Jan-Christoph Hauschild zu Heiner Müllers Gedicht „Neujahrsbrief 1963“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Heiner Müllers Gedicht „Neujahrsbrief 1963“. –

 

 

 

 

HEINER MÜLLER

Neujahrsbrief 1963

Ein Jahr ist zu Ende gegangen mit Lärm
Von Glocken und Feuerwerkskörpern Die Zeitung
Die gebracht werden wird in einer Stunde
In deiner Stadt dir mir in meiner Stadt
Von einer alten Frau mit älteren Füßen
Drei Söhne verloren aber noch keine Zeitung
DAS REICH NEUES DEUTSCHLAND RHEINISCHER MERKUR
Wird ein besseres Jahr anzeigen wie üblich
Und das Schwarze in deiner Zeitung du weißt es
Ist das Weiße in meiner Zeitung wir wissen es
Immer neu wächst Gras über die Grenze
Und das Gras muß ausgerissen werden
Immer neu das über die Grenze wächst
Und der Stacheldraht muß gepflanzt werden
Immer neu mit dem genagelten Stiefel
ICH BIN DER STIEFEL DER DEN STACHELDRAHT PFLANZT
Vor meinem Fenster auf einem Parkbaum
Allein wie ein Betrunkener gegen Morgen
Lärmt flügelschlagend eine ältere Krähe
Die Straßenreiniger ALL OUR YESTERDAYS
Haben ihre Arbeit aufgenommen
Manche Dinge kommen wieder und manche nicht
Das Herz ist ein geräumiger Friedhof
IM PARK DIE PAPPELN SCHWIRRN
WER HAUST IN MEINER STIRN

 

Statt eines nie geschriebenen Briefes

Daß hier jemand vom einen ins andere Deutschland schreibt, das begreift man schnell, und daß die Mitteilung von Ost nach West geht, daran läßt die Person des Autors keinen Zweifel, denn Heiner Müller war Bürger der DDR von ihrer Gründung bis zu ihrer Auflösung. Das Gedicht berichtet von einer Grenze und damit von einer Trennung und zugleich von den Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten im geteilten Deutschland: Silvesterbräuche, Zeitungsleser auf beiden Seiten.
Im letzten Drittel schildert der Autor seine Schreibsituation: Durch das Fenster schaut er auf die Pappeln gegenüber, beobachtet eine vermenschlicht als „lärmend“ beschriebene „ältere Krähe“, womit der „alten Frau mit älteren Füßen“ ein geflügeltes Pendant gegeben ist. Beachtung finden auch die Straßenkehrer, die routinemäßig mit Entsorgung und Vernichtung beschäftigt sind (dem Gegenteil dessen, was die Arbeit des Dichters ausmacht, dem Bewahren und Erinnern in poetischer Sprache). Den Müll aus „ALL OUR YESTERDAYS“ (ein „Macbeth“-Zitat) fegen sie zusammen, wobei der Autor das profane Wort vermeidet – vielleicht, weil den Müller vom Müll nur eine Silbe trennt. Was sich dem professionellen Aufräumen, Reinigen und Vernichten entzieht, ist das Immaterielle. Der Dichter aber verspricht ihm ein ähnliches Schicksal, wenn er das menschliche „Herz“ als „geräumigen Friedhof“ bezeichnet. Kein Sammel- oder gar Tummelplatz der Gefühle also, sondern eine Leichenlagerstätte, der Mülldeponie wesensverwandt.
In der Mitte des Gedichts verläuft, passend, die Grenze. Sie ist zunächst die eineinhalb Jahre alte, mit Mauer, Stacheldraht und Selbstschußanlagen bewehrte Demarkationslinie zwischen den beiden Deutschlands. Deutungsoffen ist der Zwang, der das „Muß“ formuliert. Vielfach diskutiert findet sich in Müllers Werk der Widerspruch, eine bessere Zukunft mit den grausamen Methoden der Vergangenheit aufbauen zu müssen. Wäre es also die unter DDR-Intellektuellen anfangs verbreitete Zustimmung zum „antifaschistischen Bollwerk“, die hier aufscheint? Deutungsoffen auch wer „ICH BIN DER STIEFEL DER DEN STACHELDRAHT PFLANZT“ skandiert. Signalisieren die Versalien einen zum Vokabular passenden Widerhall etwa aus der sowjetischen Literatur? Oder spricht hier in selbstbewußten Majuskeln der Dichter, der sich militärisch mächtig träumt? Diese Deutung (welche die erste nicht ausschließt) bietet sich an, wenn die „Grenze“ zugleich eine gesuchte Distanz zwischen dem Ich und dem Du bezeichnet.
Wurden zu Beginn Gemeinsamkeiten aufgezählt, so wird am Schluß das Trennende betont, der Fluß der Gedanken und Assoziationen durch das gereimte Verspaar zu einem gewaltsamen Ende gebracht. Nicht die an Schelling oder Rimbaud anknüpfende philosophische Frage, wer oder was in mir denkt, wird gestellt, sondern, in ihrer Schlichtheit an Rumpelstilzchens Frage „Wie heiß ich?“ gemahnend: Wen habe ich im Kopf?
Park und Pappeln sind das Vexierbild, in dem er sich versteckt: Es ist der Papa, der in des Autors Stirn haust (der Stamm des Verbs läßt an das Vaterhaus denken), jener Vater, der der Familie als politischer „Verbrecher“ gewaltsam für ein Dreivierteljahr entzogen wurde, als am 9. März 1933 im sächsischen Eppendorf fünfzehn Funktionäre der Linksparteien unter dem Verdacht staatsfeindlicher Betätigung in sogenannte Schutzhaft genommen wurden, darunter auch der Gemeindesekretär Kurt Müller, was bei seinem damals vierjährigen Sohn Heiner einen „Grundschock“ auslöste.
Als Kurt Müller aus politischen Gründen Anfang 1951 nach Westdeutschland flüchtete, vermochte sein Sohn Heiner dies zunächst nur als politische Fehlentscheidung gegen die DDR (und gegen sich) zu deuten; daß der Vater „sonst im Zuchthaus gelandet“ wäre, ist eine spätere Erkenntnis. Wiedergesehen haben sich Vater und Sohn erst 1956 in Reutlingen; zu einer regelmäßigen Kommunikation kam es nicht mehr. In einem Prosafragment von 1977 räumte Müller ein, daß er seinem Vater einen Brief schuldig geblieben sei, „einen Neujahrsbrief. Ich habe angefangen ihn zu schreiben, zwischen zwei Ehen an einem Neujahrsmorgen auf einem Balkon in Berlin, 3/4/5 Jahre nach dem Weggang meines Vaters aus dem Staat, der seine Hoffnung und Enttäuschung war. Drei Jahre lang habe ich angefangen und aufgehört, den Neujahrsbrief zu schreiben.“ Diesen nie geschriebenen Brief hat das Gedicht aus dem Jahr 1963 ersetzt.

Jan-Christoph Hauschild, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg).: Frankfurter Anthologie. Zweiunddreißigster Band, Insel Verlag, 2008

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