abschnitten zumal Lyrik und Prosa, die beide doch ganz unterschiedliche Lektüreweisen fordern, einander abwechseln. Aus dem Inhaltsverzeichnis ist nicht zu ersehen, ob es sich um Lyrik, Prosa oder dramatische Szenen handelt, Datierungen sind nur umständlich aus den allerdings sehr aufschlußreichen Anmerkungen zu entnehmen. Gerade die ausführlichen Hinweise auf Varianten von Texten, von Ines Geipel rekonstruierte Unterbrechungen und Wiederaufnahmen im Schreibprozeß arbeiten ihrem Anliegen zu, „der Formung des inneren Materials“ nachzugehen. Entgeht die Herausgeberin dabei der Gefahr, der „äußeren“ Biographie zu folgen, so ist der Prozeß der Formung des Materials, der Bildwerdung, der poetischen Gerinnung schon schwerer von der „inneren“ Biographie zu unterscheiden. Aufschlußreich, an welchen Punkten Inge Müller wieder und wieder auf einen offensichtlich zentralen Text zurückkommt: „Da kommt der schwarze Wagen“. „Probiere Verse“ heißt es dazu lapidar im Tagebuch 1957.
Die neu aufgenommene Lyrik verändert mein Bild der Dichterin nicht entscheidend, die mir wichtigsten Gedichte waren auch schon in der 85er Auswahl zu lesen, das folgende z.B.:

MOND NEUMOND DEINE SICHEL
Mäht unsre Zeit wie Gras
Wir stehn aufrecht im Himmel
Auf dünnem Stundenglas.
Der Stern geht seine Wege
Wir suchen unsern Weg
Wenn ich mich niederlege
Geh über mich hinweg.

Die jeweils letzten Zeilen haben es in sich, nicht nur an dieser Stelle.
Die Prosa-Fragmente halte ich dagegen für eine Entdeckung des Bandes. Die kleinen Stücke sind von unterschiedlicher Qualität, manchmal sehr dicht, manchmal didaktisch („… Macht euch keine Sorgen“), einige kunstvoll gearbeitet, einige eher aufschlußreich in bezug auf die mentale Situation der Nachkriegszeit, Nachkriegsgeschichte von unten. Im „Jona“-Fragment analysiert Inge Müller aus dem Blickwinkel des Kindes, schräg von unten herauf, in der Naivität der Kinder und Verrückten, glasklar und in größter Härte die Welt, stellt sie Schein und Sein gegenüber und gesellschaftliche Normen (z.B. der Erziehung) in Frage. Aus dem Propheten Jona wird im Fragment das Mädchen Jona, entworfen als „weibliche faustische Figur, die die Katastrophe erfährt“. In Gestus und Ton erinnert das Fragment an Wolfgang Borchert. Inwiefern das Fragmentarische programmatischen Charakter trägt oder eher das Scheitern eines poetischen Konzepts anzeigt, wäre eine Fragestellung, der nachzugehen sich lohnte. Ebenso wie dem ,Weiblichen‘ an diesen Texten, angedeutet u.a. im Tagebuch: Dreigeteilt: Mein Mann, mein Kind, mein Schreiben – keins ist vor den andern, keins? Wenn es entschieden ist, werde ich gesund sein oder sterben.

Die Befunde der Dichterin sind zeitlos. Ein Abzählvers läßt das Blut erstarren:

Da kommt der schwarze Wagen
Das Pferd, das geht im Schritt
Und wer allein nicht laufen kann
Den nimmt der Wagen mit.

Die Dichterin Herta Müller schreibt 1996 dazu:

(…) der Reim zerrt eine Zeile in die andere, aber dem ganzen Gedicht hält er den Mund zu.

Die esssayistischen Beiträge zum Werk Inge Müllers bilden einen ganz eigenständigen Teil des Buches. Auffällig ist, daß die Texte Inge Müllers offensichtlich in besonderem Maße dazu veranlassen, Leben und Werk zu vermischen, wie dies ja gerade Autorinnen immer wieder geschieht. Kaum jemand kommt ohne den Verweis auf Biographisches aus, wenn er/sie über Literarisches sprechen möchte.
In den Essays werden ganz unterschiedliche Versuche unternommen, sich und uns die poetische Methode Inge Müllers zu erklären. Beobachtet wird, daß die Ereignisse in den lyrischen Texten Inge Müllers meistens schon geschehen sind und wir „nur noch“ auf die Folgen treffen (Herta Müller) oder daß das Geheimnis des Müllerschen Reims ein Paradox ist: Mit seiner Hilfe wird etwas von der Dichterin nicht zu Ordnendes gebunden und fast gewaltsam in eine Ordnung gebracht (Gernot Böhme). Der oft benutzte Kinderreim suggeriert Vertrauen (auf eine gefügte Ordnung), während die scheinbar leichte Abweichung in ihrer Banalität einem Todesurteil gleichkommen kann. Genau diese Spannung zwischen ,Form‘ und ,Inhalt‘ nimmt uns den Atem:

Und wer allein nicht laufen kann
Den nimmt der Wagen mit.

Der Reim als Halteversuch. sein ,Klappern‘ das Zeugnis eines Scheiterns: Das lyrische Subjekt erlangt keine Herrschaft über seine Erfahrungen. Die Spannung zwischen beruhigendem Singsang, kindlich-vertrautem Binnenreim, kalter Spröde und der Implosion, wenn die letzte Zeile nicht nur lautlich, sondern wirklich bei uns ankommt, ist kaum zu ertragen.
Wie Adolf Endler bereits 1979, scheinen auch hier die Beiträger nicht darum herum zu kommen, sich mit einem (unausgesprochenen) Vorwurf auseinanderzusetzen: dem der Banalität dieser spröden, metaphernarmen Lyrik. Deren Verteidigung läßt sie ganz eigene Kategorien und Begriffe finden: den „nackten Reim“ (G. Böhme), die „gestische Schreibweise“ (Endler), das „Leitwort“ (Jirgl) oder den „reduzierten Text“ (Geipel). Reinhard Jirgl unternimmt es, „unter der vermeintlichen Zerbrochenheit des Werkes von Inge Müller dichterische Kontinuität und deren Risiko zu entdecken“. Im Rückgriff auf Foucaults Begriffe ,Schleier, Gitter und Käfig‘ und ,die Übertretung‘ nähert er sich dem Horizont des Todes in den Gedichten auf eine Art, die Schreiben und Leben der Dichterin wirklich zusammenbringt, sie aus dem literarischen Text ableitet, statt aus biographischen Daten. Hier nimmt ein Dichter die Dichterin beim Wort, spricht dabei wohl zugleich aus eigener Erfahrung: „die Schrift bedroht den Schreiber“. Annett Gröschner geht den Korrespondenzen zwischen Arbeiten Inge und Heiner Müllers nach und zeigt in ihrem gedrängten Aufsatz, daß sie zum Thema noch weiteres zu sagen hätte. Die von ihr beobachteten Zusammenhänge reichen vom unbewußten Weiterschreiben der Texte der Toten durch Heiner Müller (einer interessanten These gerade eingedenk der widersprüchlichen Äußerungen zum Charakter der Zusammenarbeit des Autorenpaares an den 1959 preisgekrönten Stücken Die Korrektur und Der Lohndrücker) bis zum Motiv der Wiedergängerin oder der toten Frau in späten Stücken Heiner Müllers. Korrespondenzen in umgekehrter Richtung lassen sich offensichtlich schwerer nachweisen, hier sind die Grenzen zu fließend, nicht dokumentiert. Ein Zufall?
Einzig der assoziative Text Gabriele Pleßkes will sich mir nicht erschließen, hier drängt sich m.E. die Autorin Pleßke vor die Autorin Müller, ohne daß ich dadurch einen neuen Zugang zum Werk derjenigen gewinne, deren Texte doch den Ausgangspunkt der Assoziationen bildeten.
Insgesamt ist der Band ein Ereignis, ein Schritt dazu, der Dichterin Inge Müller einen angemessenen Platz im Kanon deutscher Nachkriegsliteratur einzuräumen. Gerade deshalb ist es zu bedauern, wenn seine äußere Gestalt dem „inneren“ Anliegen nicht ganz zu entsprechen vermag: Druckfehler stören erheblich, in erstabgedruckten Texten ganz besonders. Auf einem Druckbogen stehen sich manchmal ein Text und ein Foto oder zwei ganz unterschiedliche Textarten gegenüber, die einander mitunter wirklich stören. Ein schönes Buch ist es dennoch geworden, nicht zuletzt wegen der wunderbaren Serie der Schwarz-Weiß-Fotos von Barbara Köppe.

Birgit Dahlke, moosbrand, neue texte 5, März 1997

Unterm Schutt

Dreißig Jahre nach deren Freitod und elf Jahre nach Erscheinen des einzigen Lyrikbandes ermöglichen uns der Aufbau-Verlag und die Herausgeberin Ines Geipel, der Dichterin Inge Müller zu begegnen. Der 1985 von Richard Pietraß zusammengestellte Band Wenn ich schon sterben muß (1987 in zweiter Auflage erschienen) ist heute ein ebenso begehrtes Antiquariats-Sammlerobjekt wie das Poesiealbum Nr. 105 aus dem Jahre 1976; jüngeren LeserInnen sind Texte von Inge Müller kaum bekannt. Um so mehr Aufmerksamkeit fand das Projekt, nicht nur bisher unbekannte Lyrik, sondern darüber hinaus erstmals Prosa-Fragmente und Tagebuchnotizen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Interessant aus heutiger Sicht ist die Rezeptionsgeschichte der Texte: Zu Lebzeiten von der Autorin selbst vor nahen FreundInnen fast verborgen und im Unterschied zu den gemeinsam mit ihrem Ehemann Heiner Müller erarbeiteten Theatertexten wohl auch von ihr selbst zur Nebensache erklärt, 1965 und 1966, kurz vor ihrem Tode, vereinzelt in Anthologien publiziert, fanden ihre lyrischen Texte kaum Widerhall. Gründe dafür mögen thematischer wie ästhetischer Natur sein: Inge Müller blieb „rückwärtsgewandt“. Schwermütig, ernst und karg wurde die Kriegs- und Nachkriegserfahrung zu ihrem immerwährenden Thema, die Jahreszahl 1945 zur Chiffre eines Traumas. Gerade davon aber wollte man sich in den sechziger Jahren endlich befreien, leben statt überleben.
Daß sich, von Joachim Schreck, Adolf Endler und Richard Pietraß einmal abgesehen, ab Ende der achtziger Jahre vor allem jüngere AutorInnen für die melancholischen Bruchstücke zu interessieren begannen, halte ich für aufschlußreich. Den Grund dafür sehe ich vor allem im Poetischen: Es scheint, als würde gerade die Bruchstückhaftigkeit, die Härte und Trauer vieler Texte, ihre Kargheit und Spröde, ja die fast minimalistisch zu nennende Poetologie heutigen Kunst-Erwartungen entgegenkommen. Entdecken wir in der ausgestellten Naivität und Reduktion vielleicht ein Konzept, das sich wohltuend von der vielbeklagten Reizüberflutung und Ästhetik der Short Cuts abhebt? Greifen wir deshalb nach diesen Zeugnissen eines Schmerzes, der noch ein genau benennbares traumatisierendes Erlebnis, die Verschüttung unter Bombentrümmern, zu seiner Ursache hat?
Ines Geipel übernimmt die kurz nach dem Tod der Dichterin von Joachim Schreck geplante, aber nicht realisierte und von Richard Pietraß 1985 aufgenommene Auswahl von Gedichten, ordnet sie anders an und einander zu, bringt sie damit manchmal in neue Zusammenhänge. Neu hinzu kommen frühe Lyrik und Prosa, das „Jona“-Fragment, die Szenen „Der Kämpfer“ und „Spiegel“, Tagebuchfragmente von 1957 und 1962 und bisher nicht bekannte späte Lyrik. Inwiefern das Anliegen, der Genese des Schreibens der Dichterin nachzugehen, einer chronologischen Anordnung der Texte entgegensteht, wie die Herausgeberin in ihrem Nachwort anmerkt, wird mir nicht einsichtig. Statt dessen fällt mir die Orientierung innerhalb der Zusammenstellung nach vier thematischen Abschnitten schwer, zumal Lyrik und Prosa einander abwechseln, die beide doch ganz unterschiedliche Lektüreweisen fordern. Aus dem Inhaltsverzeichnis ist nicht zu ersehen, ob es sich um Lyrik, Prosa oder dramatische Szenen handelt, Datierungen sind nur umständlich aus den, allerdings sehr aufschlußreichen, Anmerkungen zu entnehmen. Gerade die ausführlichen Hinweise auf Varianten von Texten, von Ines Geipel rekonstruierte Unterbrechungen und Wiederaufnahmen im Schreibprozeß arbeiten ihrem Anliegen zu, „der Formung des inneren Materials“ nachzugehen. Entgeht die Herausgeberin dabei der Gefahr, der „äußeren“ Biographie zu folgen, so ist der Prozeß der Formung des Materials, der Bildwerdung, der poetischen Gerinnung schon schwerer von der „inneren“ Biographie zu unterscheiden. Aufschlußreich, an welchen Punkten Inge Müller wieder und wieder auf einen offensichtlich zentralen Text zurückkommt: „Da kommt der schwarze Wagen.“
Die neu aufgenommene Lyrik verändert mein Bild der Dichterin nicht entscheidend, die mir wichtigsten Gedichte waren auch schon in der 85er Auswahl zu lesen. Die Prosa-Fragmente halte ich dagegen für eine Entdeckung des Bandes. Die kleinen Stücke sind von unterschiedlicher Qualität, manchmal sehr dicht, manchmal didaktisch („Macht euch keine Sorgen“), einige kunstvoll gearbeitet, einige eher aufschlußreich in bezug auf die mentale Situation der Nachkriegszeit, Nachkriegsgeschichte von unten. Im Jona-Fragment analysiert Inge Müller aus dem Blickwinkel des Kindes, schräg von unten herauf, in der Naivität der Kinder und Verrückten, glasklar und in größter Härte die Welt, stellt sie Schein und Sein gegenüber, gesellschaftliche Normen (z.B. der Erziehung) in Frage. Aus dem Propheten Jona wird im Fragment das Mädchen Jona, entworfen als „weibliche faustische Figur, die die Katastrophe erfährt“. Inwiefern das Fragmentarische programmatischen Charakter trägt oder aber eher das Scheitern eines poetischen Konzepts anzeigt, wäre eine Fragestellung, der nachzugehen sich lohnte. Ebenso wie dem „Weiblichen“ an diesen Texten.
Die essayistischen Beiträge zum Werk Inge Müllers, die Ines Geipel in den Auswahlband aufgenommen hat, bilden einen ganz eigenständigen Teil des Buches. Auffällig ist, daß die Texte Inge Müllers offensichtlich in besonderem Maße dazu veranlassen, Leben und Werk zu vermischen. Kaum jemand kommt ohne den Verweis auf Biographisches aus, wenn er/sie über Literarisches sprechen möchte. In den Essays werden ganz unterschiedliche Versuche unternommen, sich und uns die poetische Methode Inge Müllers zu erklären. Ergebnis sind originelle Schlüssel-Beobachtungen: daß die Ereignisse in den lyrischen Texten Inge Müllers meistens schon geschehen sind und wir „nur noch“ auf die Folgen treffen (Herta Müller) oder daß das Geheimnis des Müllerschen Reims ein Paradox ist – mit seiner Hilfe wird etwas von der Dichterin nicht zu Ordnendes gebunden und fast gewaltsam in eine Ordnung gebracht (Gernot Böhme). Der oft benutzte Kinderreim suggeriert Vertrauen (auf eine gefügte Ordnung), während die scheinbar nur leichte Abweichung in ihrer Banalität einem Todesurteil gleichkommen kann. Genau diese Spannung zwischen „Form“ und „Inhalt“ nimmt uns den Atem:

Da kommt der schwarze Wagen
Das Pferd, das geht im Schritt
Und wer allein nicht laufen kann
Den nimmt der Wagen mit.

Der Reim als Halteversuch, sein „Klappern“ das Zeugnis eines Scheiterns: Das lyrische Subjekt erlangt keine Herrschaft über seine Erfahrungen. Die Spannung zwischen beruhigendem Singsang, kindlich-vertrautem Binnenreim, kalter Spröde und der Implosion, wenn die letzte Zeile nicht nur lautlich, sondern wirklich bei uns ankommt, ist unerträglich.
Wie Adolf Endler bereits 1979, scheinen alle Beiträger nicht darum herumzukommen, sich mit einem (unausgesprochenen) Vorwurf auseinanderzusetzen: dem der Banalität dieser spröden, metaphernarmen Lyrik. Deren Verteidigung läßt sie ganz eigene Kategorien und Begriffe finden: den „nackten Reim“ (G. Böhme), die „gestische Schreibweise“ (Endler), das „Leitwort“ Jirgl) oder den „reduzierten Text“ (Geipel).
Reinhard Jirgl unternimmt es, „unter der vermeintlichen Zerbrochenheit des Werkes von Inge Müller dichterische Kontinuität und deren Risiko zu entdecken“. Im Rückgriff auf Foucaults Begriffe Schleier, Gitter, Käfig und die Übertretung nähert er sich dem Horizont des Todes in den Gedichten auf eine Art, die Schreiben und Leben der Dichterin wirklich zusammenbringt, nämlich aus dem literarischen Text ableitet, statt aus biographischen Daten. Hier nimmt ein Dichter die Dichterin beim Wort, spricht dabei wohl zugleich aus eigener Erfahrung: „die Schrift bedroht den Schreiber“.
Annett Gröschner geht den Korrespondenzen zwischen Arbeiten Inge und Heiner Müllers nach, die vom unbewußten Weiterschreiben der Texte der Toten durch Heiner Müller (einer interessanten These gerade eingedenk der widersprüchlichen Äußerungen zum Charakter der Zusammenarbeit des Autorenpaares an den 1959 preisgekrönten Stücken Die Korrektur und Der Lohndrücker) bis zum Motiv der Wiedergängerin oder der toten Frau in späten Stücken Heiner Müllers reichen. Einzig der assoziative Text Gabriele Pleßkes will sich mir nicht erschließen, hier drängt sich die Autorin Pleßke vor die Autorin Müller, ohne daß ich dadurch einen neuen Zugang zum Werk derjenigen gewinne, deren Texte doch den Ausgangspunkt der Assoziationen bildeten.
Die Möglichkeit, dem eindringlichen Blick der Dichterin Inge Müller in der Buchhandlung begegnen zu können (das Einbandfoto stammt aus einer wunderbaren Serie von Barbara Köppe), läßt den Band für mich zum Ereignis werden: ein Schritt dazu, der Dichterin Inge Müller einen angemessenen Platz im Kanon deutscher Nachkriegsliteratur einzuräumen.

Birgit Dahlke, neue deutsche literatur, Heft 511, Januar/Februar 1997

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Fank Milautzcki: Verschüttet werden
fixpoetry.com, 18.4.2020

 

Fragt mich nicht wie

– Zur Lyrik Inge Müllers. –

1
Und dann fiel auf einmal der Himmel um
Ich lachte und war blind
Und war wieder ein Kind
Im Mutterleib wild und stumm
Mit Armen und Beinen die ungeübt stießen
Und griffen und liefen.

Bilder ringsum
Kein Boden kein Dach
Was ist – verschwunden
Ich bin eh ich war

Ein Atemzug Stunden
Die andern – ein Augenblick wie im Meer
Da klopft einer –

Den Globus her!
Daß ich mich halte
Brücken Land Pole
Millionen Hände brauch ich
Mich trägst du nicht, Tod, ich mach mich schwer
Bis sie kommen und graben
Bis sie mich haben

Du gehst leer.

(Inge Müller: „Unterm Schutt II“)

2
Diese Verse, man findet sie in Inge Müllers Poesiealbum, der Nummer 105 (1976) der Reihe, las man zum ersten Mal in den Neuen Texten 65, Almanach des Aufbau-Verlags, die vor mehr als einem Jahrzwölft eine erste größere Kollektion der Gedichte Inge Müllers enthielten, wenige Monate vor ihrem Tod; die 1925 geborene Frau starb 1966 an einer Überdosis Tabletten. Gegenüber der frühen ist die Fassung im Poesiealbum um ein Geringes verändert: in den Neuen Texten fehlt hinter der sechsten Zeile der Punkt (der sehr berechtigt hinzugefügt wurde, die Zweiteilung des Gedichts markierend – oder hat es sich damals um einen Druckfehler gehandelt?), die zwölfte Verszeile lautet 1965, um ein Wort reicher: „Die andern! Ein Augenblick hell wie im Meer“ (Die andern – nicht hell?) Die Korrekturen sind, wie man sieht, so geringfügig, daß man sich rechtens fragen darf: Weshalb das plötzliche Geraune um Inge Müller hier und da, weshalb nicht schon in der Mitte der sechziger Jahre? Es sind dieselben Gedichte und wir dem Nazi-Krieg zeitlich schon wieder ein beträchtliches Stück ferner. (Ja, ja, die Poesie! könnte man wieder einmal, zur Seite grinsend, den literarhistorischen Rechenschieber in Zweifel ziehen – was wir aber diesmal nicht tun wollen.) Möglicherweise ist es so, daß in der Mitte der Siebziger ein wachsender Kreis deshalb ein aufmerksameres Ohr für diese, wie auch ich meine, ungewöhnlichen Artikulationen hat, weil wir inzwischen durch andere Poesien, denen Inge Müller vorauslief, präpariert sind für Neues und Ungewohntes. Das heißt nicht, daß es nicht auch schon damals den einen oder anderen Lyrikenthusiasten gab, der sofort begriff, in welcher Hinsicht hier Wichtiges und zugleich Beunruhigendes geschehen war: Arbeiten wie „Unterm Schutt II“ schienen zwar auf den ersten Blick nur Memoire zu sein, Erinnerung an die letzten Kriegsjahre, dank ihrer Gestik drückten sie aber nicht minder das Gegenwartserlebnis der Dichterin aus, zielten sie auf die Gegenwart der frühen Sechziger und darüber hinaus! Über die Mittel, mit denen Inge Müller dies bewerkstelligte, wird sich aber wohl kaum einer viele Gedanken gemacht haben, über die in „Unterm Schutt II“ in besonders augenfälliger Weise arbeitende Mechanik des Textes, die die ins einfache Bild gebrachte und relativ begrenzte Erinnerungsszene aus einer bestimmten Zeit alsbald verwandelt in eine große, weit spannende Metapher für die menschliche Existenz in diesen unseren Zeiten („Den Globus her! / Daß ich mich halte / Brücken Land Pole / Millionen Hände brauch ich…“), verständlich und „aktuell“ bis heute, ja, heute erst recht. Nach den lyrisch-narrativen ersten sechs Zeilen des „Und dann…“, im Imperfekt abgefaßt, wird das Gedicht mit einer Reihe in zeitlicher Hinsicht ambivalenter Signale im Nominal-Stil geradezu in Trümmer gelegt, um aus ihnen wieder aufzutauchen mit einem Präsens-„Ich bin“, das man nur dann streng nach dem Grammatiklehrbuch als sogenanntes „historisches Präsens“ – „lebhaft vergegenwärtigte Vergangenheit“ – anerkennen wird, wenn man die besondere Vergegenwärtigungskraft dieser Poesie außer acht läßt, die den zeitlichen Abstand zwischen 1964 und 1944 jählings schrumpfen läßt; es handelt sich hier eigentlich um den „zu häufigen Gebrauch“ des historischen Präsens, vor dem der Grammatiker Walter Jung mit einigem Recht warnt: in der Tat zeitigt die Akkumulation, was in dieser Art vielleicht nur in der Lyrik möglich ist, den Effekt, daß es sich für uns, die Leser, wie auch für die Autorin ums Jetzt dreht und nicht mehr ums Damals, auch in den letzten vier Zeilen nach „Mich trägst du nicht, Tod…“, auch bei diesem, um das halsbrecherische Paradoxon nun doch zu wagen, scheinbar deutlich wieder auf die Vergangenheit verweisende Präsens mit den Zügen des Futurum. Eine lyrische Zeitmaschine arbeitet, das Gedicht als Zeitmaschine, betont diese Eigenart von der Autorin mit Stichworten wie „Was ist – verschwunden / Ich bin eh ich war / Ein Atemzug Stunden…“ (Es ist der Grundvorgang, der der gesamten Lyrik Inge Müllers das Gepräge gibt.) Ob man nun von manisch anmutender Motorik oder von Entschiedenheit und Konsequenz der Dichterin sprechen will – solche Verse dürften eigentlich keinen Zweifel lassen: Inge Müller war der erste wichtige weibliche Autor lyrischer Texte in der DDR. Sarah Kirsch, zehn Jahre jünger als Inge Müller und für mich eine DDR-Autorin, auch wenn sie sich in Feuerland einmieten sollte, veröffentlichte 1965 gemeinsam mit Rainer Kirsch gerade erst das Buch Gespräche mit dem Saurier, ein eher kindlich zu nennendes Werk. Schon viele Monate vor den ersten „Landaufenthalt“-Gedichten (1966), die Sarah Kirschs Selbstfindung bedeuteten, konnte man plötzlich Verse einer anderen über die Liebe lesen – charakteristischerweise in keine unserer sowohl überflüssigen als auch stets gut verkäuflichen Liebeslyrikanthologien eingegangen −, die nicht im geringsten mehr rilkischverschmiert oder magazinhaft-neckisch klangen, sondern tief beunruhigend wirkten, sie könnten von heute sein, für den und jenen vielleicht sogar erschreckend, Verse von Inge Müller:

Gelernt hab ich
Was hab ich gelernt
Was nicht paßt, wird entfernt
Was entfernt wird paßt.
Ich bitte mich zu entfernen.

Ach du lieber Augustin
Wie fröhlich ich bin.

Ein Geschmäckler – und wer wäre es nicht zuweilen und gern? – würde solche Gedichte annäherungsweise womöglich vergleichen mit Gebilden aus ineinandergekeilten, ineinandergeschobenen Glasscherben verschiedener Größe und Form, in Gefahr, bei der winzigsten Erschütterung klirrend auseinanderzurutschen, zusammenzufallen – was hält sie nur in der Schwebe, und weshalb werden sie nicht zu anarchoiden Mixed Pickels? Die Entschleierung des „Geheimnisses“ folgt der Einsicht, daß es sich bei der poetischen. Methode Inge Müllers um eine eigenartige Modifizierung der „gestischen Schreibweise“ handelt – über deren Sonderform bei lnge Müller später ein paar Worte mehr! −, bei diesen Gedichten um Spannungsfelder heftig, ja, oft hektisch gegeneinander arbeitender Gesten; ein relativ einfaches Gedicht wie „Liebe“ läßt uns direkter die Mechanik erkennen, die in all dieser Poesie waltet, auch in „Unterm Schutt II“ selbstverständlich. Erster Schlag: Gelernt hab ich, hineingeschlagen in ihn: Was hab ich gelernt; Resultante Gehämmer: Was nicht paßt wird entfernt … etc. Wer will eine differenzierte Liste der unterschiedlichen Gesten in „Unterm Schutt II“ anlegen und sie charakterisieren? (Ihr Verhältnis zueinander darzulegen, bedürfte es mathematischer und geometrischer Mittel sowie der graphischen Darstellung.) Faßt man zudem das poetische Bildmaterial ins Auge, dann könnte man fast geneigt sein, von einem Kunstmittel des „permanenten Stilbruchs“ zu reden, wenn nicht am Ende die divergierenden Elemente solcher lyrischen Sprechweise doch einen charakteristischen Stil bilden würden, eben den Inge Müllers, einen Stil, der all ihre Gedichte miteinander verbindet; nicht nur weil es so wenig umfangreich geblieben ist, ein Œuvre von großer Einheitlichkeit im Ganzen. Eine nervöse und nervös-diszipliniert agierende Sensivität höchster Alarmiertheit muß es gewesen sein, die dieses staunenswerte Ergebnis zeitigte, diese Form des Gedichts – und zwar auf eine Weise, die die Gefährdung solcher Form für das Bewußtsein und die Empfindung des Rezipienten stets präsent hält, eine Poesie an der äußersten Grenze, eine Poesie knapp vorm Absturz…?

3
Als Inge Müller die Serie der Gedichte schrieb, die sie „Unterm Schutt“ nannte, war erstens die Zeit der Enthaltsamkeit gegenüber der Kriegsthematik seit etwas mehr als einem Jahrfünft vorüber und zweitens das Thema im Bereich der Lyrik in einer Weise „bewältigt“ – man erkennt es erst aus größerer Entfernung –, die einem nach Direktheit drängenden künstlerischen Temperament wie dem Inge Müllers durchaus mißfallen mußte; man darf zudem davon ausgehen, daß die Autorin vertraut war mit anderen Möglichkeiten als den öffentlich realisierten und in der günstigen Lage, die entsprechenden Arbeiten Georg Maurers, Franz Fühmanns und jüngerer Lyriker zu vergleichen mit den noch unpublizierten Entwürfen Heiner Müllers, der Die Schlacht immerhin bereits 1951 begonnen hatte. Welche Richtung, zu der Inge Müllers Poesie das Gegenspiel darstellt, in den fünfziger Jahren und auch später noch eingeschlagen wurde, dokumentiert vielleicht am sinnfälligsten die Abteilung „Brände“ in der Anthologie In diesem besseren Land (1966), ein Kapitel, das in qualitativer Hinsicht die Summe zieht des auf diesem Gebiet Geleisteten – und es ist wahrhaftig nicht unbedeutend –, aus dem sich aber auch die allgemeine Tendenz schlußfolgern läßt: Sieht man von Gedichten ab, die wie die späte oder nachträgliche Verwirklichung von etwas aus welchen Gründen auch immer Verabsäumtem wirken (Uwe Berger z.B. hat auf diesem Feld, wie ich meine, seine stärksten Verse geschrieben), dann findet man gerade bei den führenden Dichtern fast ausschließlich Texte, mit denen sie auf unterschiedliche Weise Distanz gegenüber dem Gegenstand gewinnen, in der Regel indem sie ihn in größerem Zusammenhang ideologisch-philosophischer Konzeptionen und weit fassender autobiographischer Darstellung begreifen: nicht zuletzt unter dem damals vorrangigen nationalen Aspekt und in Gestalt notwendiger Kritik an dem, was man als „geistigen“ Nährboden des Faschismus und als Wurzel der spezifisch deutschen Hybris auffand (Maurer und Fühmann vor allem, aber auch Cibulka). Häufig wurde von vornherein auf diesem Weg eine distanzschaffende Methode angewendet, die an die Stelle der direkten Auseinandersetzung mit dem Objekt (Krieg und Nazismus) die Entdeckung kennzeichnender historischer Gleichnisse setzte (Maurers „Hannibals Zug über die Alpen“ z.B.) oder mittels der Einbeziehung vielsagender „Bildungserlebnisse“ (Fühmanns „Der Nibelunge Not“ oder „Zu drei Bildern Carl Hofers“) vermittelnde Instanzen zwischen dem Autor und dem quälenden Thema installierte, dem sich Inge Müller dann bewußt ungeschützt auslieferte. Mit wenigen Sätzen diese gleichsam vielgesichtigen Produktionen zu charakterisieren, ist natürlich fragwürdig genug; übrigens hatte bereits Peter Huchel kurz nach 1945 in seinen enormen Kriegsgedichten einen berichts- oder chronikartigen, ansatzweise balladesken Ton angeschlagen, der die gerade erlebte und erlittene Zeit vielleicht nicht gerade in die Ferne des Dreißigjährigen Krieges rückte („Ich sah des Krieges Ruhm. / Als wärs des Todes Säbelkorb…“ usw.), aber doch schon deutlichen Abstand gewährleistete – einen Berichtsstil, der auch Inge Müller nicht fremd war, in ihrem Gedicht aber immer wieder, wie gezeigt, wild zerschlagen wurde, als wäre er etwas letztendlich doch Unangemessenes. All solcher Bemühung um Abstand sind Inge Müllers Gedichte, sechzig oder siebzig Prozent „handeln“ vom Krieg, schroff entgegengesetzt: rasanter Abbau der Distanz. Dies genau zu erkennen: daß für Inge Müllers Imagination und Moral der Krieg durchaus brennende Gegenwart ist, bedarf es angesichts solcher Texte wie „Unterm Schutt II“ möglicherweise der Interpretation – andere ihrer Verse sprechen es unverblümt aus, so die bohrenden, die „Frage“ betitelt sind:

Ich hab auch im Zuchthaus gesessen
Drei Tage im Keller
Wegen Wehrkraftzersetzung

An dem Keller trag ich noch immer
Schwer.
Schreiben wollt ich
Farben finden
Worte verstehn
Lieben
Sehn
Weitergehn.

(„Wollte?“)

Anschließt sich die von der Überschrift betont vorbereitete Frage: „Wer / Ist hinter mir her?“ (Ein Dutzend Jahre später wird Christa Wolf in einer Diskussion über Kindheitsmuster die gleiche Frage erwägen, bezogen auf ihre ganze Generation, der auch Inge Müller angehörte: „Anders wiederum ist es mit der Angst, die keinen Grund zu haben scheint und von der sehr viele, glaube ich, von Zeit zu Zeit befallen sind. Und da ist es viel schwieriger zu finden, wo das mal angefangen hat und warum sich das so lange hält. Und warum Angst bei ganz bestimmten Signalen immer wieder da ist.“) Die Anthologie In diesem besseren Land läßt den (berechtigten) Schluß zu, daß es damals neben Inge Müller nur einen einzigen Autor gab – bei manchem anderen klingen in dieser Zeit sogar hier und da die fatalen Untertöne einer Art landsknechthafter Nostalgie an –, der ähnlich verfuhr: nämlich Günter Kunert; ich erkenne heute verblüfft, daß alle drei der Gedichte Kunerts, die die Anthologie mitteilte, zwei aus seinem Band Der ungebetene Gast, gleichfalls daran arbeiten, das Netz aus Beschwörungen, Formulierungen, Formeln wieder zu zerreißen, auch zu verhöhnen, das über die Kriegs- und Faschismusthematik geworfen war, freilich anders als Inge Müller auf eher kühl-artifizielle Weise und unter Verwendung trickhafter Techniken, übernommen z.T. aus der Kinematographie: „Film – verkehrt eingespannt“, Film rückwärts also (vor Inge Müllers Gedichten fiel uns die Zeitmaschine des H.G. Wells ein), allerdings nicht, um komische Wirkungen zu erzielen, wie meistens das Kino, sondern um des aufschreckenden Schocks willen („Wenn die Feuer verloschen sind“), angedeutet findet es sich schon in einem der frühesten Gedichte Kunerts:

Die Wolken sind weiß. Weiß ist
Die Milch im Krug, weiß wie die
Windprallen Hemden auf der Leine, weiß
Wie Verbandstoff vor der Schlacht

Was Inge Müller von Kunert unterscheidet bei aller Verwandtschaft der moralischen Tendenz: während Kunerts Arbeiten kunstvoll ausgeführte Demonstrationen darstellen – in dem Sinn, wie man die lehrhaften Darbietungen des Lehrers im Physikraum oder die Ausführungen des Mathematiklehrers an der Tafel Demonstrationen nennt –, während auch Kunert noch seinen Stoff „in den Griff bekommt“, sein Pensum „bewältigt“, disponiert sich Inge Müller dafür, sich von ihm geradezu überfallen und „überwältigen“ zu lassen – ein Freund hat das als die besondere frauliche Komponente ihrer Lyrik empfunden, aber, aber… –, nicht nur ein Kunst-Experiment, sondern ein Experiment mit dem eigenen Leben dazu. Man könnte das Geschehnis auch auffassen als eine vor der Öffentlichkeit in Gedichten ausgetragene subjektive Lebenskrise; wenn man es möchte, dann darf man es nicht ohne die Ergänzung tun, daß Inge Müller ein höchst politischer Mensch war, der gerade in den sechziger Jahren von einem Ereignis tief erschüttert sein mußte, das alles, was Krieg hieß, das alles, was Barbarei hieß, für einen bewußten Menschen aktualisieren mußte: der Tag für Tag von uns mit-erlittene, mit-gekämpfte Krieg in Vietnam!, ein Ereignis, bedrängend genug, um ein in der Zeit des 2. Weltkriegs stigmatisiertes und dann prophylaktisch verschaltes „Ich“ neu zu aktivieren und ausbrechen zu lassen. So findet man in Inge Müllers Poesiealbum das Gedicht, das leidenschaftlicher als jedes andere uns bekannte Vietnam in unsere Nähe holt – wie in „Unterm Schutt II“ das Gestern zum Heute wird, so nun das Dort zum Hier –; ich halte diese Verse für die wesentlichsten, die einer unserer Autoren zu diesem Thema geschrieben hat: der Leser vergleiche sie z.B. mit den Texten in der Sammlung Vietnam in dieser Stunde (1968). Was weigert sich auch heute noch in uns, sie nicht vollständig zu zitieren? Die Verse lauten:

Nicht Mitleiden (täuscht euch nicht)
Die Angst zwingt da zum Wegsehn
Wir bluten aus den leicht vergeßnen nie vergeßnen
Uralten Wunden. Das letzte Gefecht ist
Das erste. Die Schreie verbrauchen die Luft
Zurückgeworfen von übervielen tauben Trommelfellen
Wer da noch hört: reiß die Ohren auf
Bewege Hände, Beine, atme
Gegen den Schnee! Reiß den neben dir
Aus dem tödlichen Schlaf: Es ist nicht Vietnam
Hörst du
Es ist nicht Vietnam!

Ich bin eh ich war: Das letzte Gefecht ist das erste. Ein Atemzug Stunden: Die Schreie verbrauchen die Luft. Millionen Hände brauch ich: Bewege Hände, Beine, atme gegen den Schnee. Die Bilder vom Verschüttetsein und des Vietnam-Engagements mischen sich: „Wir bluten aus den leicht vergeßnen nie vergeßnen / Uralten Wunden…“ (Günter Kunerts viel gelobte, von ihm selber wohl kaum zu seinen wichtigen Gedichten gerechnete „Fernöstliche Legende“ – „Der eine so klein, der andere / so groß:…“ – behilft sich mit einem gleichnishaften Bezug auf David und Goliath.) Daß es nicht länger verwaltende und bewältigende Erinnerungsgedichte sind, daß im Gegenteil in den Gedichten Inge Müllers erneute Bewährung dargelebt und geheischt wird, dies dürften auch für den Widerspenstigsten die Verse „Jetzt“ deutlich machen, die auch „Hier“ heißen könnten und die im Poesiealbum sicher nicht zufällig vom Herausgeber direkt hinter das Vietnam-Gedicht gestellt worden sind:

Was läuft bin ich
Was fällt bin auch ich
Zerschunden heb ich mein Gesicht
Aus Kot und Erde
Immer wieder
Wer hilft mir
Wem helf ich?
So und immer wieder so.

Im Grunde war hier zehn Jahre vor ähnlichen Erscheinungen in der Prosaliteratur auf einzelgängerische Weise geleistet, was Therese Hörnigk in den Weimarer Beiträgen (5/78) mit dem Blick auf die Prosa der siebziger Jahre so charakterisiert:

Die Vergangenheit wird direkter in die Gegenwart geholt und ist ein immanenter Teil von ihr.

Und zwar im Gegensatz „zu den meisten Büchern des Stoffbereiches Krieg und Faschismus aus den vierziger und fünfziger Jahren, in denen die Autoren oft versuchten, recht schnell einen möglichst großen Abstand von dieser selbst durchlebten Erfahrungswelt zu gewinnen…“, und schon gar nicht zu vergleichen mit den Büchern der Anfangsjahre der DDR, in denen das Thema weithin einfach verdrängt wurde. (Sigrid Töpelmann zitiert in ihrer Untersuchung Autoren Figuren Entwicklungen, Aufbau-Verlag 1975, Christa Wolf: „Außerdem wurde aber eine Auseinandersetzung jüngerer Schriftsteller mit ihrem Kriegserlebnis bei uns kaum gefördert, vielmehr zugunsten von Gegenwartsstoffen im engeren Sinn zurückgehalten“; und schließt dem Zitat die Erklärung an: „Den jungen Schriftstellern sollte auf diese Weise geholfen werden, über das Verzweifelt- im-Straßengraben-Hocken hinaus zu einer neuen Position zu gelangen…“) Hatte nicht auch Inge Müller es zugunsten verschiedenartigster und betäubender Theaterarbeit verdrängt? Um 1963/64 ist für Inge Müller endgültig das Jetztmorgengestern angebrochen und ist sie wieder die Frau unterm Schutt – man möchte beinahe sagen: buchstäblich; und man wagt es und sagt es. Diese Lyrik, wie stockend und dann wieder gehetzt, die Stockung überrennend gesprochen, diese Worte wie kurz vorm Ersticken – wahrlich, so spricht man unter Trümmern, jetzt geizig mit seinem Atem (der mit dem Mysterium des Rhythmus korrespondieren soll), jetzt atemlos, weil es bald zu spät sein könnte für Worte. Keine Ausflucht wird einem gelassen, will es mir scheinen, von diesen Versen: Inge Müller war eine Verschüttete, als sie „Unterm Schutt“ schrieb. Eines ist sicher: Wenn das zur Mode gewordene Lobwort von der „Authentizität“ einer Poesie Sinn hat, dann in diesem so nicht vorher und nicht nachher bei uns eingetretenen literarischen Fall. („Unterm Schutt“, das den weltgeschichtlichen Wendepunkt fixiert, mit dem das individuelle Erlebnis zusammenfiel – „Und wachte auf / als irgendwo im Herz der Kontinente / Rauch aufstieg aus offenem Meer / Heißer als tausend Sonnen…“ –, dieses Gedicht erinnert daran, daß der Vorgang damals auch in einem Film exemplarisch dargestellt wurde: „Hiroshima – mon amour“. Inge Müller, gleich der Heldin jenes Films, ein spätes Kriegsopfer? Hat Inge Müller den Film gekannt, sich in dessen Heldin wiedererkannt?) „Als ich Wasser holte / fiel ein Haus auf mich…“ („Unterm Schutt III“); „Ich wollte ein Brot und irgendwas holen / Da überfällt mich die Straße von überallher…“ („Gehen“); „Blut wäscht die Wand.“ („Baal“) Wieder unter Trümmerlasten, tragen Sie und ein vergessener Hund das ganze Haus, auch unseres?, „Fragt mich nicht wie…“.

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Bei der Überprüfung der vorhergehenden Seiten befällt den Autor plötzlich das Gefühl, als sei etwas Wesentliches vergessen worden und als könnte das Versäumnis in diesem Fall den Leser ernstlich in die Irre führen: unterlassener Hinweis auf das Hinterland literarischer Erfahrungen – es ist hier in der Tat nicht gar so leicht und eindeutig auszumachen –, das die poetische Arbeit Inge Müllers an der Grenze des Nichtmehrsagbaren erst ermöglichte. Spontan aus einem wolkigen „Innern“ gesponnen oder geschleudert, wie vielleicht der eine oder andere Leser nach meinen Ausführungen mutmaßen möchte, ist die Lyrik Inge Müllers indessen ebensowenig wie jede andere wichtige Kunstleistung unserer Jahre; voraussetzungslos sind diese Gedichte nicht, wie schwer ihre Voraussetzungen auch in jedem Punkt aufzuklären sind. – Wenn man über mögliche Vorbilder und Lehrer Inge Müllers nachdenkt, fällt einem natürlich – wie bei so vielen: von Heiner Müller bis Günter Kunert, von Heinz Kahlau bis Karl Mickel, von Volker Braun bis Rainer Kirsch etc. – der Name Brechts ein, Brecht, dem Inge Müller schon dank ihrer Theaterarbeit und dank der Kooperation mit Heiner Müller zunächst gewiß verpflichtet war; frühe Kindergedichte, vorzeiten in der NDL abgedruckt, erinnern sofort an die bald nach der Heimkehr aus dem Exil geschriebene „Kinderlieder“-Serie Bertolt Brechts. Wenn wir anfangs von der „gestischen Schreibweise“ der Lyrikerin Inge Müller gesprochen haben, dann jedoch nicht, weil es im Hinterkopf rumorte: aha, Inge Müller, also „Der Lohndrücker“, also Heiner Müller, also Didaktisches Theater in den Fünfzigern, also Brecht o.ä.; sondern als Ausdruck verblüffter Entdeckung nach längerer Beschäftigung mit diesen Gedichten, die im Äußeren kaum an die von Brecht dargebotenen Exempel erinnern und weit weniger als die Arbeiten sämtlicher oben in eine Reihe gestellte Poeten (Danke! Ihr dürft Euch wieder setzen, Kollegen!), und zwar bis heute. Auch auf brechtisch getönte Intonation („Übriggeblieben zufällig“) stößt man so selten, daß sie sofort auffällt aIs etwas Fremdes in diesen Texten: wie etwas aus Versehen Stehengebliebenes. Geht man vom ersten Eindruck der formalen Seite aus, dann hat die variantenreiche und elektrisierte wie elektrisierende Gestik dieser Gedichte – und ich bin mir bewußt, daß diese Behauptung manchen Anhänger der Lyrik Inge Müllers schockieren und ein abweisendes Kopfschütteln bewirken wird – seltsamerweise mehr mit Joachim Ringelnatz zu tun, dessen Sprach- und Reimwitz an mindestens einer Stelle so unverkennbar seine Spuren hinterlassen hat wie an anderer B.B., nämlich in dem Gedicht „Freunde II“:

Er war viel zu betrunken
Es tat ihm nicht weh
Er schätzte die Unken
Am See
Ihrer Goldaugen wegen
Er war so. Dagegen…

etc. Das widerspruchsvolle und spannungsreiche Hin- und Widerspiel der Gesten in der eigentlich nicht sonderlich auf öffentlichen Beifall abgestimmten, streckenweise eher verschlossenen Dichtung Inge Müllers vollzieht sich, und es ist wirklich ein verwirrendes Phänomen, weithin unter Verwendung von Mitteln, die einem vor allem in der kabarettistischen Effekt-Gestik der Ringelnatze begegnen: da soll es „zum Klappen kommen“, da soll es „einschlagen“, z.T. auch durch die gehäufte Verwendung banalster Schlagreime −, und nicht Erheiterung durch Aufklärung ist die Folge, selbst wenn man sie vielleicht intendiert wie der oft ähnlich arbeitende Kuba, sondern im allgemeinen Aufputschung und Betäubung; statt des lntellekts werden die Nerven anvisiert. Ein Beispiel dafür, wie nahe Inge Müller bei anderen Zielen und anderen Wirkungen solchem Muster ist:

Schaff mir doch jemand dem Schutzmann vom Hals!
Der Kerl schreitet ein.
Ich möchte doch gar nichts weiter als
Nur laut
schrein. Ganz laut schrein.
Der aber schreit: Nein.
Das dürfte nicht sein.

Könnte das nicht auch aus der Feder Ringelnatzens stammen? Es ist von Ringelnatz! (Zugegeben, solch einen naßforschen Ton wie den der ersten Zeile hat Inge Müller niemals und nirgendwo, wenigstens nicht in ihren publizierten Arbeiten angeschlagen, von anderen Nuancen zu schweigen.) Doch muß man wirklich bis zu Ringelnatz zurückgehen (nebenbei: man muß es, wenn man genau sein will…), besitzt die frühe Lyrik der DDR nicht in Kuba bereits einen prononcierten Kenner solcher kleinen und großen Schocks und dessen, was wir Effektgestik nennen, einen Mann, der ihr bereits im „Gedicht vom Menschen“ (1948), in der Emigration begonnen, die ernste Wendung gibt, gleich Inge Müller die „Kriegs“-thematik verfolgend und aufgeschlossen der proletarischen Sphäre? Das „Gedicht vom Menschen“ ist tatsächlich der einzige größere Gedichtkomplex, der thematisch und formal, wenn auch im Gegensatz zu Inge Müllers Werk zur großen Verallgemeinerung tendierend, zur manchmal zu großen!, innerhalb der DDR-Lyrik auf dem besonderen Weg, den Inge Müller eingeschlagen hat, ihr vorausgeht: sozusagen Inge Müllers Traditionsbezug im Rahmen der DDR-Literatur. Ein beeindruckendes und positives Beispiel, man könnte auch negative finden, aus dem „Gedicht vom Menschen“:

O Menschheit, hilf!
Verflucht sei jenes Jahr
und jener gottverfluchte Narrentanz
im Januar – unter den Linden!
Unter den: links-zwei-drei-vier-
links-zwei-drei-vier
Linden
begann der Todeszug.

Man kann es beinahe für sicher halten, daß die Arbeiterin bei Siemens Plania und Volkskorrespondentin Inge Müller 48/49 zu den zahlreichen enthusiasmierten jungen Kommunisten und Lesern dieses Poems gehört hat, dessen künstlerische Ungleichmäßigkeit auch ihr gewiß nach einigen Jahren offenkundig geworden sein wird wie uns allen, nachdem seine Rhetorik ihre aktuelle Wirkung eingebüßt hatte: das Überangebot an damals „durchschlagenden“ Effekten, die nicht immer durch Substanz gedeckt waren (wie es bei Inge Müller durchweg der Fall ist), befremdet heute eher statt zu aktivieren, wie auch alsbald Georg Maurer seinen Mißmut über mancherlei Brüchiges und geradezu Gepfuschtes in Kubas auf den Effekt hin getrimmten Rilke-Majakowski zum Anlaß vorsichtiger, aber deutlicher Kritik nahm. Allerdings hätte es nicht des Hinweises von Maurer bedurft, daß eine der Quellen Kubas ein (vereinfachter) Majakowski war – Kuba selber hatte längst sein frenetisches Bekenntnis zu Majakowski ausgerufen −, eine der Quellen Inge Müllers auch: möglicherweise liegt hier der wichtigste Schlüssel zum Verständnis dieser Produktion versteckt. Fritz Mierau hat bereits in Sinn und Form (3/78) darauf hingewiesen, daß neben Stephan Hermlins Aufsatz „Wladimir Majakowski oder die Entlarvung der Poesie“ (1948) und Georg Maurers, Untersuchung „Majakowskis bildliche Argumentation“ (1955) Inge Müllers Verse „Majakowski. Nach Wolke in Hosen“ zu den „bedeutendsten deutschen Nachkriegs-Äußerungen über Majakowski“ gehören. Das Gedicht stellt dar auch eine ehrfürchtig-ehrfurchtslose Auseinandersetzung mit der Kunst des sowjetischen Dichters – seine Texte werden akzeptiert, kritisch erwogen, reduziert, verändert, umgestellt −, die offenkundige Folgen gehabt hat für Inge Müllers Lyrik schlechthin, und die sie wahrscheinlich frühere literarische Erfahrungen überprüfen wie erst fruchtbar werden lassen ließ; gerne wird von vielen als favorisiertes Gedicht Inge Müllers „Das Gesicht“ genannt („Die das gestürzte Pferd beweinten“), das „Pferde-Gedicht“, und genau der Punkt getroffen, an dem sich Majakowskis und Inge Müllers Stimme gleichsam vereinen. Indessen orientiert sich Inge Müller anders als Kuba oder Horst Salomon („Getrommelt und gepfiffen“) nicht am „Schreihals“ und Agitator der zwanziger Jahre, am Majakowski von „Gut und Schön“, sondern an den frühen „privaten“ Poemen Majaks, der in die Öffentlichkeit überführten Inszenierung exzentrisch-wütender Selbstauseinandersetzung: und um etwas Ähnliches, wenn auch erheblich weniger illuminiert, handelt es sich bei der Konzeption Inge Müllers, die allerdings den eventuellen Rückzug miteinschließt:

Jetzt werd ich nicht mehr schrein −
Daß ich nicht ersticke am Leisesein!

Von Poemen wie „Wolke in Hosen“ (1914–1915), „Wirbelsäulenflöte“ (1915), „Krieg und Welt“ (1915–1916) und zeitlich gleichlaufenden Einzelgedichten her ließe sich der „Auftritt“ Inge Müllers und seine Eigenart relativ leicht beschreiben (von Brecht her kaum). Insofern ist der Untertitel ihres Majakowskigedichtes („Nach Wolke in Hosen“) ein wenig irreführend: als habe man es hier womöglich mit einem Stück eigenwilliger Nachdichtung eines Stücks dieses einen Poems zu tun und mit sonst nichts – in Wirklichkeit verwendet es Materialien, Motive und Motivfetzen aus allen drei genannten Poemen (wichtig in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung mit dem Kriegsthema bei Majakowski!), ohne daß eines von ihnen besonders bevorzugt würde. Dabei ist das Gedicht weniger eine Adaption als eine (mit brechtischer Nüchternheit bearbeitete) Collage, und weniger eine Collage im üblichen Sinn als die Übertragung der drei Poeme (ca. 70 Druckseiten insgesamt) in die eine Seite poetischer Stenographie, die der Text Inge Müllers lang ist, letztendlich ein völlig eigenes Gedicht Inge Müllers im Geiste Majakowskis, doch kein Majakowskisches mehr: der einzige Fall wirklicher und also auch kritischer Majakowski-„Verarbeitung“, der uns aus unserer Dichtung bekannt ist. Nicht nur Veränderung und Reduzierung (etwa um das frenetische Element) findet statt −: etwas sehr Lärmendes ist in etwas beinahe Stummes verwandelt, etwas regenbogenartig Schillerndes, sehr Buntes in etwas fast unifarben Staubgraues, etwas provokant Gespreiztes in etwas Karges und Zurückhaltendes. Die präzise Beschreibung dessen, was geschieht, müßte viele Seiten in Anspruch nehmen; deshalb nur ein einziger Vergleich: Wenn es bei Majakowski in „Krieg und Welt“ (Nachdichtung: Hugo Huppert) folgendermaßen lautet:

Siehe, –
der Schädel
behaart sich wieder,
die Beine kommen herangelaufen
und machen den Mann zum quickmuntren Passanten…

dann klingt es bei Inge Müller trocken; „Die Beine heben sich wieder / Rennen“, womit für die Autorin nicht nur die fünf Zeilen, sondern viele Seiten Majakowski abgedeckt sind. Brecht, Ringelnatz, Kuba, Majakowski – sie alle auf ihre Weise show-men der Poesie, Inszenatoren und Inszenierte, Prediger und Clowns: was aber ist Inge Müller in diesem Kreis?, sie, die nur schwach mit ihren Gedichten an die Öffentlichkeit drängte, man mußte sie ihr zuweilen stehlen, die auch die Bitte um Kommentare wortlos zurückwies? Das Bemerkenswerteste für mich an diesen rauhen Gedichten, denen auch das Melos fehlt, das Sarah Kirschs Versen ihre Verbindlichkeit sichert, das Irritierende, ja Verrückte: auf welche Weise – „frag mich nicht wie“, möchte man nach aller Bemühung wiederholen – Ein Instrumentarium, das auf das Publikum abgestimmt ist bis zum Exzeß, das so oder so auf das es zielt, plötzlich „verinnerlicht“ werden konnte, intim, bis dann doch … in anderen Zeiten wäre Inge Müller zur verzerrt zappelnden Exzentrik prädestiniert gewesen (wie Majakowski es zuweilen war): Diese Zeiten waren vorbei, zumindest nach Inge Müllers Verständnis. –

Die Unauffälligen
Die stolperten weil sie den Weg sahn
Die stotterten weil sie die Sprache verstanden
Die fielen weil sie aufstanden…

ist das die Antwort auf das „Fragt mich nicht wie“, blutig ernste Clownsnummern heraufbeschwörend, zu denen Inge Müller nicht mehr willens oder fähig war? Motive des Laufens, Gehens und Weitergehens zeigen bei der Häufung, wie sie Inge Müllers Lyrik bietet, natürlich in die Richtung des Gegenteils: auf permanenten Niederbruch; ein Eindruck, der schließlich nicht mehr abzuweisen ist – und darin nicht zuletzt besteht das Private, das Intime dieser Dichtung −, nicht allein, aber vornehmlich auch aufgrund der Ähnlichkeit eines großen Teils der Gedichtschlüsse (immer wieder neu formulierte Selbstappelle?):

1.
Auf sechzehn Füßen ging ich in die Mitte genommen
Den ersten Schritt gegen den Staub
.
(„Unterm Schutt I“)

2.
Ich lief und lief. Wer kann im Laufen weinen?

(„Fremdarbeiterbaracken“)

3.
Übriggeblieben zufällig
Geh ich den Heimweg vom Ende der Stadt
Zum andern Ende.

(„Heimweg 45“)

4.
Lieben
Sehen
Weitergehen
Wer
Ist hinter mir her?
(„Frage“)

5.
Und was Füße hatte lief
Über Gräber, die waren kreuzlos
Still und bodenlos tief

(„Lebenslauf“)

6.
Im Haar einer Frau
Irgendeiner die irgendwo geht
Zwischen Stein Stahl und Leibern
Und den Kopf hebt.

(„Fenster“)

7.
Die Beine heben sich wieder
Rennen.

(„Majakowski“)

8.
Morgens sah ich die Sonne stehen
Und ging Fuß vor Fuß wie alle gehn
Wieder die Straße entlang.

(„Bilanz“)

9.
Das Wunder am Seil:
Du vor du hinter mir
Gehn wir dahin.

(„Bergsteigen“)

Undsoweiter. Es ist der Ort, die ersten Zeilen aus „Jetzt“ zu wiederholen:

Was läuft bin ich
Was fällt bin auch ich…

Adolf Endler, Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 1979

In Memoriam Inge Müller

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Im Januar 1996 im Material über Inge Müller wühlend, stoße ich auch auf ein schmales Reclam-Bändchen von 59, das (neben Helmut Baierls „Die Feststellung“) zwei Stücke Heiner und lnge Müllers enthält, nämlich „Der Lohndrücker“ und „Die Korrektur“. Der Schluß des Nachworts von einem gewissen Wilfried Adling lautet: Der letzte Dank für die Stücke aber gebührt wohl unserer Republik, durch die eine Entwicklung der Autoren zu sozialistisch-realistischen Dramatikern überhaupt erst möglich wurde. Unser Staat vermittelte ihnen nicht nur eine gesicherte „Ausbildung“ schlechthin. Er befähigte sie, in dialektisch-materialistischer Weise zum Wesen der realen Entwicklung vorzustoßen. Er erzog sie zu jener parteilichen Verbundenheit mit dem gerechten Kampf des werktätigen Volkes, die eine so entscheidende Voraussetzung für das Entstehen bedeutender Kunstwerke ist: Schon beim „Lohndrücker“ hatte Heiner Müller nicht nur auf Eduard Claudius’ Roman „Menschen an unserer Seite“ zurückgegriffen, sondern er war selbst im VEB „Roter Oktober“ gewesen. „Die Korrektur“ entstand nach längerem Aufenthalt beider Autoren im Kombinat „Schwarze Pumpe“, die zweite Fassung in Zusammenarbeit mit Theaterpraktikern und Arbeitern aus verschiedenen Betrieben. – Eine dramatische Chronik vom Aufbau der DDR also, die nicht nur von befähigten Schriftstellern geschaffen wurde, sondern zugleich von unserer ganzen Republik.

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Dann ein Tagebuchblatt aus dem Sommer 66, verschmutzt, kaum noch leserlich, gewidmet einer Beerdigung in Pankow, bei welcher der Trauerkranz mit den Insignien des Schriftstellerverbandes der DDR endlich doch noch auf meinem angewinkelten rechten Arm gelandet ist, statt irgendwohin zu rollen oder stiekum in der Leichenhalle vergessen zu werden … Ach, eigentlich war der Reimeschmied und „Eulenspiegel“-Autor N.W. vom Verband beauftragt worden „na, irgendwer sollte vielleicht doch zu dieser Sache hingeschickt werden!“ −, im Namen des Verbandes zu kondolieren, eine Verlegenheitsgeste, die freilich geeignet war, die Abwesenheit aller „Repräsentanten“ aus dem Vorstand oder Präsidium des Verbandes nur noch spürbarer werden zu lassen; und N.W., wahrlich kein besonders wichtiger oder namhafter Autor, war sich der Peinlichkeit seiner Rolle als Alibi-Trauergast, wie er mit zerquältem Gesicht anzudeuten versuchte, ganz und gar bewußt: Krümmte und wand er sich deshalb so auffällig unter der Last des nicht allzu großen, nicht allzu schweren Kranzes? Nein, es ist nicht nur der Kranz gewesen; außerdem fand er sich plötzlich, „das hat mir gerade noch gefehlt“, von ätzenden Gallenkoliken übermannt, die ihn verzweifelt betteln ließen: „Der Kranz, der Kranz, au, nimmt mir denn keiner den Kranz ab?“ Außer mir war kein Schriftsteller in der Nähe, der N.W. hätte helfen können. Ich sagte burschikos und ohne über die Chose nachzudenken: „Na, jib’ ihm schon!“ Und so bin ich es gewesen, noch weniger „Repräsentant“ als der Kollege W., der den ungeliebten „Kranz des Verbandes“ niedergelegt hat zu den anderen Kränzen am Grab der problematischen Inge Müller, da N.W. stöhnend und blitzschnell davongehuscht war um die Ecke der Leichenhalle des Friedhofs. Daß der Autor, wie es üblich ist, die mit Trauergrüßen bedruckte Schleife prahlerisch ins grelle Licht gezogen und betulich zurechtgezupft hat, möchte er lieber bezweifeln. Dagegen erinnert er sich an den Kampf mit seiner Brille (Sonnenbrille), die immer wieder auf dem schweißnassen Nasenbein nach unten gerutscht ist und die er immer wieder zur Stirn hochzuschieben versucht hat; es muß ein glühend heißer Tag gewesen sein.

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P.S.: Zwanzig Jahre später – genauer: am 20.5.86, sagt mir der diesbezügliche Stasi-Bericht – referiere ich im Leipziger Jugendklubhaus „Arthur Hoffmann“ über Inge Müller und ihre Lyrik. Der Bericht aus der Feder des IM „Peter Hille“ schließt mit dem beruhigenden Hinweis: „Politische oder private Ursachen für den Freitod der I.M. hat Endler nicht behandelt…“ Das kann ich bestätigen. Dagegen hat „Peter Hille“ anderes ziemlich wüst zusammengesponnen: „Freitod der I.M. 1966 durch Überdosis Tabletten nicht als Phänomen oder Exempel aufgebauscht, sondern durch gesamte Konzeption des Vorlesens von Texten und eigener Passagen Leser auf die Tragik eines nichtbewältigten Mitgehens in der Entwicklung des Sozialismus hingeführt…“ – Ich hege den Verdacht, daß „Peter Hille“ (auf Kosten Inge Müllers gewissermaßen) was Gutes über mich bzw. meinen Vortrag mitteilen wollte; aber hat es der Major kapiert?

Adolf Endler, Januar 1996

Brief

Lieber Torsten Heyme,
das mag immerhin etwas sein und das Übliche: Ich weiß nichts. Ich kann Ihnen zum Film über Inge Müller nur liefern, daß auch ich nichts liefern kann. Ich hab sie ganz vergessen. Und womöglich nichtmal das, denn ich hatte wahrscheinlich kaum was zum Vergessen.
Solche aufstrebenden Dummköpfe wie ich besuchten damals eben den Mann, den Heiner, den fertigen Dichter. Man wußte womöglich, daß neben Müller diese Zuarbeiterin da auch schreibt oder gelegentlich geschrieben hat. Gedichte ja. Es roch in der Wohnung nach wenig Geld und nach Dichter-Hochmut. Die Zettelchen an den Wänden. Literaturtapete. Wir alle hatten Probleme mit den Mächtigen, mit der Dichterei, Probleme genug. Aber diese Frau da war ein Problem für sich. Sie kam mir vor wie eine Kriegs- oder Nachkriegskranke, zerfleddert. Nicht dran rühren! Keinen Gedanken verschwende auf das Unabänderbare. Brecht.
Ich war damals der Junge, der Anfänger. Heiner Müller war weiter und sowieso immer fertig und von klein auf ein Zigarrenraucher. Ich glaube, solche wie wir fanden damals die Menschheit wichtiger als einzelne Exemplare. Selektive Menschenliebe. Wir glotzten kurzsichtig in die Ferne. Durch diese Frau hab ich durchgeguckt. Mich hat dieser weibliche Schatten im Müllerschen Mondlicht nicht groß geblendet. Brecht war meine Sonne. Wir ahmten seine Heiligkeit nach, seine Klarsichtigkeit, seine rationale Haltung, seine Sachlichkeit, sein hochgestochenes Grau in Grau. Brecht schrie so was wie:

Versinke im Schmutz
Umarme den Schlächter
Aber ändere die Welt
Sie braucht es.

Sowas gefiel mir. Welt verändern! Sie braucht es! Was ein einzelner brauchte, fiel uns nicht so ins Auge. Ich umarmte später die stalinistischen Schlächter, freilich beim Streit im Clinch. Und ich versank im Schmutz der Lügen, freilich in denen, die über mich und meine Freunde verbreitet wurden … es passierte in echt nicht so linear, wie Brecht es gemeint hatte. Aber trotzdem: Die Welt verändern, das war unser Ding.
Wir wollten die Menschheit retten und hatten nicht die Puste für unseren nächsten. Dabei wurstelten wir damals alle, auch Heiner, am Rande der DDR-Gesellschaft. Aber wir fühlten uns am Zentrum des Randes. Aber Inge, die Frau des großen Dichters, war am Rande des Randes. Inge Müller war immer am Rand. Und daß sie 1966 übern Rand kippte, blieb – leider! – auch am Rande unseres Interesses. Jetzt kommt das dicke Ende nach. Inge Müllers Gedichte.

EUROPA

In den Gaskammern
Erdacht von Männern
Die alte Hierarchie
Am Boden Kinder
Die Frauen drauf
Und oben sie
Die starken Männer
Freiheit und democracy.

Meinen Vater verfrachteten die Nazis im Februar ’43 in einem Viehwagen nach Auschwitz. Ich glaube, er kam von der Rampe nicht gleich in die Gaskammer, sondern wurde noch zur Arbeit eingeteilt. Ein Hamburger Jude, der überlebte, hatte in der Registratur des Lagers gearbeitet und erinnerte sich. Er hatte den Namen Dagobert Israel Biermann noch in irgendeine Liste geschrieben.
Die Kinder zuunterst. Das Zyklon B war schwerer als die Luft, ich verstehe. So weit oben in der Gaskammer hatte ich meinen Vater nie gesehn. Und das hat mit ihrem Singen die Inge Müller getan. Und dann obendrauf untendrunter das ironische Zitat aus dem biederen Brecht-Gedicht „Freiheit und Democracy“.
Es wundert mich nicht, daß nun Jüngere kommen und diese Frau aus dem Vergessenwordensein rausbuddeln wollen. Mich stört das auf. Inge Müller. Solche wie die und Celan machten es klug, sie lebten das Leben nicht zu Tode wie unsereins. Die Gedichte sind ja da und werden gelesen, immer noch mal und mit neuen Augen. Und jeder nimmt sich und mißversteht, so gut er eben kann.
Das halten die Gedichte aus, Nur wir halten es nicht aus und haben also was davon.

Wolf Biermann, 1988
erschienen in Wolf Biermann: Klartexte im Getümmel, hrsg. von Hannes Stein, Kiepenheuer & Witsch 1990

Das Veto der Witwe

− Ein kritisches Gedicht Wolf Biermanns über das Dichterpaar Inge und Heiner Müller droht privater Zensur zum Opfer zu fallen. −

Das Ende schien ihm so prosaisch wie dramatisch: „Und dann habe ich noch lange auf einem U-Bahnsteig mit Adolf Dresen über die Zukunft oder Nicht-Zukunft des Marxismus diskutiert. Als ich nach Hause kam, war sie tot.“
So schilderte der Dramatiker Heiner Müller in seinen Memoiren den Selbstmord seiner zweiten Ehefrau Inge, die sich am 1. Juni 1966, 41jährig, mit Gas und einer Überdosis Tabletten das Leben genommen hatte.
Es war nicht ihr erster Versuch, den Tod zu finden, dem sie 1945, wenige Tage vor Kriegsende, unfreiwillig schon einmal ganz nahe gewesen war. Drei Tage lag sie unter den Trümmern eines Berliner Mietshauses, verschüttet, in Gesellschaft eines Hundes. Sie überlebte und holte kurz darauf die Leichen ihrer Eltern aus der aufgewühlten Erde.
Das Trauma lastete ein Leben lang. Auch an der Seite und im Schatten Heiner Müllers blieb die Journalistin und Schriftstellerin einsam, isoliert, eine stille Randexistenz der DDR-Literaturszene. Erst knapp 20 Jahre nach ihrem Tod wurden jene Gedichte als große Lyrik erkannt und als Buch veröffentlicht, die sie zeit ihres Lebens kaum jemandem gezeigt hatte.
Nun, weitere zehn Jahre später, gerät die erste umfassende Würdigung der Dichterin Inge Müller im Berliner Aufbau-Verlag zum Streitobjekt. Der Anlaß: In dem Sammelband mit Texten von und über Inge Müller soll auch ein bisher unveröffentlichtes Gedicht Wolf Biermanns erscheinen, mit dem Titel „Legende vom Selbstmord der Inge Müller im Jahre ’66“.
Die junge Witwe des 1995 gestorbenen Heiner Müller, die Fotografin Brigitte Mayer, 31, will die Biermann-Ballade „nicht in diesem Buch dulden“ und setzt den Aufbau-Verlag unter Druck.
Tatsächlich spart Biermann in seinem Gedicht nicht mit Anspielungen auf die wenig glückliche Ehe von Inge und Heiner Müller und dessen erdrückende Dominanz in dieser Beziehung. Auszüge aus dem Gedicht:

Unter Trümmern in Berlin, nicht unterm Regenbogen
Lag die Dichterfrau verschüttet, ward herausgezogen
Blieb halb tot im Frieden, hat sich ganz dann hingegeben
Einem Müller, Heiner – auch genannt: der Steineklopper
Tiefer, unter ihm, verschüttet lag sie nach dem Kriege…

Dichterfrau – was soll das heißen: etwa Weib des Mannes
Der da dichtet oder Frau, die selber Worte schichtet
Ausgebuddelt: A – B – C – D – E – F – G – H – I – J
K – L – M – N – O – P – Q – R – S – T – U – V – W – X
Ypsilon und Z riskiert sie endlich eine Lippe
Und sie flieht aus ihres genialen Mackers Mickerleben
Und sie springt dem guten Tod, Freund Hein, auf seine Schippe…

Auf ner schwarzen Wolke schwebt sie dreißig Jahre später
Gottes Jazztrompeter bläst Germanias Trauermärsche
Heiner Müllers Grube wird grad unten ausgehoben
Und die Dichterin erbricht die INTERNATIONALE
Runter in das offne Grab in Ostberlin. Die Alte
Sieht die junge Witwe weinen an dem Sarg. Es lachen
Brecht und Eisler. Ach und William Shakespeare krümmt sich in der Hölle:
Gloster Gysi will dem Volk den König Richard machen…

„In dieser Ballade beleidigt Biermann meinen Mann Heiner Müller und mich und letztlich auch Inge Müller“, erklärt Brigitte Mayer, die gemeinsam mit Bernd Müller, dem Sohn der Lyrikerin, die Rechte am Werk Inge Müllers hält. „Er mag sie drucken und singen, wo er es auch mag. Sie kann aber nicht in einem Buch erscheinen, das Inge Müller ehrend erinnern soll.“
Die Herausgeberin des Bandes, Ines Geipel, sieht jetzt ihre eineinhalbjährige Editionsarbeit zunichte gemacht: „Das Biermann-Gedicht ist wichtig in diesem Kontext.“ Aus Solidarität mit Biermann will sie nun ihre Herausgeberschaft niederlegen.
Erfahren hatte Brigitte Mayer von dem Biermann-Gedicht erst, nachdem ihr von einem ganz anderen Verlag, dem Henschel-Theaterverlag, Druckvorlagen für den Inge-Müller-Band übermittelt worden waren. Ines Geipel erklärt sich die Affäre mit den ideologischen Motiven von „Leuten, die bei der bloßen Erwähnung des prominentesten DDR-Dissidenten rot sehen“, zumal PDS-Funktionär Gregor Gysi in dem Gedicht erwähnt wird. Sie selbst fühlt sich bedrängt und unter Druck gesetzt. Schon zu Beginn ihrer Arbeit sei sie, ähnlich wie Biermann kurz vor der Beerdigung Heiner Müllers im Januar 1996, telefonisch bedroht worden.
Unterdessen hat das „Brandenburgische Literaturbüro“ in Potsdam einen bereits überwiesenen Druckkostenzuschuß von 5000 Mark zurückgefordert. Der „fundamentale literarische und politische Eingriff in das Manuskript“ sei nur als ein „Akt der Zensur“ zu begreifen.
Offensichtlich ist jedenfalls die Parallele zu der einstweiligen Verfügung der Brecht-Erben, die dem Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch den Abdruck von zwei Brecht-Zitaten untersagen wollen. Die Texte umrahmen eine Szene in Heiner Müllers letztem Stück, „Germania 3. Gespenster am toten Mann“, in der Brechts Frauen um das Erbe des Kommunismus streiten.
Angeblich will der Aufbau-Verlag, einst ein Vorzeige-Unternehmen der DDR, am Montag dieser Woche in einem Gespräch mit Brigitte Mayer eine Lösung des Konflikts suchen. „Wir bedauern sehr, daß das Biermann-Gedicht verhindert werden soll“, erklärt die Verlagssprecherin Barbara Stang. Allerdings wird Aufbau den Band „notfalls auch ohne“ das Poem erscheinen lassen.
„Jeder bringt in die Einheit mit, was ihm am kostbarsten war“, spottet nun Biermann, „bei denen ist es die Zensur.“

Der Spiegel, 10.6.1996

„Da sind wir wieder“

− Schicksal unserer Zeit: Die Lyrikerin Inge Müller. −

Das Jahr 1957 – ein Jahr des Schweigens. Viele Menschen, die gerade durch ihre Begabung, mit der Sprache umzugehen, Untaten, die im Namen des Sozialismus und dessen Erhaltung geschahen, hätten verhindern können, haben geschwiegen. Im Jahre 1957 wurde im Juli der Leiter des Aufbau-Verlages, Walter Janka, zu fünf Jahren Zuchthaus mit erschwerten Bedingungen verurteilt. Er stand unter dem Verdacht, eine Konterrevolution zu unterstützen. Er war unschuldig. Es gab keine Konterrevolution. Bei der Gerichtsverhandlung senkten die wissenden Schriftsteller, die geladenen, die Köpfe, und sie schwiegen bis zu ihrem Tod.
„Ist jede Welt eine Welt von Krämern?“ In diesem Jahr 1957 begann die zweiunddreißigjährige Inge Müller, die Frau des jungen Dramatikers Heiner Müller, Gedichte zu schreiben, begann sie mit dem Abtöten ihrer Gefühle durch den Alkohol. „Wer schweigt, ist tot.“ Ihren Mann fragte sie: „Wer gibt dir das Recht, den Stummen zu spielen… Hast du die Welt aufgegeben?“ Aber er hatte nicht zu den geladenen Gästen gehört.
Das Jahr 1989 ist das Jahr der „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“, die aber endlich ausgesprochen werden kann. „Da sind wir wieder!“ hatte einst Inge Müller gerufen. Für sie, wie für viele Menschen, kommt die Wahrheit zu spät. Sie starben, oder sie gaben auf. Aber: „Im Sterben planen sie das Leben.“
Inge Müller, die sich acht Jahre am Abgrund des Selbstmordes entlanghangelte, wurde am 1. Juni 1966 von ihrem Mann „tot von Tabletten und Gas“ in der gemeinsamen Wohnung gefunden. Inge Müller, geborene Meyer, geschiedene Lohse, geschiedene Schwenkner, Mutter eines Sohnes, wurde 1925 geboren, in Berlin, im Osten, lebte im Neubaublock in Lichtenberg, erhielt eine strenge preußische Erziehung, die sie verinnerlichte bis an ihr Lebensende, wollte schon mit vier Jahren fliehen.
Wohin? Den Krieg erlebte sie als Wehrmachtshelferin. „Kann man hassen lernen?“ Bei einem Luftangriff wurde sie drei Tage verschüttet mit einem Hund. Als man sie rettete, konnte sie ihre Eltern nur noch als Leichen ausgraben. 1945 war Inge Meyer zwanzig Jahre alt und wollte leben. Eine Arbeit fand sie bei Siemens-Plania in Lichtenberg. Sie heiratete, bekam ein Kind, ließ sich scheiden, heiratete wieder, einen Zirkusdirektor.
1953 lernte sie Heiner Müller kennen. Er war jünger und wollte sie heiraten. Da ließ sie sich scheiden, und für Inge Meyer, Lohse, Schwenkner, begann die dritte Ehe. „Zwei Menschen, die sich lieben und schreiben…“ (Wolf Biermann). An den Stücken Der Lohndrücker und Die Korrektur arbeiteten sie gemeinsam, fuhren zusammen in das Werk Schwarze Pumpe und aufs Land, fragten die Leute aus. Inge Müller schrieb auf, was sie sagten. Es gab Anerkennung und Auszeichnungen.
Trotzdem entwickelten sich die nächsten Jahre politisch rückwärts. Begonnen hatte die Katastrophe mit den Schauprozessen 1957, mit der Angst der Regierung vor einer Konterrevolution nach dem Aufstand in Ungarn. Ein emsig arbeitender Staatssicherheitsdienst unterdrückte jedes nicht regierungstreue Denken, versetzte die Menschen in einen Zustand der luftlosen Angst.
Das Jahr 1961 brachte den Höhepunkt, das Umschlagen in offenen Terror: Heiner Müllers Stück „Die Umsiedlerin wurde verboten, vorhandene Manuskripte verschwanden, Heiner Müller schloß man (wer?) aus dem Schriftstellerverband aus. Die Familie verlor jede Existenzgrundlage. Man lag „Unterm Schutt“. Die Mauern verengten den Lebensraum.
Kann man hassen lernen? Inge Müller konnte es nicht. Bei Freunden suchte sie wohl Rat und Hilfe, bei dem Mann, den sie liebte. „Wo sind die Freunde hin / im Geist und im Sinn / Ach, du lieber Augustin / Wie fröhlich ich bin.“ Stundenlang schloß sie sich mit ihrem Akkordeon im Zimmer ein, verklang der letzte Ton, alarmierte die Stille. Wie viele Male wurde die Todessehnsüchtige, die immer Weglaufende gerettet?! Wenn sie jahrelang Masken trug, tragen mußte, jetzt, in der äußersten Bedrängnis, in der Einsamkeit und der Verzweiflung, riß sich Inge Müller die Masken vom Gesicht.
Endlich entfloh sie allen Zwängen, den inneren und den äußeren, und „lief hin“ zu sich selbst. Sie lebte noch in ihren Gedichten, bis sie auch das nicht mehr konnte.

Jetzt werd’ ich nicht mehr schrein
Daß ich nicht ersticke am Leisesein

Eine „Unauffällige“ war gestorben.

Blanche Kommerell, Neue Zeit, 14.4.1990

Das verlängerte Echo

– Der Horizont des Todes in Gedichten von Inge Müller. –

Kurz vor Schluß des letzten Krieges verschüttet, für drei Tage und Nächte in einem Ruinenkeller lebendig begraben und am Leben geblieben, die Eltern tot unterm zusammengestürzten Haus. Die Tochter lief eine Bahre holen. Als sie zurückkam, fehlte der toten Mutter ein Finger. Am Finger steckte zuvor ein Ring, den Nachbarn nicht hatten stehlen können ohne Verstümmelung einer Toten. Inge Müller, grad eben zwanzig Jahr alt, in der Ruinenstadt Berlin unter den anderen Toten und denen, die nicht umgekommen waren – und doch dem Tod nirgends ferner als hier.
Das Bild eines Kriegstraumas war ein noch geschlossenes, betoniertes, ein noch nicht zerrissenes Bild; die Wörter standen ihr noch bevor. Und das Empfinden aus der persönlichen Erfahrung von Schmerz kann in seiner Größe, in seiner Heftigkeit und zugleich in seiner Einsamkeit wie in seiner Unsprechbarkeit nur verständlich werden vor der Allumschließung eines aufgedrehten Vitalismus, wie er in der unmittelbaren sogenannten Nachkriegszeit entstanden ist. Nach der Ekstase der chauvinisierten „Volksseele“ jetzt der Polizeitritt eines neu sich stellenden Realitätsprinzips, Zukunft im Kommandoton, mündend in Vergötterung alles Gesellschaftlichen.

Ich hab sie gesehn: Menschen.
Ohne Gott. Ausgeliefert
Und still.

So schrieb Inge Müller Jahre später. Denn durch die Verbannung des Todes ist das Leben der Gegenwart zur Handlangerin des Todes heruntergekommen; Leben mißrät durch Ausschließung des Wissens vom Tod zum leblosen Leben.

Das Leitwort
In flüchtigen Momenten von Identität leuchten Werk und Leben für Inge Müller auf. So ist die Aufgabe dieser Arbeit, dem poetischen Impetus, der das Schreiben Inge Müllers provozierte, als Spur innerhalb ihres Werkes zu folgen. Wohin dann führte poetische Sprache eine Autorin, die „im Grunde such[t], was an Weiblichem in mir zu finden ist, zu wählen und zu sein, was ich bin: wenn ich bin, wenn ich schreibe“? (Tagebuchnotiz von Inge Müller) Diesem Impetus nachzuspüren heißt, unter der vermeintlichen Zerbrochenheit des Werkes von Inge Müller dichterische Kontinuität und deren Risiko zu entdecken; die Schrift bedroht den Schreiber.
Und es scheint, als hätte ihr Schreiben zunächst aus verstreuten sprachlichen Partikeln bestanden; kleinen poetischen Meißeln, die sie – mal stammelnd wie Kinder zum Abzählvers, mal mit rigoroser Gebärde handhabend – ansetzte, um mit deren Hilfe den Versuch zu machen, den Betonblock eines Kriegstraumas zu zertrümmern. Denn wo Menschen Menschen im Stich lassen, bleibt dem Menschen immer noch die Schrift.
Seit jenem Ereignis und der Zeit, als von Inge Müller erste Gedichte und Kurzprosa existierten, vergingen mehr als fünf Jahre. In dieser Zeit nach dem Krieg, von den Parolen über Leben und Zukunft, vom naiven Überschwang des Fahnen-Rausches erfüllt und mitgerissen, versuchte auch Inge Müller ihr privates Dasein in den Griff zu bekommen. Eine vorschnelle Heirat, ein Sohn wurde geboren; die Ehe zerbrach nach kurzer Zeit, eine zweite Ehe mit dem Verwaltungsdirektor des Zirkus Busch wurde, vermutlich in ähnlicher Hast wie die erste, geschlossen – die Atemlosigkeit mochte aus der vielleicht noch uneingestandenen Ahnung rühren, daß für sie, wie für viele ihrer Generation, dem Familiären die Textur der Zerstörung, die Erfahrungsspur des Verlustes eingeschrieben blieb: der Krieg als der verlorene Frieden – die verlorene Heimat, das zerstörte Berlin – das über ihr zusammengestürzte Haus und im Ende der Tod der Eltern vollendeten für sie einen Erfahrungshorizont, von dem her in immer näher heranrückender Wirklichkeit eine leibhaftige Bedrohung erwuchs.
So wie es immer ein Schreiben vor dem (Nieder-)Schreiben gibt, ein Schweigen, das den Wörtern vorausgeht und das Sprechen als Schreiben sich verfestigen läßt, so transformiert die individuelle Erfahrung aus dem Diffusen und der Konfusion des Lebens in die Ordnung der Strategeme des Schreibens. Das draußen Erfahrene, das einen kohärenten Reflexionshorizont sich erschafft, thematisiert in einer Verdichtung hieraus ein Leitwort. Leitwörter besitzen Doppelcharakter: Sie gruppieren um sich einerseits alles Textuelle als Zentrum, das für Texte generativ wirken muß; das Leitwort ist die Verdichtung des poetischen Sinns. Anderseits, und weil das Leitwort selbst als Sinnrepräsentant in den Texten enthalten ist, führt es mit dem Fortschreiben, also auf dem Weg der Sinn-Entfaltung, auch die Zerstörung der textuellen Identität herbei.
In den Gedichten von Inge Müller, unschwer zu erkennen, bildet das Leitwort Tod mit seinen Attributen (verlieren, sterben, verschwinden, unauffindbar sein etc.) sich heraus. Nicht allein für Poesie ein gefährliches Wort! Das dialektische Umschlagen des Leitwortes vom Generativen zur Textkonstruktion durch Nennung des Namens ergibt die Tautologie: das Kurzschließen und Ersticken des Textes, den Lust-Verlust am Text bei dessen Lektüre. Diese Gefahren zu umgehen, das generative Moment des Leitwortes zu retten, bildet jedes Leitwort eine Reihe von eigenen Entfaltungsmöglichkeiten heraus. Diese – ob im Äußeren, dem Schreib-Verhalten des Autors, ob im Inneren, in der poetischen Figur des Textes – laufen stets auf die Schaffung von Umwegen, zeitlichen wie sprachlichen Verzögerungen hinaus, an deren Ende die Zerstörung des Sinns und damit die Auflösung des sinntragenden Leitwortes stehen – gelungene Gedichte hinterlassen keinen Rest.
Das Schreib-Verhalten von Inge Müller, zahllose Versuche, ein und dasselbe Gedicht immer wieder neu zu schreiben, läßt ihre (vielleicht unterbewußt sich selbst gestellte) Aufgabe, niemals mit einem Gedicht „fertigwerden“ zu sollen, erkennen. Schreib-Impetus und -Vermögen mochten eher desultorischer Art gewesen sein, motiviert durch die Motive der Gewalt des Außen. Ebenso bedeutsam, daß kaum eine der Gedicht-Variationen ein genaues Datum trägt, keine der vielfältigen Varianten autorisiert wird, das Gesamtwerk einer datierbaren Folge punktueller Ereignisse sich somit entzieht. Das, wie Goethe bemerkte, „Tagebuchähnliche beim Schreiben eines Gedichtes“ kann so nicht ihre Sache gewesen sein, einfach weil für Inge Müllers Schreiben immer ein und derselbe Tag gewesen ist. Die genannte Zerstörung der Textidentität durch das Leitwort kann der symbolische Tod des Gedichtes heißen. Zwischen dem Leitwort und seiner Herkunft, dem Horizont des faktischen Todes, breitet für die Autorin ein Reflexionsgelände sich aus, das hierin durch die poetische Sprache wie in einer Landschaft Leben erzeugt. Das poetische Schreiben- ein verlängertes Echo zwischen der Wirklichkeit der Autorin und dem Horizont des Todes – muß mit seinem Verstummen, dem Ende des Schreibens, als die hereinbrechende Wirklichkeit des Todes erscheinen. So erhält das Schreiben seine vitale Funktion, die natürlich Stundung, lediglich Aufschub des realen Todes heißt – das Reflexionsgelände schmilzt wie das Chagrinleder, je intensiver es seiner Bestimmung entsprechenden Gebrauch erfährt.
Das Leitwort ist mithin das Superzeichen des Sinns im Werk mit dem Ziel, im Werk selbst ohne Rest sich selbst zu verbrauchen. Je weiter in die Sprache verstreut, d.h. je ferner es der direkten Nennung liegt, desto größer der Lustgewinn an der Lektüre, desto größer die Bedeutung des Werks. Im Idealfall treffen Auflösung des Sinns und das Verlöschen des Schreibens zusammen; in dieser hellen Nachtseite erfahren die Wörter ihr explosives Aufleuchten, das Werk verbrennt ohne Asche.

Schleier- Gitter und Käfig – die Übertretung
Ein so erkanntes Kreisen ihrer Sprache läßt Gedichte entstehen, die zunächst wie rhythmisierte Prosa mit gebrochenen Zeilen und unterschiedlich gearteten Binnenreimen sich ausnehmen – vom „juvenilen“ Reim wie im Gedicht „Rendezvous 44“, einer mutwillig zurechtgebogenen Reimweise, bis zum für mich gelungensten Gedicht „Mond Neumond deine Sichel“; einem Gedicht, das in noch anderer Hinsicht als ein repräsentatives Gedicht erscheint. Zunächst erfüllen Zeilenbruch und Reim in der kreisenden Bewegung des Schreibens die Funktion des Einrichtens von Ordnung und Vernunft. Denn Reime spielen die Sprache in ihren Wiederholungsformen durch; ein Tableau aufeinander bezogener Wörter entsteht, die phonetischen Ähnlichkeiten formen ein mit Lust besetztes, textuelles Gewebe. So erschafft Reim eine Konzentration von Wort-Material, die im poetischen Verfahren auch das Paradox des Reimes erstellt: Halt schaffend, indem Halt er zerstört.
Solch Eigendynamik poetischen Schreibens faltet ihrerseits sich zu zweierlei Vektoren auf. In der Horizontalen zunächst als ein textuelles Gewebe, jenes Tableau aufeinander bezogener Wörter, das quantitative Netz. Mit fortschreitender Vollendung des Poetischen, Leitwort, Sinn und Identität des Geschriebenen aufzulösen und zu zerstören, transformiert die poetische Sprache den eigenen, drohenden Sprach-Verlust zu literarischen Strategemen. Diese setzen im Textgewebe dem schwindenden Gelände poetischer Reflexion signifikante Zentren entgegen. Eine Vertikale bildet sich heraus, insofern die Aufeinanderbezogenheit der Wörter (der Reim) die Transformation ins qualitative „Gestell“ der (poetischen) Sprache erfährt. Offensichtlich ein „kriegerischer“ Akt, der dem Schreiben immanent ist und wenig mit der subjektiven Wahl des Schreibers gemein hat. Eine Strategie poetischen Schreibens scheint die Verführung des Schreibers; die Sprache „sagt, wohin sie will“. Ihre Strategeme, allesamt Kristallisationen des Sinns und naturgemäß doppelzüngige, hinterhältige Strategeme, können bei Inge Müller Schleier Gitter und Käfigdie Übertretung heißen, um diese von Michel Foucaults „Schriften zur Literatur“ entliehenen Begriffe als Werkzeuge zu benutzen. Diese Termini bedeuten keine literarisch qualitative Rangfolge für das Werk Inge Müllers; sie bestehen darin vielmehr nebeneinander, wenngleich in späteren Jahren die Tendenz zur Übertretung wahrscheinlich ist. Weiterhin werden diese Begriffe im Sinne der Sprach-Funktion verwendet; sie allesamt repräsentieren unter verschiedenen Aspekten sowohl das transportierte Wissen und den Sinn im konkreten Text als auch im gesamten Werk.
So hat zunächst der Schleier die Funktion, die persönliche Erfahrung des Todes innerhalb einer Landschaft bis hin zum Horizont der Reflexion über diese Landschaft zu binden und in charakteristischer Weise zu verhüllen.

MOND NEUMOND DEINE SICHEL
Mäht unsre Zeit wie Gras
Wir stehn aufrecht im Himmel
Auf dünnem Stundenglas.
Der Stern geht seine Wege
Wir suchen unsern Weg
Wenn ich mich niederlege
Geh über mich hinweg.

In dieses schon erwähnte Gedicht, stellvertretend für einige andere Gedichte von Inge Müller – so „Der schwarze Wagen“, „Für H. E.“ oder „ICH HAB SIE GESEHN: MENSCHEN“ – schreiben die charakteristischen Merkmale der Funktion Schleier deutlich sich ein. Der Schleier, in der Vertikale seines Fallens um das zu verschleiernde Objekt, wirkt durch die Anschmiegsamkeit seines naturgemäß dünnen Gewebes und der beabsichtigten exakten Bedeckung jenes Objekts im dann getreuen Nachzeichnen aller zu verschleiernden Partien: entschleiernd. Hierin besteht das Zwiespältige der Funktion Schleier. Das im zitierten Gedicht poetische Gefälle in der Vertikale formuliert sich in der Nennung von Mond, Stern, Himmel direkt neben Mensch in seiner Endlichkeit – je größer metaphorische Spannungsgefälle und je unmittelbarer Diskrepanzen zwischen Groß und Klein, Nah und Fern, Ewig und Endlich im Textbau zusammentreffen, desto größer stets der Lustgewinn am poetischen Text. Das Leitwort Tod verhüllt sich mit dem Gewebe seiner Konnotationen und enthüllt die wesenhaften Umrisse und Konturen: Mond – läßt Nacht assoziieren und Stille; die Präzisierung Neumond zusätzlich den Höhepunkt von Finsternis, Unvernunft und Verbrechen mitsamt deren Gruppe weiterer Verästelung in Konnotationen. Dünnes Stundenglas signalisiert das Unbeständige, die Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz, das Aufrechte (körperlich, psychisch, moralisch) im Widerpart zu Neumond als zusätzliche Verunsicherung, weil Balancehalten immer die Gefahr des Stürzens in sich trägt. „Der Stern geht seine Wege / Wir suchen unsern Weg“ – die Trennung von Natur und Mensch wird als schmerzhaftes, grausames Wissen empfunden; der Mensch ist allein, ohne Sicherheit, er muß suchen, während nur der Stern (die Erde, auf der der Mensch suchen muß) seinen Weg kennt. Niederlegen können Menschen sich zum Lieben, Schlafen, zum Sterben – wobei das vorangestellte Wenn nur einen Zeitpunkt, nicht aber eine wirklich freie Wahl offenläßt. „Geh über mich hinweg“ will, abgesehn vom rüden Argot, sowohl an physisches Verlassen als auch in jedem Sinn an ein Hinweggehen über Leichen und über Gräber erinnern. Das lyrische Ich also wird als ein apriori Toterlebtes, Totgelebtes gesetzt. Der identische Reim Weg mit hinweg erweist sich hier als gelungen, weil er sowohl die vorgezeichnete Bahn als auch das Laufen und Verschwindenmüssen zugleich benennt. Womit in einer erneut vertikal angelegten Schleife auch der als zunächst sicher vorgestellte Weg des Sterns (im erweiterten Sinn: der Natur) in die unmittelbare Bedrohung menschlicher Existenz durch den Tod einbezogen wird. Unsere Natur muß in uns sterben in dem Ausmaß, wie wir Menschen an uns selber sterben müssen.
Diese Auflösung der Situation indes beläßt der Autorin genügend an Distance zum Horizont der Reflexion, um das Leitwort samt seines Gewebes aus Konnotationen auf seinem nächtlichen, leuchtenden Weg als verlängertes Echo vor dem Ersticken zu bewahren. – Der Schleier also ist die Offenbarung der Zurückhaltung, indem er sehen läßt, was das Wesen des Zurückgehaltenen ist, wobei dem Zurückhaltenden selber das Offenbarte verborgen bleibt. Der Schleier in seiner funktionellen Transparenz verleiht dem Text-Körper seine Erotik, seine Poesie, gibt ihm die Souveränität zur Kommunikation.

Das permanente Anrennen auf sich verfestigte Erscheinungstypik aus Wirklichkeiten, die ungezählten Versuche um ein und dasselbe Gedicht lassen im Schreiben von Inge Müller die erste Stufe einer Verfestigung des Horizonts vom symbolischen Tod entstehen. Das Leitwort in der von seinem Echo erfüllten Landschaft formatiert die ungerichteten Erfahrungspartikel aus der Wirklichkeit zum Raster; dessen minimalisierte Gravitationszentren ragen daraus wie ein Netzwerk geometrischer Gitterstäbe empor. Inge Müller lebte nach dem Krieg in den Jahren ihrer zweiten Ehe in einem Vorort von Berlin, ihre dritte Ehe mit dem Dramatiker Heiner Müller führte sie wieder zurück in die Stadt. Dort, dem Theater und dem Zustrom von Menschen am nächsten, verbrachte sie die Jahre dennoch in zunehmender Abgeschlossenheit. Ein Zeugnis hiervon gibt das Gedicht „Fenster“. – Die Stadt, kein Lebenselement, wird für die Lyrikerin vielmehr zum realen Reflexionsterrain, das, mit Vehemenz vom Leitwort durchschallt, all jene Erscheinungen und Charakteristika der Stadt als Wort-Echos aus der Realität dem Schreiben (aus)liefern muß, die vom poetischen Wellenschlag berannt werden. Objekt und Subjekt erfahren ihre strenge Polarisierung, das Echo aus den Schrecken des Alltags muß in der Schrift seine subjektive Bindung und Bannung suchen. Bruchkanten schneiden in den Textkörper stärker ein, lassen Verletzungen zurück, die nicht heilen wolln, kurze Zeilenbrüche, überhastete Reime. Die Geschmeidigkeit des Schleiers verschwindet, schmilzt zu Partikeln zusammen, der Atem zerreißt zu kurzen heftigen Stößen – die Angriffe sind verteilt über viele Gedichte. Die Kohärenz eines sich schließenden Ganzen wie unter dem Schleier findet kaum statt, am ehesten noch im vielfach gebrochenen Echo des Gedichtes „Jetzt“.
Gitter, die späterhin zum Käfig sich schließen werden, bedeuten die für dieses Schreiben von Inge Müller typische, poetische Sprachfindung; ein funktionalisiertes, unverstelltes Machtverhältnis: Auslese und Einschließung – hier die Besiegte, vor dem Gitter draußen überall die Sieger. Die Eingesperrte erscheint nackt, denn die Einsichtnahme auf sie ist ohne Schutz, allumfassend. Wobei zudem die Besiegte stets in Reichweite ihrer Sieger verbleibt, keiner ihrer Berührungen kann sie wirklich entkommen, während sie selbst hinter dem Gitter zu jeder Gebärde zwar fähig: doch mit jeder ihrer Gebärden auch deren Folgenlosigkeit erleben muß. Das Draußen entrückt durch die hauchdünne Schranke des Gitters ins Perfide einer Unerreichbarkeit. Die verfügbare Freiheit, ähnlich wie der freie, allzeit mögliche Aus-Blick durch die Stäbe des Gitters in das, was dahinterliegt, geraten zur höhnischen Simulation von Freiheit, die weder Schutz noch Befreiung erbringt, noch den Wert einer souveränen Kommunikation erlangt. Niemanden interessiert das Wissen der Ausgestellten, solange sie ausgestellt ist. Einzig gegenüber sich selbst vermögen die Gebärden der Besiegten real etwas auszurichten.

Wenn wir vergessen was wir wollen
Bleibt allein der Himmel
Und der Lehmkloß.

Das Gedicht „Als hätten wir nicht alle Wunden“ benennt von seiten der Eingeschloßnen mit seiner Anspielung auf die Friedhofszene im Hamlet die Typik der Leere dieser Form: Von der Kommunikation, die der Schleier ironisch wie souverän ermöglicht, bleibt ein instrumentalisiertes Wissen, das beständig über das besiegte Wissen triumphiert, das die Bilder und die Wirklichkeiten vertauscht. Der symbolische Todeshorizont ist zwar transparent, durch poetische Sprache aber auch unerreichbar geworden:

Was jetzt wird ist interessant.
Und da leb ich nicht mehr.

(„Das Gesicht“)

die Erotik aus dem Verlangen erstarrt zur grellen, schattenlosen Präsentation; das Licht der Aufklärung gewandelt zum Suchscheinwerfer und gerichtet auf die Suchende selbst.

HINTER DER PAPPFASSADE
Ein Nichts das wächst
Aus Allerwelt Kraft
Leben aus Möglichkeiten
Endlich Leben
Jedes für sich und nicht mehr auszugeben:

Die Wahrheit leise und unerträglich.

Wie die Spitzen eines Sterns schließen die vom Leitwort thematisierten Gitterstäbe auf dem Reflexionsterrain Stadt zum Käfig sich zusammen. Wohnung, Gefängnis, Ruine – Fabrik und Arbeit – Friedhof – das Draußen, die Straße – der Park, die Landschaft –: so die realen Orte, die nunmehr den Reflexionshorizont kreisförmig schließen, als Signifikate dem permanenten Schreiben die Richtung vorgeben. Die erste und die vierte Kategorie setzen quantitativ Schwerpunkte; Gedichte wie „Berlin O“, „Stationen“, „Unterm Schutt I, II“, aber auch „Nach dem Bombenangriff“, „Fallada 45“ sowie „Tag“, „Gammler“ und „Gehen“ weisen die vom Leitwort gegrabenen scharfkantigen Spuren im poetischen Material. – „Der Tag der neue ist / Auch nicht mehr frei.“
Die Besonderheit des Käfigs gegenüber dem Gitter, bei abnehmendem Grad an Simulation von Freiheit in seinem Innern, besteht in einer Steigerung des Eingeschlossenseins wie in der rundum möglichen taktilen Verfügbarkeit der Eingeschloßnen durch das Draußen. Die Entblößtheit wie die Permanenz des Zwangs zur Anwesenheit im schattenlosen Licht erreicht in der Funktion Käfig ihr Maximum. Das Leitwort dringt unverstellter aus der poetischen Sprache selber hervor und übernimmt hierin eine weitere Funktion: Das Leitwort erschafft den Übergang zum permanenten Test. Beispielhaft hierfür von Inge Müller jene Gedichte mit dem Titel „Liebe“ – darin, und allen gleich, aus ihrer Position durch das Käfiggitter hindurch der Gestus des ausgestreckten Arms, der taktil die andere Seite des Lebens zu befragen sucht, um herauszufinden, was dieses andere Leben dort an Leben denn zu bieten habe.

Gelernt hab ich
Was hab ich gelernt
Was nicht paßt wird entfernt
Was entfernt wird paßt.
Ich bitte mich zu entfernen.

Denn es liegt in der bösen Ironie solcher Test-Fragen, daß sie perfekt den wirklichen Fragen-Antwort-Zyklus imitieren: Die Antwort ist stets in der Frage schon enthalten, die Strecke Test – Referent induziert das Ultimatum, und die Rede-Strecke wird an genau der Stelle abgewürgt, wo die Frage als Signifikat sich aufdrängt. Die simulierte Distance zwischen Leitwort und Referent gerät innerhalb der Sprachfunktion des Käfigs zur (sprach-)taktischen Halluzination, so wie aus dieser Halluzination sprachlich Residuen entstehen, die, vom Leitwort (als dem Repräsentant des symbolischen Todes) unberührt, als verdrängter Rest, als ein Todessog aus der Sprache im Schweigen des Erstickens den wirklichen Tod evozieren.
Die Gewalttätigkeit des Käfigs mitsamt dem Repertoire der auf engstem Raum möglichen Sprech-Gebärden bringt hieraus für Sprache die Positivität des Käfigs zustande: die Gebärde der Übertretung. Sie erhält ihre Wahrheit nur im engen Zusammenspiel mit der dünnen Grenzlinie, die das Käfiggitter zeichnet. Grenze und Übertretung sind zwei Seiten ein und derselben Sache, sie definieren den Reflexionshorizont neu als jene Barriere des Unübertretbaren in dem Augenblick, wo der vom Leitwort erschaffene poetologische Zusammenhang durchstoßen wird.

EINMAL KOMMT
Von uns gesandt
Der vorgeahnte Mensch.
Protzt, ihr
Die ihr uns
Ins Straßenpflaster stampft.

Im Begriff des Übertretens selbst liegt sein Hauptmerkmal: die Flüchtigkeit, das Erschaffen von Etwas, das sein Bestandhaben aus dem Unbeständigen zieht, das Sprechen, das aus seinem sofortigen Verlöschen, aus dem Vergessen, bestehen muß, thematisiert im Gedicht „DIE UNAUFFÄLLIGEN“:

Sie machen sich nichts vor
Wenn kein Wort mehr hilft
Finden sie ein neues
Im Sterben
Planen sie
Das Leben.

Die Gebärde der Übertretung verwandelt die Elemente der Poesie „in sofort sich verkehrende Gewißheiten, in denen das Denken sich rasch behindert sieht, wenn es sie fassen will (…) es siedelt sie in einer Ungewißheit an“ (Foucault). Übertretung ist eine flüchtige Seinsform, eine nur im Augenblick ihres Stattfindens existente Gebärde, die, sobald sie sich fühlt, auch ihr Verlöschen spürt. Die Chiffrierung in Wörter kann nurmehr die leuchtende Erinnerung an ihre Flüchtigkeit markieren. Die Übertretung ist keine avantgardistische Aktion, weder Subversion noch dialektischer Widerspruch – sie ist vielmehr eine hilflos herrische Gebärde ohne Maß. Die Gebärde der Übertretung trägt ihren Wert, ihre Gültigkeit allein in sich. Wenn Sprechen, dem Verständnis der Aufklärung zufolge, Helligkeit aus der Vernunft bedeutet, so reißt die (Sprech-)Gebärde der Übertretung die Sprache in eine helle Ungewißheit einer (noch) nicht gewußten, also einer ungewissen Vernunft hinein.
Inge Müller hat eine Reihe von Gedichten geschrieben, die – mal versteckt, mal offen – die Tendenz einer Übertretung tragen; einer Übertretung des von ihr selbst entworfenen Leitwortes, das auf dem Weg als verlängertes Echo vom Horizont des Todes die Poesie Inge Müllers geschehen ließ: „NACH WOLKE IN HOSEN“ – „AUFWACHEN AUFSTEHEN“ – „WARUM SAGT IHR ICH SEH“ – „ARROGANZ“.
Sprache der Übertretung geschieht aus einem bestimmten Zugriff, aus einem spezifischen Blick auf die Welt. Darin zum einen erscheint der Tod nicht als ein vom Leben abgetrenntes Stadium, nicht als ein jenseitiges Reservat. Weiter begreift diese Sprache des Ungewissen die Welt weniger als eine so seiend zu erlebende Welt, sondern vielmehr als eine von ihrem Sosein zu erlösende Welt; und Tod darin als Leugnung des endgültigen Aus. Die Sprache der Übertretung formuliert sich in ihrer Maßlosigkeit als Bejahung dessen, was sie sein läßt: Das Unbegrenzte, das zum ersten Mal gesagt wird, der flüchtige Schein der Grenze, der als flüchtige Grenze das ungeteilte Sein bestimmt. So stellt neben der Ungewißheit der rastlose Zweifel sich ein, der Zweifel aus dem Geist, der nicht verneint.

Was ich gemacht hab?
Fragt irgendeinen
Ich hab gemacht was sie machen
Die gebückt unter Tränen lachen
Und vorm Tod nicht weinen
Sie haben keinen.

Das eigentlich Zerstörerische, das wirkliche Scheitern markiert im Ende der vom Leitwort verbliebne Rest. Das Leitwort konvergiert auf den Horizont des Unübertretbaren und bedeutet das Stürzen poetischen Schreibens ins Verhängnis eigenen Lebens, wie des eigenen Lebens in den freiwillig gesuchten Tod. Das verbleibende Terrain für poetische Sprache verengt zur hauchdünnen Linie einer Grenze, der bei Inge Müller nun ihrerseits die Übertretung gelten muß. Das verlängerte Echo prallt aus dem Werk heraus und gegen den Leib; ein Leib, der, ohne Worte am Ursprung seiner Worte sich selbst ausgeliefert, schweigend den Weg des Echos noch einmal nachvollziehen muß – dieser Rest ohne Wörter nährt sich vom Lebendigen. – Es ist ungewiß, wann Inge Müllers Schweigen begonnen hat; wahrscheinlich, daß es in immer größeren Intervallen sich niederließ zu ebenjenen Zeiten, als sie das Spielen auf dem Akkordeon, dem Instrument der Heimatlosen, in obsessiver Weise betrieben hat. Ebensowenig wie ein erstes, ist von ihr ein letztes Gedicht auszumachendas Werk ist verästelt in zahlloses Versuchen.

Vom Regen in die Traufen;
Die Welt muß laufen
Ins Ziel. Wohin?
Das Wunder am Seil:
Du vor du hinter mir
Gehn wir dahin.

Inge Müller starb, nach einer Reihe mißglückter Versuche, am 1. Juni 1966 durch eigene Hand. Körperliche Schmerzen, die seit Jahren Inge Müllers Leben zäsierten und die sie ertragen mußte, mögen den Gedanken an Tod ihr zumindest nahegelegt haben. Wer ihre Gedichte liest, wer bemerkt, was sie ihre Sprache tragen ließ und wohin Sprache sie führte, der wird zwar keine weiteren Gründe, dafür aber die Tiefe jenes Grundes entdecken, der ihr poetisches Schreiben aus einem grausamen Wissen ohne Zuflucht heraus entwarf. Denn ein Lyriker hat keine Wahl.

Reinhard Jirgl, neue deutsche literatur, Heft 508, Juli/August 1996

 

Fakten und Vermutungen zur Herausgeberin + IMDb + Kalliope

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Internet Archive + Kalliope

 

Heiner Müller spricht u.a. über seine Frau Inge Müller und liest sein Gedicht „gestern an einem sonnigen nachmittag“.

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