Jan Knopf: Zu Rainer Maria Rilke Gedicht „Früher, wie oft“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilke Gedicht „Früher, wie oft“ aus Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. 6 Bände. Band 2 Gedichte. Teil 2: Verstreute und nachgelassene Gedichte aus den Jahren 1906–1926. Gedichte in französischer Sprache. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Früher, wie oft

Früher, wie oft, blieben wir, Stern in Stern,
wenn aus dem Sternbild der freiste,
jener Sprech-Stern hervortrat und rief.
Stern in Stern staunten wir,
Er, der Sprecher des Stern-Bilds,
ich, meines Lebens Mund
Nebenstern meines Augs.
Und die Nacht, wie gewährte sie uns
die durchwachte Verständigung.

 

Kosmischer Dialog

Von Martin Heidegger stammen die Sätze:

Eigentlich spricht die Sprache, nicht der Mensch. Der Mensch spricht erst, insofern er jeweils der Sprache ent-spricht.

Entsprechungen sind wohl auch der Schlüssel zu diesen rätselhaften Versen, die Rilke Anfang Februar 1926 in Val-Mont geschrieben hat – ein spätes Gedicht also und ein Rückblick dazu. Alle Verben stehen im Präteritum, und der frühere Zustand einer offenbar innigen Gemeinschaft wird emphatisch („wie oft“, wiederholt im vorletzten Vers) beschworen. „Ich“ und „Er“ bilden diese Gemeinschaft. Das „Ich“ als „meines Lebens Mund“ ist der irdische das „Er“ der kosmische Partner. Früher waren sie im Sternbild vereinigt, oder sie haben, nehme ich das „blieben“ des ersten Verses beim Wort, eine gemeinsame Bleibe am Himmel gehabt. Möglich war dies durch Projektion: Indem sich das Ich an den Sternenhimmel projiziert, kann es mit dem kosmischen Gebilde eine Einheit im Sternbild werden. So hat das vorkantsche Weltbild noch funktioniert, ehe der Mensch endgültig aus dem Himmel vertrieben wurde. Auch Goethe war noch davon überzeugt, daß nur über eine wechselseitige Verbindung von Subjekt und Objekt Erkenntnis möglich sei, daß der Mensch nur dann von der ihn umgebenden Natur eine Antwort erhält, wenn er ihr ent-spricht.
Nicht ohne Grund ist Rilkes Gedicht ein Gedicht über Sprache und Verständigung. Nähert sich der Mensch angemessen dem gestirnten Himmel über ihm, so bildet er sich nicht nur in ihn hinein, er erhält auch die kosmische Antwort, indem der „Sprech-Stern“ hervortritt und dem Menschen zuruft. Verwundert nehmen beide dann wahr, daß solche Verständigung möglich ist, wobei das lyrische Ich nicht vergißt, daß es doppelt bestimmt ist. Als Mund des Lebens bleibt es dem Irdischen verhaftet, als Nebenstern seines Auges jedoch vermag es am Kosmischen teilzuhaben, wenn es – auch da sind Goethesche Anklänge zu hören – in richtiger Weise nach den Sternen blickt:

Wär nicht das Auge sonnenhaft
Die Sonne könnt’ es nicht erblicken.

Freilich, während Goethe darin eine grundsätzliche Maxime von Erkenntnis sah, bildet der kosmische Dialog bei Rilke bereits die Ausnahme. Er ist nur bei Nacht möglich, er geht davon aus, daß das „normale“ Leben und die „normale“ Verständigung (zwischen den Menschen) ausgesetzt sind. Die Nacht, während das Leben ruht, muß durchwacht werden; nur so funktioniert die Verständigung.
Worüber sich Mensch und Stern verständigen, sagen die Verse nicht. Zu schließen ist aus dem Attribut „der freiste“, daß es sich um einen Loslösungsprozeß handelt. Wenn der Sprech-Stern das Ich anruft, ist das „Gerede“, um nochmals Heidegger zu bemühen, des Tages, des Alltags, außer Kraft gesetzt. Hier findet eine metaphysische Verständigung statt, die das Ich vom Mund des Lebens für die Zeit der Nacht befreit und eine prinzipiell andere Kommunikation, in der sich Mensch und Stern entsprechen, ermöglicht.
Das Gedicht, das zunächst so rätselhaft erscheint, vollzieht sprachlich den Übergang von der „Normalsprache“ zur „kosmischen Sprache“. Es verwendet kein unübliches oder besonders „schweres“ Wort, und dennoch mutet alles fremd an. Rilke überführt die „normale“ Sprache in eine Meta-Sprache. Es geht nicht darum, „etwas“ mitzuteilen, sondern die Besonderheit, das „Wie“ der „anderen“ Kommunikation zur Sprache zu bringen. Das „Sternbild“ ist kein wirklich zu beobachtendes, sondern lediglich ein sprachliches Bild des Sterns (deshalb auch die Bindestrich-Komposita). Es ist die Sprache, die die Bilder schafft und die „Welt“ bildet, der keine empirische Wirklichkeit mehr entspricht.
Dieser kosmische Dialog wird jedoch nur mehr erinnert. Der Rückblick und die Emphase besagen indirekt: diese Verständigung ist uns Nachgeborenen für immer entzogen. Einen, wenn auch geringen Anteil an ihr haben wir allerdings noch: wenn wir das Gedicht verstehen.

Jan Knopfaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunzehnter Band, Insel Verlag, 1996

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