Jakob Hessing: Zu Paul Celans Gedicht „Psalm“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „Psalm“ aus Paul Celan: Die Niemandsrose. 

 

 

 

 

PAUL CELAN

Psalm

Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unsern Staub.
Niemand.

Gelobt seist du, Niemand.
Dir zulieb wollen
wir blühn.
Dir
entgegen.

Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die Niemandsrose.

Mit
dem Griffel seelenhell,
dem Staubfaden himmelswüst,
der Krone rot
vom Purpurwort, das wir sangen
über, o über
dem Dorn.

 

 

Unsterbliche Blume

„Gelobt seist du, Niemand.“ Wen spricht dieser Vers an, steht „Niemand“ hier für den Gottesnamen? Der Titel scheint das Gedicht in eine eindeutige Tradition zu stellen, aber gibt es sie noch?
Die Beter sprechen ihren Psalm wie einen Chor.

Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm.

Wird „Niemand“ als der Name eines unnennbaren Wesens großgeschrieben oder weil es den Satzanfang bildet und eigentlich als „niemand“ zu lesen ist, wie im zweiten Vers? Je nach der Antwort verändert sich der Sinn der Eingangszeile – knetet „Niemand“ uns „wieder aus Erde und Lehm“, so findet eine Neuschöpfung statt; ist es „niemand“, bleiben die Toten tot.
Dreimal wird das Wort in der ersten Strophe verwendet, aber Celan lässt die Frage offen. Erst in der vierten Zeile, dem Lobvers, scheint die Entscheidung für „Niemand“ zu fallen, doch das könnte schon ironisch gemeint sein, als spöttische Verbeugung der Beter vor einer Abwesenheit. In der zweiten Strophe rücken sie in den Mittelpunkt. „Dir zulieb wollen / wir blühn“, sagen sie.

Dir
entgegen.

Sie übernehmen die Initiative, im „entgegen“ deuten sie sogar einen für den Psalm ungewöhnlichen Widerspruch an, und von nun ab sprechen sie von sich selbst.
In der dritten Strophe geben sie sich zu erkennen, und die Zeilen bilden nicht nur das Zentrum des „Psalms“, sondern auch des gesamten Bandes, aus dem das Gedicht stammt und der nach ihrem Schlüsselwort Die Niemandsrose benannt ist. Ihre Selbstbeschreibung – „Ein Nichts / waren wir, sind wir, werden / wir bleiben, blühend“ – ist der Bibelszene am brennenden Dornbusch nachgeformt, in der Moses von Gott berufen wird. „Und er sah“, heißt es dort von Moses, „dass der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde. Da sprach er: Ich will hingehen und die wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt.“ (2. Mose 3, 1–3) Aus den Flammen verkündet ihm Gott die Errettung der Kinder Israel, Moses bittet um seinen Namen und erhält die berühmte Antwort:

Ich werde sein, der ich sein werde. (2. Mose 3, 13–14)

Gott gibt sich als der Ewige zu erkennen, und der brennende Busch, der nicht verzehrt wird, ist das Bild seiner Unsterblichkeit. Bei Celan vertauschen sich die Rollen: Hier sind es die Beter, die sich aus der Zeit herausheben. Zwar mögen sie tot sein wie leblose Erde und Lehm, doch auch sie, wie der Dornbusch, sind eine unsterbliche Pflanze, ewig auf ihre eigene, nichtige Weise – Ewige Juden vielleicht, die nicht sterben können, selbst wenn man sie ermordet hat.
Auf vielfache Weise kehrt Celans „Psalm“ die Offenbarungsszene am brennenden Dornbusch um. Die Bibel spricht von Gott als dem Ewigen, das Gedicht spricht sich dem Nie zu; der Ewige rettet die Kinder Israel, Niemand hat sie untergehen lassen; und nicht er, sondern die Beter geben sich am Ende zu erkennen: als „die Nichts-, die / Niemandsrose“, eine Pflanze aus der Leere, und zugleich der nach ihnen benannte Gedichtband – Celans Kanon auf der Grenze von Leben und Tod.
In der letzten Strophe wird die Rose dargestellt, und sie ist beides, Pflanze und Text. Ihr Griffel ist Schreibgerät des Dichters und Fortpflanzungsorgan der Blume; ihr Staubfaden ist Celans Todesmotiv aus der Eingangsstrophe und Lebensträger der Rose; ihre Krone ist das Prunkstück ihrer Schönheit und der Schmuck der heiligen Schriftrolle, in der die Verse Gottes stehen: „rot / vom Purpurwort“ – und zugleich von der blutenden Wunde, die der Dorn ihr geschlagen hat.
Die Tradition, die hier aufgerufen wird, ist in ihrer Gebrochenheit schon fast unkenntlich geworden, und man muss fragen, ob sie sich wirklich noch in diesen Texten findet oder nur in den Assoziationen, mit denen der Leser sie zu entschlüsseln sucht. Seine Gedichte, sagte Celan im „Meridian“, seiner Büchner-Preis-Rede, seien „Begegnungen, Wege einer Stimme zu einem wahrnehmenden Du“ – und dieses Du ist immer auch der Leser. „Psalm“ wendet sich an ihn, senkt ihm seine Zeilen wie Stablampen ins Dunkel der Erinnerung und fordert ihn auf, das Vergessene heraufzuholen, das dort auftaucht. Sag mir, so scheint das Gedicht zum Leser zu sagen, wie du mich verstehst – und ich sage dir, wer du bist.

Jakob Hessingaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierunddreißigster Band, Insel Verlag, 2011

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00