Jiří Gruša: Der Babylonwald

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jiří Gruša: Der Babylonwald

Gruša-Der Babylonwald

KAPITÄN NEMO

Ein fremdstern
als axthieb in dem tisch der kneipe
mit blühenden fischen hinter dem nachtfenster
und du
du tödlich erstaunt
über das deutschwort
zeitmesser

 

 

 

Neun ungenützte Geleitschiffe für einen Freund

Wie jedem Leser in einem wirklichen Buch ne spezielle Botschaft (Eu Gott! ich hör immer Botschaft!) eingebaut ist, so steckt auch für mich ne Message in diesem und ich kann sie Tag für Tag lesen. Werde mich hüten, darüber länger zu sprechen.

*

Er muß ja ein Liebling der Götter sein gemessen am zugewiesenen Leid, oder den Freuden. Wär er selber ein Gott wär es noch besser. Denn sie haben kein Herz und lächeln beim Anblick des Sarges vom eigenen Kind zum Beispiel. Oder Götter sind wahnsinnige Götter. O Gott schick mir Wahnsinn daß ich ein Leben lebe. So will ich alles betrachten.

*

Das Panorama das sich beim Lesen bewegt führt gebieterische Berge heran. Oft grausam geduldig beugen sie sich, einen Vers für Kabeš zu finden. Während man sich selber mit Kaffeesatz bescheidet.

*

Der König der Drosseln ein Bussard.

*

Alles ist wahr in diesen Gedichten. Ein Abendrot, welches den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes beleuchtet. Der Wald bei Ensko heißt im wirklichen Leben schon Babylon. Gruša kam nach Babylon und mußte in die andere Sprache rein. Es hat ihn fast übern Weltrand geblasen. Neu geboren mußte er werden. Böses Getier wie von Kafka geschildert, aber auch die böhmischen Hunde und Katzen an seiner Straße.

*

Das Buch ist Smetanas Moldau vergleichbar. Streckenweis heißt der Fluß Unheil. Reicht in den Da-capo-Frühling von Prag. Nun kommen die Dichter wie überwinterte Fliegen hervor.

*

Ein langes böhmisches Lied in vielen Strophen.

*

Babylonwald gibt verschiedenen Sinn. Rückt uns die Heimat Grušas vor Augen, den Wald da bei Ensko, bedeutet aber auch Sprachenverwirrung. Die Errettung des Dichters am Ufer der anderen Sprache ist in den Gedichten nun eingeschlossen wie ein besonderes sonst kaum zu bewahrendes Schimmern. Die vorübergehende Sprachlosigkeit aus vielen gleichzeitigen Gründen klingt mit. Die Grammatik der ersten Sprache lebt in der zweiten eine Weile noch fort. Dies gibtn eigenartigen schmerzlichen herzklopfenden Reiz. Man sieht den Gruša auf Rasiermessern gehn.

*

Seine Erfahrungen mit dem realen Sozialismus störten hier Illusionisten. Habe es mehrfach erlebt und angesehen. The Times They Are Changing seit sein Freund Havel ihn zum Botschafter machte. Weil er kaum die windigen Bäume aus seinen Gedichten vergißt und es nur Glühbirnen sind was so irr leuchtet.

Sarah Kirsch, Nachwort

 

In der Tschechoslowakei ist Jiři Gruša,

1938 in Pardubice geboren, längst ein bekannter und geschätzter Autor. Er gehört zu jenen Künstlern im engsten Kreis um Václav Havel, die früher für ihre Bücher verfolgt wurden und jetzt die Politik ihres Landes bestimmen. Heute ist er erster Botschafter der CSFR in Bonn – früher hatte er in der Tschechoslowakei Publikationsverbot; 1978 wurde er wegen seines Romans Der 16. Fragebogen verhaftet, 1980 zur Ausreise gezwungen und ein Jahr später ausgebürgert. Seitdem lebt er bei Bonn. Innherhalb seiner literarischen Arbeit, Jiři Gruša veröffentlichte Prosa und Lyrik, nehmen seine neuen Gedichte einen besonderen Platz ein: Sie sind auf Deutsch geschrieben, in der Sprache des früheren Exils, die hier zu fast erschreckender Genauigkeit findet. Wörter und Sätze verlieren ihren allzu vertrauten Sinn, fallen aus der Ordnung und setzen sich wie zu einer neuen, poetischen Sprache zusammen.

Deutsche Verlags-Anstalt, 1991

 

Böhmische Lieder auf Deutsch gesungen

Mythen und Märchen erzählen seit altersher die Legenden der Ausgesetzten, die sich im Wald verirren oder im Labyrinth den Dämonen begegnen. Diese Geschichten geschehen gestern wie heute, und ihr Ausgang kann – wie seit je – so oder so sein.
Der Dichter Jiři Gruša war ein Ausgesetzter, ein Verfemter, der aus seiner böhmischen Heimat vertrieben wurde, den die tschechischen Despoten 1980 wegen seines Romans Der 16. Fragebogen ins Exil verbannten. Seitdem lebt er in Deutschland in einer für ihn fremden Sprache.
Mag der Musiker und der Maler noch über ein Medium verfügen, das überall verstanden wird, und mögen beide mit ihren Mitteln noch einen Zipfel Boden finden, auf dem sich atmen läßt im Exil. Anders dagegen der Dichter: er ist an seine Muttersprache gebunden. Und es gibt Beispiele genug, wo Dichter im Exil an der fremden Sprache zerbrachen. Der Babylonwald heißt eine Sammlung von dreiundsechzig Gedichten, die Jiři Gruša jetzt vorlegt. Die Gedichte sind auf Deutsch geschrieben.

Man friert sie ein
die sprache
eben aufgeblüht
noch halbwegs in der kehle
man läßt sie gut bereifen
und knetet sie zum zapfen
etwa mannshoch
dann drückt man sie zurück

bis blut und scheiß
darunter
wörtchen für wörtchen.

Jiři Gruša nennt dieses Gedicht „Das Rein-mit-der-Sprache-Spiel“ mit dem Untertitel „Böhmische Kochrezepte“.

Diese Verse lassen ahnen, mit welchen Mühen und Ängsten der Dichter eindrang in das fremde Sprachbabylon. „Es hat ihn fast übern Weltrand geblasen“, sagt Sarah Kirsch in ihrem Nachwort. Oder an anderer Stelle das Gedicht „Kapitän Nemo“:

Ein Fremdstern
als axthieb in dem tisch der kneipe
mit blühenden fischen hinter dem nachtfenster
und du
du tödlich erstaunt
über das deutschwort
z e i t m e s s e r .

Jiři Grušas Verse entlarven, und sie sind zugleich ein Geschenk für die deutsche Sprache: die semantischen Eigenheiten des Tschechischen werden eingeschlossen in seiner auf Deutsch gedichteten Poesie wie Libellenflügel im Bernstein. Allein diese Facette der Gedichte macht den Babylonwald bereits zu einem wichtigen Buch.

… und dann das
hüpfen
von stein zu stein
– die hoffnung
am längsten

zwischen den
sprüngen.

Das sind poetische Fühler, die einen begehbaren Pfad weisen vorbei an den Abgründen des Alltags.
Was macht den Zauber dieser Poesie aus, dieser Verse, in denen altertümliche Wörter zuhaus sind: wie Forken und Galoschen, Mohnkuchen und Flaschenpostboten. Wo ein Mensch „überwintert mit einem / hustenden Kater im Bett…“, und wo ein Gedicht den böhmischen Hunden und Katzen gewidmet wird, dort heißt es am Schluß:

… fortmiaut und hingebellt
seid ihr nützlich zu pulver gemacht
in jenem praktischen Prag
mit streugut aus asche.

Grušas Gedichte erweisen sich als Rettungsinseln in einer verstümmelten Welt, und zuweilen sind seine böhmischen Lieder auf Deutsch gesungen voll tröstender Melodik:

Zwei raben
zwei rappen
wir fahren nach Ensko
ein freund läßt mich wissen
da wäre was los
der first meines hauses
läßt eicheln sprießen
firnisse aufgeschäumt
schlagen die korken aus flaschen

Jiři Gruša arbeitet heute als Botschafter seines Landes in Bonn. Aber hier ist vom Lyriker die Rede, der mit seiner Poesie die deutsche Literatur bereichert, und dessen Gedichte Hegel widerlegen, der prophezeit, daß irgendwann die Wissenschaft den Dichter ersetze.

Georg Oswald Cott, die horen, Heft 166, 2. Quartal 1992

„Den Habicht zähmen“

Andere die von Babylon reden, müssen dem uralten Motiv erst kunstvoll Sinntiefe und Aktualität verleihen. Jiří Gruša kann von Babylon als Wirklichkeit sprechen: vom „Babylonwald“, der bei Ensko liegt, in der böhmischen Heimat des Autors. Und er, der tschechische Dichter, tut das auf deutsch – in der Sprache seines vorübergehenden Exils. Auch dafür steht Babylon. Man muß daran erinnern, wie Gruša in dieses Exil kam.
Jiří Gruša gehörte nach dem Prager Frühling zu den Autoren, die zunehmend Repressalien ausgesetzt waren. Zusammen mit Pavel Kohout, Václav Havel und Ludvik Vaculik organisierte er die Edice Petlice, in der die verbotenen Autoren erschienen. 1973 wurde er wegen seines Romans Der 16. Fragebogen verhaftet, jedoch aufgrund westlicher Proteste freigelassen. Dann wurde er zur Ausreise genötigt und 1981 ausgebürgert. Seitdem lebt Gruša in Deutschland, in Meckenheim. 1990 machte ihn die neue Republik zu ihrem ersten Botschafter in Bonn.
1988, also noch vor der befreienden Wende im Ostblock, sind die Gedichte vom Babylonwald geschrieben. Gruša schrieb sie notgedrungen unter einer pessimistischen Langzeitperspektive, als „schwarzsehn über lichtjahre“. Der Gebrauch der anderen Sprache mag ihm das erleichtert haben. Nachdem sich die Verhältnisse so glücklich gewandelt haben, entfällt der aktuelle Anlaß für die Gedichte; doch das tut ihrer poetischen Substanz nicht den geringsten Abbruch.
Gruša ist ein Poet, der sein Handwerk mit beträchtlicher Grazie ausübt, indem er böhmische Melancholie in kleine leichte Melodien umsetzt:

mein einziges handwerk:
das menetekel
in tülitüli

Die vogelhafte Melodie, die er in seinen knappen reimlosen Versen anschlägt, ist ein Gegenzauber gegen jene Töne, die zu Zeiten aus dem heimischen Babylonwald kommen: gegen die „unzaghaft“ deutlichen Drohungen in unbekannten Sprachen. Gruša hat in diesem Wald nicht bloß das Fürchten gelernt. Er weiß sich auch dagegen zu helfen: durch poetische Gegenwehr.
Eines der intensivsten Stücke ist „Der Garten“. Da droht das Ich dem Habicht – „das schwarz der flügel / war boshaft“ – mit der Hand, und es geschieht ein merkwürdiges Wunder:

er ließ sich nieder
auf ihr
als wäre sie
– so nackt –
eines falkners

Eine rätselvolle Allegorie. Darf man deuten, daß es nur der ungeschützten Hand gelingt, den Raubvogel zu zähmen? Ist es erlaubt, diese Deutung auch aufs Politische zu übertragen?
Grušas Verse laden zu solchen Fragen ein. Ihre Knappheit und Vieldeutigkeit provoziert die Reflexion. Sie nutzen die Sprache als genauen Indikator der Zustände. Und daher erschreckt (hoffentlich) den deutschen Leser, was Gruša erschreckte:

das deutschwort
zeitmesser

Wem so die Worte wie Messer durchs Bewußtsein gehen, der sieht in und hinter ihnen die Komplexität aller Wirklichkeit. In „Aufenthaltserlaubnis“ erscheint der Dichter als jemand, der als „Sockenfuß“ auf leisen Sohlen durch ein wohlriechendes Haus geht und schließlich in einer Diele anlangt „mit übersetzbar / gurrenden tauben“. Das Gedicht ist weit mehr als das erwartete Stück Bürokratie-Kritik – es demonstriert die Freiheit der Imagination, die „diebische“ Freude an der Überlistung, den Genuß an einer Wirklichkeit, die jeder Verfügung entzogen bleibt.
Natürlich sind diese Gedichte von 1988 auch Übungen in Geduld; und mußten es sein. Wie sonst konnte Gruša als Dichter und Böhme überstehen? Ihm ist die Poesie nicht Vorschein einer Utopie, sondern die Hoffnung auf eine wiederzugewinnende Lebensmöglichkeit. Er schweigt sie gleichsam herbei und benutzt dazu, paradox genug, die deutschen Worte. Nicht als Ersatz, sondern als Medium; und das ist allemal auch ein Kompliment. Der Dichter schweigt sich „häuser herbei / wohnleiber / dachbäume / freilichtmuseen / der langmut“. Es ist ein „Leerspiel“, aber erfolgreich. Es half überstehen.
Sarah Kirsch deutet das in ihrem Vorwort als „Errettung des Dichters am Ufer der anderen Sprache“. Sie weist darauf hin, daß die Grammatik der ersten Sprache in der zweiten noch fortlebt:

Dies gibtn eigenartigen schmerzlichen herzklopfenden Reiz. Man sieht den Gruša auf Rasiermessern gehn.

Aber erfolgreich geht er, ohne abzustürzen.
Ist der Dichter ein Botschafter? Er zeigt, daß man mit Sprache das Exil überlebt, mehr noch: den Sieg der Poesie über die Misere. Der Dichter, der Botschafter ist, überbringt uns mehr als eine Botschaft – ein Geschenk an die deutsche Sprache.

Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.4.1991

 

Ippendorf am Meer

– Der tschechoslowakische Schriftsteller spielt Botschafter, so gut es geht. –

Am Ende der Straße, auf einem Hügel zwischen Bonner Vorortgärten steht die tschechoslowakische Botschaft. Ein gigantischer, pißgelber Kasten, beinahe fensterlos: Ostblock in Ippendorf.
Seit sieben Monaten, von morgens um acht bis abends um zehn, arbeitet hier der Dichter Jiři Gruša (sprich: Jirschi Gruscha) als Botschafter der ČSFR. In der Eingangshalle hängt Václav Havel im Silberrahmen über dem Sofa und sieht dort aus wie eine Nachtigall in einer Kuckucksuhr. Ich warte unter dem Photo, sehe mir die Glasmalerei auf den Fenstern an, rote Pferde, säugende Mütter, flötende Knaben, die rote Sonne, die auf- und untergeht. Ich zähle die Lampen im Empfangssaal. Bei 4.012 kommt der Botschafter. Wozu braucht man so viel Licht?
Jiři Gruša ist klein, steckt in einem steifen Anzug und hat müde Augen. In seinem Gedichtband Babylonwald steht:

Müde
legt sich das tagtier
auf deine Brust
müde sagt es
ich brauch dich

Das hat er vor drei Jahren geschrieben, als hätte er von seinem künftigen Leben unter 4.000 tschechischen Botschaftsleuchtern schon etwas geahnt.
Vor elf Jahren wurde er in der Tschechoslowakei wegen seiner Romane erst ins Gefängnis gesperrt, dann ausgebürgert, dann vergessen. Zehn Jahre lang lebte er zwischen Bonner Vorortgärten in einem Reihenhäuschen. Den Posten hat er nicht gewollt. Er spielt Botschafter, so gut es geht. Zum Leben braucht er den Botschafterposten nicht. Denn zum Leben, sagt Jiři Gruša, braucht man nicht viel. Heute lebt er in der Botschaftsresidenz, hat ein Wohnzimmer mit künstlichen Wasserspielen, einen eigenen kleinen Wald, einen Koch, einen Chauffeur, ein holzgetäfeltes Arbeitszimmer. „Das ist eine kitschige Geschichte. Schlechte Literatur, dieser Aufstieg vom Häftling zum Botschafter“, sagt Gruša zur Begrüßung. Ein tschechisches Rührstück.
Die tschechischen Dichter wollten dieses Stück nicht aufführen, behauptet er. Denn Macht und Literatur gehören nicht zusammen. Der „engagierte Schriftsteller“ ist für ihn ein deutsches Ungetüm. Amüsiert spricht er „von unseren deutschen Kollegen, die beinahe jede Woche versuchen, die Welt zu missionieren. Grass zum Beispiel. Jeder weiß schon: Grass sagt wieder was Kritisches. Und keiner hört hin. Durch diese engagierten Erklärungen zu jeder Kleinigkeit bringt sich der Schriftsteller um seine eigentliche Macht.“ Die Dichter sind nicht das bessere Gewissen, nur weil sie Dichter sind. Sie sind auch nicht die besseren Politiker. Aber es war einfach niemand mehr da, der das Geschäft übernahmen konnte. Nur wegen „dieser Dürre“ sind die Dichter in Prag an der Macht.
Die Literatur war die einzige ernst zu nehmende Opposition. Der Traum vom Dichter als gutem Menschen ist für Gruša deutsches Hygienedenken:

In Deutschland unterscheidet man, seit Goethe tot ist, immer zwischen den Dichtern und den Arschlöchern. Aber wir sind auch die Arschlöcher.

Der gute Mensch aus dem Osten, verfolgt, gejagt im Kampf um die Verbesserung der Welt… „als ob das irgendein Vorteil wäre in diesem Hundeleben, wo alles auf den Hund kommt, wo alles, was nur ein wenig lebendiger ist, bloß um so mehr verprügelt wird“, schrieb er vor Jahren in seinem Roman Janinka. Heute sagt er nur:

Alles ist immer schon kontaminiert.

Die tschechischen Literaten, die heute in der Prager Regierung sitzen – Präsident Havel, Botschafter Gruša, Minister Uhde, Präsidentenberaterin Kriseovä, Außenminister Dienstbier –, haben sich schon in den sechziger Jahren auf der Universität kennengelernt („da habt ihr hier noch Ho Chi Minh auf den Straßen gerufen“) und haben wechselseitig füreinander protestiert, wenn das Regime wieder einen von ihnen ins Gefängnis warf. Zuletzt protestierte Gruša 1989 vor der Ippendorfer Festung gegen Havels Verhaftung. Eine Photographie davon – eine Handvoll Männer in dicken Wintermänteln mit großen Havel-Photos in den Händen – bewahrt er in einer Schublade seines Botschafterschreibtischs auf.
Jiři Grusă wurde 1980 wegen seines Romans Der 16. Fragebogen verhaftet und bald darauf ausgebürgert. Das versehe, wer ein Tscheche ist. Die Genossen müssen fabelhafte Leser gewesen sein. Denn in diesem versponnenen Roman fabuliert der Held schon aus dem Mutterbauch und noch im Tode über das Feuchte in den Frauen, über die richtige Flugtechnik für Menschenkörper („der Mensch wird nicht wie zum Beispiel die Vögel liegend fliegen, sondern stehend“) und über die verschiedenen Entfernungen zwischen After- und Geschlechtsöffnung bei männlichen und weiblichen Katzen. Die Vorlage für den Roman war ein in der Tschechoslowakei allgemein bekannter Fragebogen, auf den Gruša so böhmisch gewissenhaft antwortete, daß die Fragen unter der Last der Antworten zusammenbrachen. In der Tschechoslowakei ist das Buch heute ein Bestseller. In der Bundesrepublik wird es kaum beachtet und ist inzwischen vergriffen (Ullstein legt es demnächst neu auf).
Das war die doppelte Ungerechtigkeit für die unterdrückten Schriftsteller: Sie wurden nur von den Unterdrückten verstanden. Sie verrätselten ihre Bücher nicht nur aus rabulistischer Begeisterung, sondern auch unter dem Druck des Zensors. Sie experimentierten aus artistischem Übermut und aus der Wut gegen den mausgrauen Biedersinn dieser „Leute mit den lackierten Augen“. Sie waren immer in der Falle.
Erst jetzt, so sieht es Gruša, nach dem auf deutsch und in Deutschland geschriebenen Gedichtband Babylonwald, „kann niemand mehr sagen, ich sei ein unstrukturierter Mann“. Erst jetzt hat sich die Ostfalle endgültig geöffnet.
Doch geht es auch in diesen Gedichten nur um Böhmen am Meer. Das muß ein Ort sein, den die Vögel lieben. Ein Ort, an dem böhmisches Flügelgetier durch die Lüfte fliegt, über den Wassern schwebt und da lebt, wo der Mensch leben sollte:

zwischen den Sprüngen.

In den Gedichten heißt der Ort, an dem man glücklich ist, „Enzko“. Im Leben hieß er Rovenzko und hängt als Stahlstich im Büro des Botschafters. „Babylonwald“ steht unter dem Stich und „Ansicht der Ruine Troska“. Zwei Männer am Feldrand starren auf zerfallene Mauern. Jiři Gruša hatte in Rovenzko einmal ein Sommerhäuschen. In seinem Arbeitszimmer leben die böhmischen Wälder heute nur noch in der hölzernen Wandverkleidung. Und in einer Kinderzeichnung an der Wand: Ein Mensch läuft da mit ausgebreiteten Armen in größter (in fliegender?) Eile durch einen Palmenwald. Der Rest ist Botschaft. Ein „Who’s who?“, ein Wörterbuch, ein Gummibaum. Die Fenster gehen auf den Innenhof. Gegenüber lagen die Büros der Stasi. Zwischen Botschafterfenster und Stasi-Fenstern verläuft noch immer eine Trennwand aus undurchsichtigem Milchglas.
Jiři Gruša hat seine Diplomaten fast vollständig ausgetauscht. Aber noch während unseres Gesprächs erhält er einen Anruf aus Prag. Ein Mitarbeiter wird als Stasi-Mann enttarnt.

Die Akten wurden bei uns nicht vernichtet. Es sind nur zu viele. Man kann gar nicht schnell genug lesen.

Für die deutsche Sanftmut im Umgang mit alten Funktionären und Mitläufern hat Gruša kein Verständnis:

Können Sie sich vorstellen, daß bei uns jemand darüber diskutiert, ob der alte Schriftstellerverband erhalten bleibt?

Die Schriftsteller in der ehemaligen DDR waren für Gruša keine Opposition.

Vielleicht waren sie nicht direkt korrupt. Aber Opposition sieht ganz anders aus. Es gibt doch nichts Bequemeres, als in einem Miststaat im Schriftstellerverband das Mistkäferchen zu spielen. Und diese Leute werden bereits jetzt entschuldigt.

Das deutsche Geheul über das Ende des Sozialismus ist ihm ein Rätsel. Der Sozialismus ist für Gruša ein Verbrechen und kein „verlorener Sohn“ einer großen Idee. Von der alten DDR, von der ČSSR bleibt nichts übrig. Nur verlorene Zeit, gestohlenes Leben, Leid, Terror – und die „Kriminellen, die in fünf Jahren wieder salonfähig werden“.
Unter der Liebe der deutschen Intellektuellen zu leeren Begriffen und theologischen Ideen hat der Dissident Gruša zehn Jahre lang gelitten. Man hat ihn für einen Rechten gehalten, ihn, wie er sagt, in „eine beschissene Ecke des deutschen Manichäismus“ gestellt, weil er nicht das Lied von der schlechten Praxis einer guten Idee mitsingen wollte, das die westdeutsche Linke von den Dissidenten erwartete und das seine ostdeutschen Kollegen bereitwillig zur Gitarre sangen.

Hätte ich gesagt, ich scheiterte daran, daß ich den echten Sozialismus wollte, den es bei uns nicht gibt, hätte etwas über mich in Ihrer Zeitung gestanden.

Er hat es nicht gesagt, obwohl es ihm „aus Überlebensgründen schon zwei- oder dreimal auf der Zunge lag“. Aber warum den deutschen Journalisten nachgeben, wenn er den tschechischen Funktionären gerade widerstanden hat? Jiři Gruša wettert:

Diese deutsche Spinnerei, dieser Chiliasmus kombiniert mit Konformismus ist der Untergang für die Menschheit. Es ist der deutsche Nominalismus, an dem die Welt zugrunde geht.

So absurde Begriffe wie „Einsicht in die Notwendigkeit“, die hegelianische Vorstellung von Freiheit, sind für das Elend im 20. Jahrhundert verantwortlich. Besonders für die jüngste Überprüfung einer abstrakten deutschen Idee am lebenden Objekt: für den Sozialismus.
Kaum haben die Deutschen das begriffen, machen sie in den Augen der Tschechen schon den nächsten Fehler: Berlin. Berlin ist für sie eine Stadt, die seit 1933 ununterbrochen unter einer Diktatur gelebt hat.

Es ist die Stadt, in der sich ein Hermann Kant tatsächlich noch rechtfertigen darf.

Das Hauptstadtdenken ist für Gruša nur eine neue Variante des deutschen Nominalismus, eine Idee des 19. Jahrhunderts, die Diktatur der Urbanität. Bonn, findet der Bonner Botschafter, hat mit dem alten Mitteleuropa viel mehr zu tun. Aachen, Frankreich, der Rhein… Berlin hat Mitteleuropa zugrunde gerichtet.
Seine Idee für die Verbesserung von Mitteleuropa ist einfach: endlich keine Ideen mehr haben. Keine Ideen, für die man einen kleinen Mann wie Gruša aus dem Bett herausziehen und mitnehmen kann.

Die Frage ist immer dieselbe. Die Antwort ist immer konkret. Sie heißt: Jeder stirbt für sich allein.

Eine Utopie ist dazu nicht nötig.

Das Leben ist kurz und endet in Böhmen am Meer.

Oder in Bonn.

Iris Radisch, Die Zeit, 2.8.1991

Im Gespräch mit Jiří Gruša

Das nachfolgende Gespräch, der Logik des Mediums Schrift folgend, behutsam lektoriert und um zwei Passagen gekürzt, wurde am 23. März 2003 in Ö1 in der Reihe Im Gespräch ausgestrahlt und ist selbst nicht nur ein auto- und heterobiographisches Porträt, sondern auch ein historisches Dokument, das die Denkweise des Intellektuellen Jiří Gruša, aber auch die Atmosphäre und das Ensemble seiner vielfaltigen Erfahrungen wiedergibt. Unmittelbare aktuelle Hintergründe bildeten der Irak-Krieg, der nahe Beitritt der zentraleuropäischen Länder zur Europäischen Union, die verheerende Niederlage der FPÖ bei den Nationalratswahlen, die Wahl vom Václav Klaus zum tschechischen Präsidenten, die anhaltenden Vergangenheitsdebatten in beiden Ländern, Österreich und Tschechien.
Ich hatte Jiří Gruša unmittelbar nach meiner Rückkehr aus Großbritannien persönlich kennen und schätzen gelernt. Durch meine Forschungsprojekte zur Kulturgeschichte der Habsburger Monarchie und meine Studie über die Kultur und ihre Narrative ergaben sich auch sogleich intellektuelle Anknüpfungspunkte. Ich bin selten einem Menschen des öffentlichen Lebens begegnet, der so direkt auf die Zusendung eines Buches reagiert hat. Wie der aufmerksame Leser bemerken wird, spielt das Thema der Erzählung in dem Gespräch eine unübersehbare Rolle. Aus der Idee, an einer tschechischen Universität ein Symposion über Freud als Erinnerungstheoretiker zu machen, ist bis heute nichts geworden, aber seit 2002 besteht auf der intellektuellen wie auf der alltäglichen Ebene der Diplomatischen Akademie, die der tschechische Lyriker und Diplomat bis heute mit großem Elan leitet, eine enge Beziehung, für die ich aus gegebenem Anlass Dank abstatten möchte.

Die samtene Revolution von 1989 zu Prag hat in unserem Nachbarland einen neuen Typus von Intellektuellen hervorgebracht, den liberalen Dissidenten, der die Schrecken des 20. Jahrhunderts überlebt hat, physisch und geistig. Jiří Gruša, der heutige Botschafter seines Landes in Österreich, gehört zu jenem Kreis von Schriftstellern, die schon sehr früh, nämlich 1964, mit dem kommunistischen Regime in Konflikt gekommen sind. Zu seinen langjährigen Freunden und Weggefährten zählt Václav Havel. Aber auch dem heutigen Präsidenten Václav Klaus, als dessen möglicher Gegenkandidat er eine Zeitlang im Gespräch war, ist er schon früh begegnet. Die Welt der Dissidenz war klein und verschwiegen.
Der 1938 im böhmischen Pardubitz geborene Gruša begann seine Karriere nach einem Studium in Philosophie und Geschichte als Autor und literarischer Projektemacher. Seine groteske Romansatire Der sechzehnte Fragebogen (1978) führte einige Jahre später zu seiner Ausweisung und zum Exil in Deutschland. In dieser Zeit legte Gruša neben Essays zwei Lyrikbände vor: Wandersteine und Der Babylonwald, die er in deutscher Sprache verfasst hat. Mit der „Samtenen Revolution“ begann gleichsam das dritte Leben des Jiří Gruša. Seither war der Intellektuelle als Botschafter der neuen tschechischen Demokratie in deutschen Landen unterwegs, in Deutschland, der Schweiz und nun in Österreich.

Wolfgang Müller-Funk: Der Roman Der sechzehnte Fragebogen hat in Ihrem Leben, nicht nur in Ihrem literarischen Leben, eine große Rolle gespielt. Denn er war es ja, der Sie letztendlich in Schwierigkeiten mit dem Regime nach 1968 gebracht hat. Ich finde den Anfang des Romans eigentlich sehr famos, nämlich die Phantasie, dass man bei seiner Zeugung dabei gewesen ist. Und es gibt auch da einen Satz, der auf Deutsch lautet:

Ich entstand jedoch in Freude.

Jetzt wollte ich Sie über die Phantasie fragen, die dahinter steckt, und hake ausnahmsweise einmal biographisch nach: Würden Sie sagen, dass Sie glücklich aufgewachsen sind in einer unglücklichen Zeit? Sie sind ja 1938 geboren.

Jiří Gruša: Das ist eine sehr seltsame Erfahrung: Ich bin in der sogenannten Kristallnacht geboren, ein Datum eher wie ein Omen, aber ich habe bis 1948, ja bis 1950 eine harmonische Kindheit gehabt, in einer ausgewogenen Familie. Das heißt, ich habe die Welt um mich herum gut wahrgenommen, habe sogar einen Luftangriff hinter mich gebracht. Es war harmonisch innerhalb der Familie. Deswegen war ich dann ein bisschen naiv in meinem weiteren Leben. Ich dachte, die Welt ist so wie bei uns. Und die Welt außerhalb dieser Familie war nach 1948 ganz anders. Und manche Komplikationen bei mir hängen damit zusammen, dass ich dies nicht wahrgenommen habe. Bis heute habe ich diese Art der Naivität als eine professionelle Grundlage für manche Komplikationen. Aber das hängt irgendwie damit zusammen, was ich erwähnt habe.

Müller-Funk: Bei der Zeugung dieses Jan Chrysostomos Kepka fällt dem Vater die Prawda aus der Manteltasche. Das kann man ja auch als ein Signal sehen. Sie haben in einem anderen, privaten Gespräch einmal gesagt, Ihre Familie war niemals sozialistisch-kommunistisch, Sie sind auch nicht enttäuscht worden vom realen Sozialismus. Deshalb die Frage: Was war das für eine Familie? Eine bürgerliche Familie, eine Künstlerfamilie?

Gruša: Nein, das war eine typisch kleinbürgerliche Beamtenfamilie. Mein Vater war Direktor in einer wunderschönen kleinen Molkerei und meine Mutter war zu Hause und dann als eine Lehrerin im Kindergarten. Später arbeitete sie dann als eine technische Kraft in verschiedenen Firmen. Das heißt, es war sozialpolitisch gesehen eine klar kleinbürgerlich und beamtenmäßig bestimmte Familie.

Müller-Funk: Pardubitz, das kennt im Grundgenommen der etwas gebildetere deutschsprachige Mensch nur von den napoleonischen Kriegen. Was war das damals für eine Stadt, eine Mittelstadt, eine kleinere Stadt? Gab es da eine deutschsprachige Minorität oder war das eine rein tschechische Stadt?

Gruša: Das ist eine typische, rein böhmische Stadt mit einer sehr langen, wunderschönen Tradition, mit einem historischen Kern, mit einem Schloss und mit einer historischen Substanz, die mich in meiner Jugend sehr angesprochen hat. Ich war begeistert, ich war jede Woche in einem Museum im Schloss. Die Landschaft um Pardubitz herum ist zwar etwas langweilig, eine klare Ebene mit den Elb-Auen ringsherum. Aber es war eine prägende Erinnerung. Und auch später die andere Kleinstadt Dvůr Králové, 50 Kilometer von Pardubitz nordwärts – Dvůr Králové, Königinnenhof, ist eine ähnliche, typisch böhmische Stadt. In diesem Sinn habe ich auch keine direkte Erfahrung aus der Nähe mit einer deutschen Minderheit gemacht, obwohl es dann in Königinnenhof hinter unserer Straße diese sogenannte Grenze des Protektorats – wie es damals hieß – gab. Dann war dann schon Deutschland, das Reich, wie wir das damals nannten, aber da konnte man unter der Grenze hinkriechen und sich das anschauen. Das war keine direkte Trennung. Da sah ich das erste Mal irgendeine andere Uniform und hörte eine andere Sprache als Tschechisch.

Müller-Funk: Was bedeutet für einen tschechischen Intellektuellen, der so viele historische Katastrophen erlebt hat, so ein Begriff wie Heimat? Ich weiß gar nicht, ob man ihn ins Tschechische übersetzen kann.

Gruša: Das ist eine sehr interessante Frage, die Übersetzung ins Tschechische. Man kann das auf verschiedene Arten übersetzen, als Zuhause (vlast), als Vaterland (otčina), oder als Heimat (domov). Diese Unterschiede sind sprachlich gesehen sehr interessant: Warum das die Tschechen so nennen oder warum wenn sie auf Tschechisch Vaterland otčina sagen, das so fürchterlich pathetisch klingt. Vlast, das ist ein bisschen politisch und domov ist ja fast familiär oder mit Ähnlichem beladen. „Heimat“ dieser schwüle deutsche Ausdruck ist schwer zu übersetzen.

Müller-Funk: Wann haben Sie eigentlich Deutsch gelernt?

Gruša: Das ist ja wiederum typisch. Ich sollte eigentlich in die erste Klasse in Dvůr Králové 1944, die Eltern hätten da Deutsch lernen müssen, das war da noch eine Pflicht. Also haben wir gesagt: wir warten lieber ab. Also habe ich erst in Pardubitz im Gymnasium meine ersten Stunden gehabt – mit einem fürchterlichen Lehrbuch, dessen erster Satz war: „Er starb als Held.“ Es ging um einen russischen Partisanen, den die bösen Deutschen zu Tode gefoltert haben, und mit diesen Themen hat man uns Deutsch beigebracht. Aber dann kam Philosophie und ich brauchte die Sprache, aber das war erst in Prag. Das war dann eine Entdeckung. Und ich blieb dann dabei.

Müller-Funk: Wie ich dieses Gespräch vorbereitet habe, habe ich mir gedacht, es ist natürlich ironisch, einen Autor, einen Intellektuellen zu befragen, der einen Roman Der Fragebogen geschrieben hat und der das als eine bürokratische Prozedur beschreibt. Ich hoffe, unser Gespräch wird nicht ein solcher Fragebogen, sondern höchstens ein Bogen von Fragen. Sie haben schon erwähnt, dass Sie dann nach Prag gegangen sind. War das nicht sehr schwierig für Sie, der aus einer nicht-kommunistischen Familie kam? Wie hat man sich in den 1950er und 60er Jahren durchgeschlagen?

Gruša: Es war sehr schwierig, aber ich kam ja 1957 dorthin. Die schrecklichen zehn Jahre waren vorbei. Und es herrschte da das „Tauwetter“, wie man das damals nannte und da gab es Lücken. Und dadurch, dass wir außerhalb der großen Säuberungen in Prag und in Pardubitz waren, dank einer intakteren und kompakteren Gesellschaft dort war es möglich, dass ich studieren durfte. Wäre ich um fünf Jahre älter oder so alt wie Havel zum Beispiel – das ist kein großer Unterschied – wäre das nicht möglich gewesen.

Müller-Funk: Was haben Sie für Erinnerungen an die 1950er und 60er Jahre? Wir stellen uns das sehr grau vor, es war aber auch in Österreich ziemlich grau, wie ich hinzufügen muss.

Gruša: Wenn ich nicht an meine erste Liebe denke und das war keine graue Angelegenheit, dann war die Zeit fürchterlich. Theologisch würde man sie taedium vitae nennen, das heißt das Graue des Lebens, das Verkommen. Das war zu sehen, wie sich alles veränderte. Dort, wo vor fünf Jahren noch ein gutes Restaurant, ein gutes Geschäft war, da war das plötzlich zugesperrt, mit einer Parole für die Zukunft des Sozialismus versehen. Es war wie eine Blockade. Die neuen Namen der Straßen waren nach irgendwelchen Helden benannt, die man nicht kannte. Das Ganze war schon bedenklich. Die Erinnerung an die graue Zeit ist mir sehr präsent.

Müller-Funk: Man ist in die Privatheit geflüchtet, in Freundeskreise, in Liebesbeziehungen.

Gruša: Das war die einzige Möglichkeit, das zu überwinden und es entstanden kleine Gruppierungen, die plötzlich, mit der Öffnung der tschechischen Gesellschaft im Vorfeld sozusagen der 60er Jahre, eine gute Grundlage für verschiedene politische und kulturelle Leistungen gebildet haben.

Müller-Funk: Wie war denn eigentlich das intellektuelle Leben? Das war ja wohl immer ein doppeltes; das universitäre und das literarische Leben, das deckte sich ja wohl nicht. Gab es da Möglichkeiten für Abweichungen, für anderes Denken unter der Oberfläche des offiziellen Marxismus-Leninismus?

Gruša: Ich kam ja, wie gesagt, 1957 nach Prag, das war die erste Möglichkeit, sich etwas freier zu äußern. Die Universität und Prag, das war immer so ein geistiges Zentrum geblieben. Nur in meinem Jahrgang waren wir alle Dichter. Das war eine seltsame Atmosphäre. Jeder schaute dem anderen ins Papier, einige hatten schon veröffentlicht, andere noch nicht, und man hat diskutiert. Es hat sich wirklich eine intellektuelle Grundlage gebildet, eine Gruppe, zu der ich gehörte, die ich mitgeformt habe. Aus dieser Gruppe heraus habe ich dann die erste nicht-kommunistische Literarzeitschrift gegründet: Tvář hieß sie, also Das Gesicht. Schon der Name war programmatisch: Nicht mehr diese Gesichtslosigkeit, nicht mehr dieses Graue. Es gab dann eine große Polemik gegen mich und die erste Strafverfolgung, weil ich da zwei sehr kritische Artikel über die 1950er Jahre und die 1930er Jahre geschrieben und die These des Realismus, des sozialistischen Realismus, entblößt habe. Und weil ich eine Parole parat hatte: Es gibt keine objektive Realität. Es gibt nur verschiedene Arten der Objektivierung der Realität. Die Realität ist das, was wir mit Mut ergreifen und definieren. Und das war ein Skandal ohnegleichen. Da hab ich die erste Strafverfolgung erlebt, das war 1964.

Müller-Funk: Wie würden Sie denn im Rückblick diese Opposition sehen? Es war ja keine politisch organisierte Opposition, die wahrscheinlich die Vieldeutigkeit der Literatur genützt hat, und es gibt ja eine große Tradition des linken Intellektuellen aus der Ersten Republik. War es nicht schwierig, sich zu positionieren, oppositionell zu sein?

Gruša: Die tschechische Kultur war immer auf dem linken Auge blind, das ist der Unterschied zu Österreich. Aber auf der anderen Seite war das für mich nicht einfach. Ich kam aus dieser leicht katholischen Gegend in Pardubitz. Natürlich war diese konservative Ecke schwächer, aber nicht bedeutungslos; aber die Linken, selbst die guten, haben eine Zeit hinter sich gebracht, vor dem Krieg und nach dem Krieg, mit der ich dann später nicht viel anfangen konnte. Selbst die großen Autoren – alle irgendwie bei der KPČ – hatten größtenteils irgendwie diese Perspektive der Erlösung durch die Arbeiterklasse oder durch den strahlenden Morgen, diesen komischen Futurismus dieser Ideologie, diese säkularisierte Erlösungstheorie. Für mich war das sehr schwer, weil ich diese Autoren mochte und bis heute mag. Aber selbst die großen Autoren hatten diesen Touch und die anderen, die zwei oder drei guten katholischen Autoren hatten wiederum in der kurzen Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg eine Rhetorik entwickelt, die wirklich sehr konservativ: fast braun war. Das war mir auch suspekt, ich war da irgendwo dazwischen, weil ich beides nicht mochte. Und hier gab es für mich keine Anknüpfungspunkte. Es war gleichzeitig ein Vakuum, aus dem heraus ich dann langsam die Gruppe um uns herum realisierte, die man heute rückblickend als die erste liberale von keiner Partei bestimmte Orientierung des tschechischen Schreibens bezeichnet.

Müller-Funk: Da gehören die großen Namen, die wir heute kennen, z.B. Václav Havel, dazu?

Gruša: Ja.

Müller-Funk: Haben Sie Ihr Studium abgeschlossen? Oder sind Sie dann doch auf den etwas unbürgerlichen Beruf des Literaten umgestiegen?

Gruša: Ich habe mein Studium abgeschlossen, aber dann kam die erste Strafverfolgung. Zwei Jahre Haft. Ich habe Philosophie und Geschichte studiert. Das war ein großer Irrtum. Hätte ich die Möglichkeit gehabt, in Deutschland oder anderswo zu studieren, wo man wirklich Philosophie angeboten hat! Ich habe eine komische Illusion gehabt. Philosophie war so ein schönes, wahres Wort und dann habe ich da plötzlich diese kleinen Marxisten vorgefunden mit dem fünften Heft von Lenin, diesen philosophischen Heften und die haben sie analysiert. Das war ein totaler Unfug. Da hat man immer gegen Ernst Mach geschimpft. Niemand hat uns je Mach gezeigt oder gesagt: Das war kein schlechter Mann, bitte lesen Sie auch ihn! Es war eine gute Erziehung, mit Hilfe dieser Leute den Marxismus prinzipiell abzulegen, und ich habe eine fast komische Abneigung nicht nur gegen Marx, sondern auch gegen Hegel und all diese Vorgängergestalten und Mitgestalter dieses deutschen Weges. Was dann neu auf mich zukam, das waren Wiener, das waren Wittgenstein und dann später Freud. Es gab keine automatische Abneigung gegen die deutschsprachige Philosophie, sondern zu dieser philosophischen Ecke. Bis heute habe ich meine Schwierigkeiten, das ruhig zu lesen.

Müller-Funk: Sie konnten Marx nicht in Deutschland oder Österreich studieren? Das wäre vielleicht ein anderer Marx gewesen. Das muss man ironisch hinzufügen.

Gruša: Ja, ja, das stimmt. Aber als ich das erste Mal draußen war, und feststellte, dass er hier nicht nur gelesen, sondern auch vertreten wird, hatte ich ein großes Problem damit.

Müller-Funk: Sie waren dreißig Jahre alt, als das große Jahr 1968 war, und Sie haben mir einmal erzählt: Ich habe meine sozialistische Unschuld nicht verloren, denn ich hatte sie nie. Wie haben Sie dieses Jahr 68 erlebt?

Gruša: Ich habe das als eine Katastrophe erlebt. Das muss man schon zugeben. Es war klar, es war die größte Bewegung von Armeen nach dem Zweiten Weltkrieg – 700.000 Soldaten, die in ein ziemlich kleines Land hineinmarschierten, um irgendeine komische Bewegung, die den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ wollte, niederzuschlagen. Man würde sich heute wundern, wenn man sich heute die Thesen der Reformisten anschaut, dann ist das ja fast unbegreiflich, dieser Aufwand.
Und dennoch, je älter ich bin, desto mehr bin ich der Meinung, dass das begründet war, weil da eine geistige Strömung war, sehr mitteleuropäisch, aus verschiedenen Quellen, die das nicht mehr wollte, die wusste, dass dieses System irgendwie zugrunde gehen muss. Und es gab verschiedene Ecken. Meine war der Meinung, das Formlose ist nicht zu reformieren, das war auch meine Position. Die anderen sagten, man kann ja etwas produzieren, das waren die Reformkommunisten, die sagten, es gibt eine andere, bessere Variante dieses sozialistischen Gedankens.

Müller-Funk: Es war nicht ganz einheitlich?

Gruša: Es war wirklich uneinheitlich, es kam aus verschiedenen Richtungen, aber es war die Erneuerung einer strukturierten Pluralität der Gesellschaft. Und in dem Sinne war das wirklich gefährlich.

Müller-Funk: Und es gab auch die sozialdemokratische Wirtschaftsidee. Es war ja damals der Höhepunkt der westeuropäischen Sozialdemokratie. Ich glaube, sie hat auch für die Reformer eine Strahlkraft in der Tschechoslowakei besessen.

Gruša: Ja natürlich. Die tschechische und slowakische kommunistische Partei war die einzige Partei aus der Zeit der Ersten Republik, die öffentlich etwas im Parlament tun durfte, und auch die sozialdemokratische Komponente der tschechischen Gesellschaft war sehr wichtig. Das waren die beiden Strömungen, die sozialdemokratische und die liberal-nationale. Aber selbst die Liberalen haben bei uns das Wort „Narodni Sozialismus“ entwickelt, was wörtlich übersetzt „Nationalsozialismus“ bedeutet, obwohl das keinesfalls braun war, aber diese Inspiration haben auch die Landsleute von uns noch in der Monarchie übernommen und daraus ist eigentlich das Wort Nazi entstanden. Das ist eine sehr komische Befruchtung.

Müller-Funk: Der Prager Frühling war eine tragische Geschichte. Er war tragisch für die Tschechoslowakei, die damalige Tschechoslowakei, weil es die Veränderung der Verhältnisse um eine ganze Generation verschoben hat, und man kann sich auch vorstellen, dass die europäische Geschichte, die Weltgeschichte ganz anders verlaufen wäre, wenn es 20 Jahre vorher zur Implosion des Regimes gekommen wäre.

Gruša: Es war die Verschiebung der Implosion, da haben Sie das richtige Wort benutzt. Was Gorbatschow gemacht hat, das war das, was Dubček 20 Jahre zuvor ausprobiert hatte. Und das war dann eine Beschleunigung der sich anbahnenden Implosion.

Müller-Funk: Eine bemerkenswerte Beobachtung oder Erfahrung, die ich unmittelbar nach der „Samtenen Revolution“ gemacht habe, war, dass viele der jungen Leute, viele neue Proponenten der Demokratie in der damaligen Tschechoslowakei, mit diesen Proponenten von 1968 eigentlich gar nichts anfangen konnten. Man hat sie nicht gemocht, sie wurden mit dafür verantwortlich gemacht, dass dieses sozialistische Projekt noch einmal verlängert wurde. Sie waren gar keine Helden. Wie erklären Sie sich das?

Gruša: Ich halte das für ein bisschen undankbar gegenüber dieser Strömung, auch von mir, auch von uns persönlich. Denn sie war die erste gute Meldung über die Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg, sonst war das alles irgendwie ganz düster. Der Stalinismus war bei uns besonders grausam. Es war wirklich ein positiver Versuch. Die zwanzig Jahre der „Normalisierung“ wiederum waren äußerst dumm, äußerst langweilig, ohne jede Möglichkeit, sich in einer Ecke einzunisten oder eine Nische aufzubauen wie in Polen oder in Ungarn. Und aus dieser Erfahrung heraus, aus diesen 20 Jahren der Langeweile, der „Normalisierung“ entstand diese innere Aggressivität, diese Ablehnung auch derjenigen, die das eigentlich nicht zu verantworten hatten, nur partiell, nur als Niederlage zu verantworten hatten, nicht aber das Projekt der „Normalisierung“.

Müller-Funk: Stichwort „Normalisierung“. Dazu fallen mir zwei Bilder, zwei Tableaux aus großen Romanen ein, das eine ist von Milan Kundera, dem Intellektuellen, der dann als Fensterputzer arbeitet und dann eine kleine Affäre mit einer Hausfrau beginnt. Das andere ist aus Bohumil Hrabals Roman Der Keller. Da gibt es einen, der muss in einer Art Unterwelt arbeiten und die Papiere und Bücher in den Reißwolf werfen. Wie konnte man diese „Normalisierung“ überleben, wie haben Sie sie erlebt? Sie waren ja zunächst nicht politisch tangiert, aber trotzdem ist diese „Normalisierung“ dann mit Wucht auf Sie zugekommen.

Gruša: Beide Szenen sind sehr typisch für die Zeit. Erstens ist das eine wahre Geschichte, was Kundera da schildert, es war ein späterer Kollege und Außenminister, der andere Fensterputzer ist der heutige Kardinal. Diese Ausschaltung und die negative Auswahl als Hauptregel des Systems waren etwas Schreckliches. Jedes klügere Köpfchen musste weg. Für jede Leistung sind Sie bestraft worden. Diese negative Selektion. Gegen die Evolution zu handeln, war hier so spürbar. Diese Szenen, die Hrabal da schildert – man sitzt in einem Keller und bekommt sozusagen die ganze Geschichte schriftlich geliefert, die man zerfetzen soll, um überhaupt leben zu dürfen – sind also die Erfahrung der anti-evolutionären Erfahrung.

Müller-Funk: Da gibt es ein Spannungsverhältnis. Politisch und lebensgeschichtlich ist das ja furchtbar, aber in Literatur transformiert, bekommt es ein grimmiges und groteskes Moment. Auch in Ihrem eigenen Roman gibt es ja viele groteske Momente.

Gruša: Ja, so ist es. Wissen Sie, ich war ja dann wieder eingesperrt, ich hatte da mitgemacht bei der Rettung der Bücher. Wir haben Bücher abgetippt und weiterverteilt. Das war der so genannte Samisdat-Verlag. Das war dann der Grund für meine Verhaftung.
Aber die Erfahrung, die Sie schildern, dass wir eine äußerlich und innerlich interessante Biographie hatten, habe ich erst nach der Ausbürgerung realisiert. Die erste Frage bei den Amerikanern oder bei den Deutschen war immer: Wie war es im Gefängnis? Und haben sie mit strahlenden Augen angesehen: Mein Gott, er war im Gefängnis! Und dann fing es so an, dass die, um mithalten zu können, immer entweder über eine große Geschichte der Scheidung von der ersten oder der zweiten Frau angefangen haben zu erzählen, oder über eine überstandene, gefährliche Krankheit. Und das hat mir dann gezeigt, dass diese Biographien einfach etwas sind, was man bekommt. Und was man daraus macht, ungeachtet aller Regime, ist das Wichtigste, auch in der Literatur: Wir hatten eine harte Zeit zu absolvieren, aber nachdem man das überlebt hat, kann man sich gut erinnern.

Müller-Funk: Ihre Beschreibung der Reaktionen amerikanischer und deutscher Intellektueller, vielleicht auch Politiker bringt mich noch auf einen anderen Punkt. Gab es so etwas wie eine Enttäuschung in der Zeit der Normalisierung und auch im Rückblick, dass deutsche und auch österreichische Intellektuelle so wenig für Ihre Kollegen getan haben? Dass die Sozialdemokratie bei uns doch eigentlich darauf orientiert war, um des Friedens willen auch mit den Regimes ihren Frieden zu schließen. Gibt es da eine Enttäuschung in Ihrer Generation?

Gruša: Ja, doch, gewissermaßen. Es ist nicht einmal eine Enttäuschung, aber eine Erfahrung der Naivität der Wessis. Der Gedanke, dass man keinen Krieg will oder dass man diese Ostpolitik aus gutem Grund machen muss oder soll – denn es war für uns schon wichtig, dass diese Ostpolitik stattfand –, bedeutet doch nicht automatisch die Akzeptanz der gedanklichen Grundlage des Systems. Später, als ich draußen war, habe ich dann immer so ein Gefühl gehabt, die wollen von mir nicht meine Geschichte hören, weil sie ihre ideologischen Modelle stört. Und dann kam immer wieder ein anderer Satz:

Aber Herr Gruša, wissen Sie… Ja, ja Sie haben da dies und jenes erlebt, aber objektiv gesehen…

Und da war ich immer sauer:

Eben das nicht, liebe Leute! Objektiv gesehen ist das eine fürchterliche, gefährliche Mixtur, es ist etwas sehr Giftiges, ganz objektiv gesehen. Subjektiv können Sie aus friedensliebenden Gründen versuchen, damit zu hantieren. Aber nichts anderes, bitte!

Müller-Funk: Sie haben ja die Anfänge des Samisdat in der „Normalisierung“ erlebt. Da gab es französische Intellektuelle, die sich sehr stark engagiert haben, soweit ich weiß. Es gab auch eine Universität im Wohnzimmer, wo man sich zu fünft oder zu zehnt getroffen hat, ich weiß das von Brünn.

Gruša: Engländer, Franzosen. Es war interessant, auch die österreichische Botschaft hat damals mitgeholfen. Österreich hat zum Beispiel sehr viel für Havel getan, etwa im Burgtheater. Dass man sein Werk aufgeführt hat, dass man uns nicht mundtot machen konnte, war schon eine große Leistung. Aber es war interessant, zu beobachten, mit welchen Begründungen dies geschah. Dass man das eigentlich missverstanden hat. Man hat nicht gewollt, dass das System wirklich implodiert.

Müller-Funk: Richtig. Und dann hat es Sie, freiwillig, unfreiwillig in den Westen gespült. Sie haben viele Jahre in Deutschland gelebt, haben dann auch auf Deutsch publiziert. Wie sehen Sie im Rückblick die deutschen Jahre Ihres Lebens? War das ein Kulturschock? War da alles ganz anders?

Gruša: Vielleicht ist es zu emphatisch, aber es war die beste Zeit meines Lebens. Es war eine Befreiung. Diese Ausbürgerung war zuerst ein großer Schock. Wenn ein Zahnarzt emigriert, findet er seine Karies überall, aber der Literat, der komplizierte Texte schreibt, natürlich nicht. Der Sprachwechsel ist fast bedrohlich, und viele von meinen Kollegen haben das nicht überlebt. Aber dann konnte mir plötzlich niemand mehr meine Spuren nehmen und in dem implodierenden System war es immer so gewesen, dass nicht einmal ihre Spuren blieben – als ob man versuchte, alles, was sie geschrieben haben, umzudeuten. Und das war nicht der Fall, in der damaligen Bundesrepublik. Im Westen überhaupt. Und da habe ich diese innere Befreiung erlebt und dann eingesehen, dass wir uns eigentlich mitten in einem komischen Heimatfilm befinden, da zu Hause, und dass wir uns irgendwie selbst provinziell verhalten. Und dann gab es den Versuch, zu vermitteln, mit den Freunden zu Hause das Ganze ein bisschen zu öffnen. Meine große Erfahrung war: Der andere Raum und die Erfahrung mit der Freiheit: die Freiheit, die man hat, und die Freiheit, nach der man sich sehnt, und das ist eine ganz andere Erfahrung. Ich halte das bis heute für die interessanteste Auseinandersetzung in meinem Leben.

Müller-Funk: Die Erfahrung, die wir mit Emigranten in der deutschsprachigen Kultur haben, ist die der Emigranten vor Hitler, also zwischen 1933 und 1945 in Deutschland und 1938 bis 1945 in Österreich. Und das ist ja auch eine ganz schwierige Situation für diese Emigranten gewesen: Auf der einen Seite protestieren gegen das Regime ihres Heimatlandes, auf der anderen Seite aber doch irgendwie patriotisch sein, das Gefühl, in die Freiheit gelangt zu sein, aber in der Fremde zu sein, gibt es da Analogien?

Gruša: Ja, ja. Auch die Dankbarkeit zu Hause war ähnlich bei uns. Aber erstens, es war kürzer, zweitens, der Sprachraum der deutschen Literatur ist ein größerer. Man kann das nicht gleichsetzen. Selbst wenn Hitler alles in der Hand hatte, dann gab’s noch immer ein Theater in Zürich.

Müller-Funk: Auch in Prag!

Gruša: Oder in Prag, wo der Literat aber nicht entscheiden kann, was gespielt wird. Das war in der tschechischen Gesellschaft anders. Wenn Sie diese zwei Städte, Prag und Brünn, besetzen, dann haben Sie alles und können wirklich Druck ausüben.

Müller-Funk: Sie haben 1988, ein Jahr vor den großen Umschwüngen in Mitteleuropa, ein Gedicht geschrieben, es heißt „Il ritorno de Ulisse in patria“, also „Die Rückkehr des Odysseus ins Vaterland“ und da heißt es:

Heimwärts über den Asphalt der Straßen ein paar eiserne Schuhe an, nicht allzu schwer für deinen schrumpfenden Zeppelin.

Wie war diese Ankunft in der Heimat dann wirklich? Das ist ja ein Vergleich des Emigranten mit Odysseus, den es in der Emigration zwischen 1938 und 1945 immer gegeben hat. Kommt Odysseus, wenn er nach Hause kommt, dann wirklich in der Heimat an? Wie war das für Sie?

Gruša: Ich muss sagen, Homer ist ein genialer Autor, er hat damals alles schon vorweggenommen. Aber natürlich war das nicht so dramatisch. Ich musste nicht mit den Liebhabern oder Anwärtern um die große Königin kämpfen. Beliebt war man nicht und bis heute wird in bestimmten Kreisen immer tschechisch-national argumentiert, in dem Sinne:

Der hat es eigentlich ganz gut gehabt.

Wäre ich freiwillig emigriert, hätte man mir das vielleicht noch vorwerfen können, aber ich bin ausgebürgert, rausgeschmissen worden. Ich war nicht der freiwillige Emigrant. Das ist etwas, was bis heute andauert.

Müller-Funk: Ein allzu menschlicher, nicht sehr sympathischer Effekt. Das eigene Leiden projiziert man auf den anderen und sagt. Der hat es gut gehabt, der hat es sich gerichtet, während wir das Regime erlitten haben…

Gruša: … und all diese Erniedrigungen. Ja, das kommt noch immer.

Müller-Funk: Man macht ja auch ganz angenehme Erfahrungen während seiner Odyssee. Wie hat sich eigentlich Ihr Bild von Deutschland durch diesen Aufenthalt verändert, also dieser Wahlheimat, dieser provisorischen Heimat?

Gruša: Fast prinzipiell. Ich bin zwar mit keinem antideutschen Affekt erzogen worden, also nicht auf die typisch kleinbürgerlich tschechische Weise. Auf der anderen Seite, habe ich aber, ohne es zu wissen, die Deutung der deutschen Werte über die tschechischen geistigen Eliten wahrgenommen. So oder so. Und die Erfahrung mit Deutschland war, dass es eigentlich eher eine bunte Welt ist, als ein Staat im klassischen Sinne eines nationalen Staates der typischen tschechischen Entwicklung Die Breite, eine gewisse Offenheit, und vor allem dieses Nicht-Wegwischen der Spur. Dass da nicht diese negative Auswahl stattfand, war eine große Bereicherung meines Lebens. Ich fühle mich da bis heute zu Hause. Ich habe das einmal gesagt und das ist sofort verpetzt worden. Ich hab gesagt:

Wenn ich da am Rhein lande, dann fühle ich mich zu Hause, weil ich Flüsse und Wasser gerne habe, und der Rhein ist eine wunderschöne Angelegenheit.

So wie die Donau für mich wichtig ist. Ein breiter Fluss. Vielleicht sind die Pardubitzer Erfahrungen daran schuld. Und nicht unähnlich dem Odysseus habe ich auch gute persönliche Erfahrungen gemacht: also eine neue, sehr wichtige Lebensbeziehung.

Müller-Funk: Sigmund Freud hat ja den Ausdruck des Narzissmus der kleinen Unterschiede geprägt. Deswegen ziehe ich jetzt diese Frage vor: Wie ist Ihr Bild von Österreich im Unterschied zu Deutschland? Das haben Sie ja sehr viel später kennengelernt. Wie, würden Sie sagen, unterscheidet „der“ Tscheche – das ist natürlich eine grobe Verallgemeinerung – Deutschland und Österreich?

Gruša: Er unterscheidet das schon, aber er weiß nicht, dass das, was er den Deutschen vorwirft, eigentlich seine Erfahrung mit Österreich ist. Er ist auch teilweise ungerecht, weil eben die Sprachdefinition der Nation, die Leistung dieses Raumes uns auseinanderdividiert hat, obwohl wir kulturell, was die Gestik anbelangt, eine einzige Nation sind. Deswegen ist das ja so kompliziert.

Müller-Funk: Sie meine, die Art sich zu bewegen, die Art zu essen, die Art zu sprechen?

Gruša: All das. Wie man auf die Fragen des Alltags reagiert, das ist doch die Kultur. Und nicht im Sinne der Hochkultur der deutschen idealistischen Tradition, sondern eher angelsächsisch definiert. In diesem Sinn sind wir, Österreicher und Tschechen, eine einzige Kultur, eben mit dem wichtigen Unterschied der konstituierten Sprache. Und das ist ein sehr wichtiges Merkmal. Auf der anderen Seite nicht das einzige. Wir reagieren auf die Vergangenheit mit nationaler Polemik aus dem 19. Jahrhundert mehr anti-österreichisch als anti-deutsch. Ohne es zu wissen. Die Österreicher haben ja bei uns so gut gepunktet, aber unsere Polemik mit den Deutschen ist immer eine alte kakanische.

Müller-Funk: Deutschland ist fremd aber verwandt Österreich Teil einer gemeinsamen Kultur?

Gruša: So ist es.

Müller-Funk: Das Verhältnis von Völkern wird auf eine fatale Weise von Fremd- und Selbstbildern geprägt und ich muss natürlich auch gestehen, dass ich seit Anfang der 90er Jahre zwei Kippbilder von der Tschechischen Replik habe – die Slowakei lasse ich jetzt einmal beiseite. Das eine ist, da gibt es eine Schicht von urbanen Intellektuellen, sie stellen die Diplomatie, sie stellten den Präsidenten, man ist da in einem urbanen Land, einem Land, das urbaner ist als das manchmal sehr provinzielle Österreich. Und dann gibt es auf der anderen Seite dieses flache Land, mit den Menschen, die immer noch sehr gedrückt wirken. Und das spiegelt sich auch im Bild der Politik, das wir vorfinden. Wie passen diese Bilder zusammen?

Gruša: Das ist eine richtige soziologische Beschreibung unserer Gattung. Wir haben beides, liefern beides. Gott sei Dank, gelingt es uns in Krisenzeiten ab und zu, aus dieser Elite, die Sie da erwähnt haben, etwas hervorzubringen. Das war nach dem Ersten Weltkrieg Masaryk. Und jetzt. Aber sie ist nicht sehr beliebt, das sollte in Österreich nicht unbekannt sein, dass diese Leute stören. Was uns im Unterschied zu Österreich fehlt, ist eine aristokratische Komponente. Die ist bei uns nie automatisch akzeptiert worden, auch eine Konsequenz der Entwicklung in der alten Monarchie. Aber sonst ist das, was Sie hier liefern, eine klassische Beschreibung unserer Probleme. Auch unserer Vorteile.

Müller-Funk: Man fragt sich natürlich: Wie ist das möglich, dass diese Menschen, Sie eingeschlossen, in solche Positionen gekommen sind? Ich könnte mir nicht vorstellen, dass wir hier in Österreich einen Intellektuellen als Präsidenten haben und jemanden wie Sie als Botschafter in Berlin oder Paris.

Gruša: Das ist, weil wir das, was man Revolution nennt, zweimal hatten. Wenn Sie nur eine kontinuierliche Wende haben, dann kommt das nie. Dann sind Juristen dran, nicht einmal Professoren wie Sie, sondern eine bestimmte Gattung, die in den Strukturen eingenistet und angepasst ist. Aber wir haben das nicht gehabt. Das ist das Schicksal des Landes, das tragische Schicksal, dass hier drei oder vier Reduktionen vorgekommen sind und dass die einzige Schicht, die den Ersten, den Zweiten und diesen Kalten Krieg mit Anstand absolvierte, diese tschechische Intellektualität war. Und deswegen war das eine Marktnische, die von uns ausgefüllt worden ist – nicht weil wir so gut sind, sondern weil die anderen nicht vorhanden waren. Das wird sich jetzt alles langsam klären. Nach 14, 15 Jahren verschwinden wir langsam alle. Es kommen die normalen Beamten.

Müller-Funk: Ich hab noch ein Erinnerungsbild aus dem Jahr 1990, ein Silvester, den wir gemeinsam mit tschechischen Freunden verbracht haben, im Waldviertel, in Drosendorf. Da gab es die Neujahrsansprache von Havel. Und die saßen alle in dem Gasthaus, 50 oder 100 Leute und hörten andächtig zu, was ihr Präsident ihnen zu sagen hatte. Die Idee des Intellektuellen ist es ja immer gewesen, so ein bisschen der Erzieher seines Volkes sein zu wollen. Das ist etwas, das man heute nicht mehr so ohne weiteres glaubt. Wie würden Sie denn nach den 15 Jahren beurteilen, was Sie erreicht haben? War der Abstand zum Volk letztendlich nicht doch zu groß? Was haben wir durch unsere Intervention, durch unsere Bereitschaft sich politisch zu engagieren – das war ja für Sie auch nicht ganz selbstverständlich – erreicht? Oder bleibt da ein ganz zwiespältiges Gefühl zurück?

Gruša: Ein Janusgesicht muss man schon bei der Betrachtung des Vergangenen haben. Ich würde zwei Leistungen erwähnen: Wir haben bis jetzt in den maßgeblichen Gremien der tschechischen Intellektualität keine nationalistische Ecke. Diese ist eindeutig europäisch. Das ist ein großer Unterschied zu den anderen postkommunistischen Ländern, das ist eine große Leistung. Zweitens haben wir eine andere meisterhafte Leistung, das ist die Trennung von den Slowaken, die friedlich verlaufen ist. Und wir haben partiell, mit all diesen Abstrichen, eine doch ganz gut funktionierende bürgerliche Gesellschaft. Und das wäre vielleicht ohne Havel und die Dissidenten nicht so einfach gewesen.

Müller-Funk: Der neue Präsident heißt nicht Petr Pithart, heißt nicht Sokol und heißt auch nicht Gruša sondern heißt Václav Klaus. Ist das jetzt das Ende der heroischen Epoche des demokratischen Neuanfangs? Fängt jetzt die Normalisierung – nicht in dem grauen Sinn – sondern im Alltag der Demokratie an? Oder sind Sie nicht doch sehr traurig, dass diese Tradition von Masaryk zu Havel nicht weitergegangen ist?

Gruša: In der Zeitschrift, die ich erwähnt habe, habe ich auch den ersten Text eines jungen Mannes veröffentlicht, der hieß Václav Klaus. Er gehört zur Substanz dieser Intellektualität, aber er ist derjenige, der das nicht zugibt und der das äußerst kritisiert. Es handelt sich um eine klare Selbstverleugnung. Da ist also noch eine kleine Hoffnung, dass wir intellektuell präsent sind. Aber wahrscheinlich ist eine Standard-Demokratie mit all diesen Juristen, eingeübten Nichtmehr-Genossen, bürokratisch geschulten, international erfahrenen, professionalisierten Politikern, keine schlechte Entwicklung. Und hätten wir das zu verantworten, wenn das eintritt, dann wäre das die dritte gute Sache an uns.

Müller-Funk: Von außen in die tschechische Republik hineingesehen, ist Klaus nicht mit Havel zu vergleichen, da sind unsere Sympathien ziemlich eindeutig. Fairerweise muss man sagen, dass sich Klaus gleich zu Anfang sehr kritisch über die Vertreibung geäußert hat. Unakzeptabel hat er das genannt. Das bringt mich auf eine weitere Frage im Bogen unseres Gesprächs, nämlich die Vergangenheit. Ich vermute, die Tschechische Republik ist eines von den Ländern, die von dem kurzen zwanzigsten Jahrhundert, wie das Hobsbawm genannt hat, am meisten betroffen sind. Über den Kommunismus haben wir gesprochen; nicht gesprochen haben wir darüber, dass sich der Kommunismus einer großen Zustimmung erfreut hat, im Unterschied zu Polen und Ungarn. Dann die Frage von Widerstand und Kollaboration, ein Thema, das Bohumil Hrabal in seinem Roman Ich habe den englischen König bedient sehr witzig und mustergültig behandelt hat. Dann die Frage von Vertreibung, tschechisch Odsun, und dann die Epoche der „Normalisierung“. Sehen Sie auf absehbare Zeit Möglichkeiten, dass diese tschechische Demokratie auch mithilfe der Intellektuellen, der Schriftsteller, der Historiker die Frage dieser ganzen Vergangenheit – ich spreche ganz ungern von Vergangenheitsbewältigung, weil da steckt im Begriff die Gewalt mit drin – kritisch darstellen kann? Es gab ja nach 1945, aber auch nach 1968 immer wieder Versuche, das zu tun. Wie beurteilen Sie die Möglichkeiten der Tschechen, in ihrem eigenen Interesse anders als bisher mit dieser Vergangenheit umzugehen?

Gruša: Auf der Ebene der Faktizität findet schon längst etwas statt, wo die Vergangenheit nicht geleugnet wird. Weil die Gesellschaft sich so entwickelt, wie ich angedeutet habe, ist es schwierig in den Schichten, die Sie selbst beschrieben haben, eine Mehrheit dafür zu finden. Die waren bei allem irgendwie dabei, und sie wollen nicht daran erinnert werden. Es wird noch eine gewisse Zeit dauern, nicht unähnlich der Lage in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg – oder auch in Österreich. Also wir sind jetzt im Vergleich zu Österreich nach 1945 im Jahr 1954. Das ist eine ähnliche Zeitspanne. Es gibt da eine ganze Schicht, die das gar nicht haben will, weil sie da mit ihrer Vergangenheit auf eine ziemlich gnadenlose Art und Weise konfrontiert würde. Aber wie ich schon vorher sagte: Die Position der tschechischen Intellektualität ist keine nationalistische und mittelfristig gibt es kein Vorbei an der Analyse dieser Sache und an der inneren Trennung von dieser Zeit, weil das unsere Substanz angeht. Nicht den Deutschen oder Österreichern zuliebe, sondern weil wir das selbst brauchen. Ich sage immer: Wenn man sich das Jahr 1938, mein Geburtsjahr, und dann die Zeit zwischen 1938 und 1948 realistisch anschaut, dann sehe ich eine Methode, wie das zu meistern wäre. Es ist die Frage nach dem Verlust des ganzen Landes nach der gemeinsamen Niederlage. Und dann muss man das anders sehen: Dann sind da die 300.000 Juden und Tschechen nach 1938, dann die Deutschen, dann die Leute, die nach 1948 aus dem Lande mussten, die Vertreibung der Tschechen durch die Kommunisten. Wenn man das alles zusammenzählt – ich will jetzt keine statistischen Daten nennen, aber das sind nicht unter fünf oder sechs Millionen Menschen. Für ein so kleines Land ist das etwas, das wir endlich als eine gemeinsame Katastrophe deuten müssen. Von dem Augenblick an, wo wir das nicht gegeneinander aufrechnen, sondern als einen gemeinsamen Verlust, den wir psychologisch oder in einer narrativen Psychotherapeutik begreifen, könnten wir eventuell eine gemeinsame Geschichte erzählen: Als eine Analyse der Ideen und Taten, der philosophischen und politischen Begründungen, die zu dieser Katastrophe geführt haben. Das wäre dann unsere gemeinsame Geschichte mit einem sehr guten Start für eine gemeinsame Zukunft. Das ist nur auf diese Art und Weise zu meistern. Solange wir in den alten nationalen Polemiken, tribal und territorial, verharren, ist das nicht zu klären. Aber wir sind älter und auch reifer geworden und ich sehe die beiden Gesellschaften, hier und auch die deutsche. Es gibt hier einen Beweis der Reife des österreichischen Wählers. Vielleicht befinden sich die Leute hier und bei uns nicht mehr auf der Basis der tribalen und territorialen Mythologien.

Müller-Funk: Stichwort Ungleichzeitigkeit, Stichwort gemeinsame Erzählungen, Stichwort Irak-Krise, Irak-Krieg. Einer der letzten Aktionen, die Václav Havel gesetzt hat, war die mehr oder weniger bedingungslose Unterstützung der amerikanischen Politik im Irak. Nun könnte man sagen, das sind taktische Differenzen in Europa, auch die Spanier und Engländer haben sich da anders verhalten. Steckt hinter all den Differenzen nicht doch ein anderes Bild von Europa, von der Geschichte? Ich hab immer den Eindruck, es gibt zwei Europa-Geschichten. Die eine ist: Europa möchte auch ein politischer Faktor sein, unabhängig von und zuweilen auch im Streit mit den Amerikanern. Die andere ist: Europa ist der Juniorpartner eines transatlantischen Bündnisses, das deutlich von den Amerikanern dominiert wird, denen sich die Europäer bitteschön unterordnen und Gefolgschaft leisten sollten. Es sind ja auch 300 tschechische Soldaten auf dem Golf. Sehen Sie da eine neue Grenze zwischen europäischen Ländern, die auch mit diesen Vergangenheiten zu tun haben?

Gruša: Nachdem wir in der alten Monarchie achtmal den Versuch unternommen haben, den Ausgleich zu erreichen, ist die tschechische oder tschechoslowakische Unabhängigkeitserklärung in Philadelphia auf dem gleichen grünen Tisch, an dem die Vereinigten Staaten ihre Unabhängigkeit ein Jahrhundert zuvor erklärt haben, verkündet worden. Da gibt es schon einen gewissen Unterschied. Das gilt auch für die Polen und die kleinen Zwischeneuropäer. Hier sind zwei Kriege mit Amerika verbunden. Und die Erinnerung an eine Niederlage. In Frankreich hingegen ist es die Erinnerung an eine knapp überlebte Niederlage, in der Politik gibt es bekanntlich keine Kategorie wie Dankbarkeit.
Es ist kein anderes Europa, aber es ist auch ein Europa, das mit der Definition der Demokratie eine andere Erfahrung hat. Die angelsächsische Definition lag uns näher und brachte uns mehr als die französische nach Napoleon. Das heißt, dass wir hier automatisch ein Verständnis für die Amerikaner haben.

Müller-Funk: Obwohl es natürlich in der Ersten Republik ganz enge Bande zwischen Tschechen und Franzosen gegeben hat?

Gruša: Ja, aber München, das ist doch nicht die Erfahrung mit Deutschland, sondern mit Frankreich. Die Deutschen haben uns nicht überrascht. Das muss man bedenken, das gehört zu der Psychographie dessen, was entsteht. Aber in meinen Augen ist das Wichtigste für die Beschreibung der Lage heutzutage nicht diese Erinnerung, nicht diese Sentimentalität, die mal so und mal so gedeutet werden kann. Die Erfahrung mit dem, was ich Implosion genannt habe, ist eine andere. Der Zusammenbruch des Kommunismus war doch keine große Tapferkeit der Wessis, sondern eben das Implodierende dieses Systems von Weltbeherrschung. Wenn ich ein Bild von Saddam sehe, muss mir niemand etwas erzählen über die Gefahren dieses Systems und was da alles drinsteckt. Und wenn man sich über die Weltordnung Gedanken macht, nicht erst nach dem 11. September, sondern nach dem Zusammenbruch dieses Systems in einer sich ständig verkleinernden Welt, dann wird die Transparenz des Regierens zum sine qua non. Diese intransparenten, totalitären Regime sind eine Herausforderung für die internationale Politik. Der Gedanke, dass die alten Kategorien der intransparenten Macht nicht mehr ausreichen, dieser Gedanke ist in meinen Augen richtig.

27.3.2003, Ö1, aus Wolfgang Greisenegger & Wolfgang Lederhaas (Hrsg.): Antworten. Jiří Gruša zum 70. Geburtstag, Wieser Verlag, 2008

Von der Freiheit des Grenzgängers Jiří Gruša

und der Heimatlosigkeit als Heimat

Das Altwerden ist eine Realität, die einem mitgeteilt werden muss, von selber kommt man nicht darauf. Jiří Gruša ist 70 Jahre alt, und er war 42 – so alt wie ich –, als er mir das erste Mal begegnete. Er, der Dichter des Romans Der 16. Fragebogen, der ihn in Prag ins Gefängnis brachte, ich, der Journalist aus Hamburg, der den „Verbrannten Dichtern“ den Weg in die bundesdeutsche Öffentlichkeit bereitet hatte. Ich saß in den Vorbereitungen zu meinem Buch Die verbannten Dichter, das nach der einstigen Vertreibung der Dichter durch den ersten Totalitarismus des zwanzigsten Jahrhunderts die durch den zweiten Totalitarismus zum Inhalt haben sollte.
In den Verbrannten Dichtern lebte noch der Traum vom Sozialismus. Das Buch Das neue Exil – Die Dichter (1982) war der Abgesang auf den Sozialismus. Von diesem Abgesang auf den Sozialismus wollte die friedenskonferenzbewegte Gesellschaft der Bundesrepublik um Bernt Engelmann, die auf die Erneuerung eines Sozialismus in der DDR setzte, nichts hören. Da störten Wolf Biermann und Reiner Kunze, Günter Kunert und Sarah Kirsch, Jürgen Fuchs und Hans Joachim Schädlich. Da störten Exilanten wie Pavel Kohout und Milan Kundera, Joseph Brodsky und Czesław Miłosz, Andre Sinjawaski und Paul Goma, Arnost Lustig und Sławomir Mrożek und auch Jiří Gruša.
Die Tschechen hatten ihre Lektion über den dritten Weg zum Sozialismus an Leib und Seele erlitten. Ich hatte sie gelernt als Korrespondent im „Prager Frühling“ und seinem Panzer-Ende. Pavel Kohout saß seit 1979 in Wien. Das Regime hatte ihn nach einjährigem Arbeitsaufenthalt im Westen nicht mehr ins Land gelassen. Gruša kam Ende 1980 zu ihm, abgeschoben in den Westen. Wir feierten bei Pavel Kohout in dessen Wohnung am Kohlmarkt 1 Silvester mit Gruša, der neuer Inhaftierung entronnen war. Nicht die Heimat, sondern die Heimatlosigkeit definiert den Menschen des 20. Jahrhunderts.
Kohout, der inzwischen 80 ist, begann 1945 als begeisterter Kommunist und wurde nach dem Einmarsch der Sowjets 1968 mit dem Katholiken Václav Havel der Initiator der Charta 77, die den Weg aus dem ideologischen Desaster wies. Und wie Havel war Gruša nie Kommunist gewesen. Sein portatives Heimatland war wie bei Havel die Bibel. „Wer einmal Engel aus lebenden Bildern ins Leben geholt hat, kann sie nicht wieder ins Bild zurückschicken“, heißt es in Grušas Roman Janinka, den er als Manuskript mit nach Wien brachte und der 1984 in deutscher Übersetzung erscheinen sollte. Von der Erinnerung des Anwalts Dr. Marian Kokes ist dort die Rede, der 1949 auf einer Laienbühne einen Engel zu spielen hatte. Wer wie Gruša aus Pardubice, verwurzelt im Katholizismus, nach dem Zweiten Weltkrieg miterlebt hat, wie der Katholizismus in der ČSSR verfolgt worden ist und wer seine Herkunft nicht aufgegeben hat, wird zur Kindheitsmetapher zurückkehren. „Das Anknüpfende ist im Leben das Wichtige“, sagte er mir damals. Wer sich von seiner Geschichte trennt, gibt sich auf.
Und so entstand ein Roman zwischen Erde und Firmament, mit den Flügeln an den Himmel genagelt. Ein Roman mit Engeln und gefallenen Engeln, mit dem Drachen der Apokalypse in der Figur der in den zwanziger Jahren weltberühmten siamesischen Zwillinge Blazek, über die wiederum Egon Erwin Kisch im Marktplatz der Sensationen geschrieben hatte. Plötzliche Offenbarungen in Existenzen. Alles im sichtbaren Universum wird für Gruša zum Emblem einer unsichtbaren metaphysischen Wirklichkeit. Und die Bühne für diesen Roman war der real existierende Sozialismus in seinem Heimatland.
Aus seiner Rolle des Beobachters jenes alle Werte verratenden Systems wird der Anwalt Kokes herausgerissen, als sein Vater nach einem Zusammenbruch zwischen Leben und Tod schwebt. Der Schock, der in Kokes eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben auslöst, wird zu einem Dialog mit dem Tode – in Bezug zu dem des „Ackermanns von Böhmen“, den Johannes von Saaz an der damaligen Zeitenwende um 1400 schrieb.
Im Gedächtnis des Marian Kokes laufen die Ereignisse zurück zur marianischen Jugendgefährtin Janinka, die ganz jung starb und die für ihn in ihrer Reinheit zur Erlösungsprojektion wird. Gruša, der Glaube, Liebe, Hoffnung in seinem Roman aus den Bloßstellungen des 20. Jahrhunderts einen Weg ins eschatologische Geheimnis zu weisen versteht, ist im ältesten Sinne Realist: Er geht von der realen Existenz der Universalien aus und teilt sie nicht wie die Hegelianer in Nomina auf, macht Universalien wie Wahrheit und Gerechtigkeit nicht beliebig verwendbar. In dieser Welt gibt es für den Dichter nur ein Recht: Das Recht auf Kreierung des eigenen Todes. Menschenwürde wird hier gemessen am Verhältnis des Einzelnen zu seiner Sterblichkeit.
Mit Janinka als Manuskript kam Gruša 1980 zu Silvester bei Pavel Kohout in Wien an. Es war keine gute Zeit für Exilanten im deutschsprachigen Raum. Die Bewunderung für die Tschechen, die sich 1968 gegen die sowjetische Invasion 1968 so mutig, tapfer und fintenreich gewehrt hatten, war längst verflogen. Die Bücher der tschechischen Autoren, die den Widerstand gegen das kommunistische System in Prag über die Charta 77 bis hin zur „Samtenen Revolution“ von 1989 einzigartig durchhielten, lagen wie Blei in den Buchhandlungen oder wurden gar nicht mehr gedruckt. Das galt selbst für Milan Kundera, dessen Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins erst international vorgelobt in den USA seine Leser im deutschsprachigen Bereich fand.
Wer die Tschechoslowakei nach 1968 verließ, war klug, wenn er nach Kanada ging wie Josef Skvorecký oder nach Frankreich wie Milan Kundera oder in die USA wie Arnost Lustig. Auch Jiří Gruša entschied sich nach seinem Besuch bei Kohout erst einmal für ein einjähriges Stipendium in Amerika, ehe ihn sein Heimweh zurück nach Mitteleuropa trieb und er sich niederließ im Rheinland und dort schließlich in Bonn. Wir wurden in den Jahren vor 1989 ziemlich unzertrennlich. Er kam zu mir. Ich fuhr zu ihm. Und wir telefonierten täglich und lang. Fast hätte man eine Standleitung einrichten können. Ich nahm Gruša mit zu jenen Autoren, die das linksintellektuelle Klima der Bundesrepublik prägten. Doch seinen erfahrungsgesättigten Standpunkt wollte niemand hören.
Gruša blieb Minderheit. Ich wurde Minderheit mit meinem Buch Die verbannten Dichter (1982). Exemplarisch dafür war der Vorwurf meines Freundes Peter Rühmkorf der meine „Menschenrechtspolitik“ als „kohlpechrabenschwarz reaktionär“ einstufte. Heute ist der Widerstand von Dichtern wie Czesław Miłosz, Milan Kundera und Pavel Kohout, von Jiří Gruša und Josef Skvorecký, die ich für mein Buch an ihren Exilorten besuchte, so unbestritten wie deren Weltrang.
Heute ist es für jeden sichtbar, dass jene damals beiseite geschobenen Autoren als Wahrheitszeugen den großen Todesmühlen des 20. Jahrhunderts Paroli geboten haben. Ihr Leben war und ist die unerbittliche Lektion über das Thema Literatur und Moral in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie sind es gewesen, die sich gegen die Fangnetze des Eindeutigen, der Ideologien, der Systeme, dem Banalkonsum dieser nicht festlegbaren einmaligen Existenzen gewehrt haben.
Bei Gruša erlebte ich eine Standfestigkeit im Vertriebenwerden, im Vertriebensein, wie sie auch die „Verbrannten Dichter“ auszeichnete. Für diese Erfahrung und die Art, wie er sie in seiner zurückhaltenden Art mitteilte, danke ich, und meine Gratulation zum 70. Geburtstag zielt auf diese Größe des Dichters aus Pardubice. Es war dieser Zusammenhalt zu einer Zeit, als die Dinge noch nicht entschieden waren.
Jiří Gruša wurde in der alten Bundesrepublik nicht totgeschwiegen. Totschweigen ist ein Tätigkeitswort. Er bekam Stipendien. Als Dichter aber wurde er lange Zeit in der Bundesrepublik ignoriert. Gruša, in der ČSSR schon damals ein bedeutender Autor seiner Generation, schickte sein Janinka -Manuskript an den S. Fischer Verlag, an Rowohlt und Piper. Er bekam es kommentarlos zurück. Hätte es nicht den Exil-Tschechen Tomás Kosta gegeben, der den Bund-Verlag in Köln leitete und den Roman in sein von Sachbüchern dominiertes Programm aufnahm, Grušas Situation wäre mehr als schwierig geblieben.
Auch die Übersetzung ins Deutsche war ein schwieriges Unterfangen. Gruša verschliss ein halbes Dutzend Übersetzer. Nun fehlten die Dichter und Übersetzer von Max Brod über Otto Pick bis zu Rudolf Fuchs, die in Prag zu Hause waren, in der deutsch-tschechischen Symbiose lebten und in den zwanziger Jahren die tschechische Literatur über die Übersetzung ins Deutsche in die Weltliteratur trugen. Gruša kam zu mir, der ich die tschechische Sprache nicht beherrschte, mit seinen Übersetzungen. Wir versuchten, aus den bisherigen Fassungen eine endgültige Fassung zu machen. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen. Gruša sprach ein gutes Deutsch. Aber für die Differenzierungen in seinem komplizierten Text reichte das Deutsch nicht, um mich verstehen zu lassen, was er meinte, wenn es um Veränderungen in den vorliegenden Übersetzungen ging. Als der Roman 1984 herauskam, fehlte der Name eines Übersetzers. Und dennoch war erkennbar, dass es ein Jahrhundertwerk war, wie ich den Roman im Spiegel und der Zürcher Weltwoche beschrieb. Verkauft hat sich der Roman nicht. Längst ist er vom Markt und müsste endlich wieder da sein.
Der Aphoristiker Horst Drescher, der in der DDR totgeschwiegen wurde und der sich am Leipziger Südfriedhof mit einer Kranzbinderei zusammen mit seiner Frau durchs Leben schlug, formulierte:

Siegen macht glücklich. Viel siegen macht glücklich und dumm. Dauernd siegen macht dumm. Unterliegen macht intelligent. Viel unterliegen macht intelligent und bitter. Dauernd unterliegen macht bitter.

Gruša wurde nicht bitter. Er schrieb für die Schublade. Er übersetzte die Gedichte von Petr Kabes, seines Freundes aus der Geburtsstadt Pardubice. Wir besuchten in Paris den Collagisten Jiří Kolář, der in Prag einen schweren Schlaganfall erlitten hatte und sich im Exil wieder seine volle Bewegungsfähigkeit zurückeroberte. Wir besuchten den Lyriker Ivan Blatný, 1919 im mährischen Brünn zweisprachig aufgewachsen. Den Dichter, der die deutsche Okkupation der Tschechoslowakei überstand und dann 1948 vor der verrückten Welt der Kommunisten in die Sicherheit einer englischen Irrenanstalt floh. „Sprechen Sie deutsch?“, fragte Blatný.

Es ist die Sprache meiner Großmutter. Es ist die Sprache meiner Wünsche. Der Großmutter habe ich sie gesagt.

33 Jahre nach seiner Flucht in die Irrenanstalt gab der damals von seinem Volk vergessene Dichter sein erstes Interview. Gruša und ich sahen seine Gedichte, die vom Tschechischen ins Deutsche wechselten und dann ins Englische übergingen. Wir erlebten einen Dichter, der sein altes Europa zusammenhielt.
Wir saßen in Bonn vor dem Fernseher, um uns den Besuch Bundeskanzler Kohls bei Staatspräsident Husák in Prag in der Nachrichtensendung anzuschauen. Beim Galadiner saß der mit Gruša befreundete Dolmetscher des Auswärtigen Amts neben Husák – im dunklen Anzug von Jiří Gruša. Die Schwejkiade war gelungen, Gruša denn doch auf diese Weise zurückgekehrt.
Doch der Witz war voller Verzweiflung: Das Dilemma des Dichters lag gerade in jener abwesenden Anwesenheit in seiner Heimat. Die Heimatsprache, in der er schrieb, verstärkte dieses Dilemma. Die Sprache der Kindheit richtete sich nun wie ein Messer gegen ihn. Gruša haderte nicht mit anderen. Er haderte mit sich selbst, bis er zusammenbrach und die Ärzte seine Genesung wie ein Wunder betrachteten, Doch den Tod überlebt hatte er erst, als der Dichter den Lebensbruch, den Sprachbruch überwand und in deutscher Sprache – in vollem Bewusstsein eines Sprachschatzes, der an Kindheitssprache nie heranreichen wird – dichtete.
Sarah Kirsch las Grušas in deutscher Sprache geschriebenen Gedichte, Worte uranfänglich, wie sie wiederum ein in deutscher Muttersprache Aufgewachsener nicht finden kann. Sarah Kirsch sorgte dafür, dass diese einzigartige Poesie in ihrem Verlag, der Deutschen Verlags-Anstalt, erscheinen konnte.
Als der Gedichtband Der Babylonwald herauskam, war Gruša bereits Botschafter der neuen Tschechoslowakei in der Bundesrepublik. Damit beginnt das Kapitel eines Weges in der Vorbildfunktion Tomás G. Masaryks. Zweien ist er gelungen: Václav Havel und eben Jiří Gruša, der schließlich noch als Präsident dem Internationalen P.E.N. mit dem durch das 20. Jahrhundert gehenden Makel des Versagens vor der politischen Macht seine Menschenwürde zurückgab.
Ich denke an diesem Tag des 70. Geburtstags an Grušas Sohn Martin, der im Juni 1989 in Prag starb. Ärzte hatten eine schwere Zuckerkrankheit diagnostiziert, ohne den 23-Jährigen mit den notwendigen Medikamenten zu versorgen. Im Keller eines Abbruchhauses traf sich Martin mit den Freunden seiner Jazzband. Man musizierte. Martin Gruša kam nicht mehr nach Hause. Er starb im Zuckerkoma. Es war das einzige Mal, dass Jiří Gruša mir bei seinem Telefongespräch immer wieder ins Wort fiel.

Ich muss nach Prag… Ich muss nach Prag.

Es waren immer dieselben Sätze.
Es war ein Samstag. Ich wählte die Privatnummer von Oskar Lafontaine in Saarbrücken. Eine Frau am Telefon versuchte, mich abzuwimmeln. Aber dann kam er doch, er, der auf dem Weg zum Kanzlerkandidaten war. Die SPD hatte bis kurz vor der Wende so glänzende Beziehungen zur KPČ in Prag. Ich erklärte Lafontaine, was passiert war und wer Gruša ist. Er könne nichts tun, ich solle mich an Peter Glotz wenden. Ob er mir die Privatnummer von Glotz geben könne. Nein, er habe sie nicht. Aber die eines seiner Mitarbeiter. Den rief ich an, fragte nach der Privatnummer von Glotz. Nein, die könne er mir nicht geben, aber er wolle alles ausrichten. Es geschah nichts.
Ich rief Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher unter seiner Privatnummer an. Gorbatschow hatte gerade die Bundesrepublik verlassen. Arbeit mehr als genug lag hinter ihm. Genscher war am Apparat: „Was kann ich für Sie tun?“ – „Wenn dies keine rhetorische Frage ist, dann dies…“ ,,Ja“, sagte er, ,,ich werde sofort alles versuchen. Das schaffen wir.“ Am Montag hatte es Genscher geschafft:

Wir haben die Zusage aus Prag, dass Herr Gruša zur Beerdigung seines Sohnes einreisen kann.

Die Beerdigung war auf Freitag angesetzt. Die tschechoslowakische Botschaft in Bonn schikanierte Gruša bei seinen Anfragen nach dem Visum bis zum Donnerstag. Erst dann stempelten sie ihm das Visum in seinen deutschen Pass. Bei der Beerdigung traf Gruša sie wieder: Havel und die Freunde, die ein paar Monate später ihr Volk in die „Samtene Revolution“ führen sollten.
Lieber Jirko, manches wird gut, alles wird nicht gut. Du hast heute eine Wohnung bei Bonn, eine in Prag und eine in Wien. 2002 hast Du ironisch Dein Buch Glücklich heimatlos genannt. Das Leben als Grenzgänger ist angenommen und auch die Heimatlosigkeit als Heimat. Aber Deine ins Unbekannte, ins Fremde vorstoßende Phantasie macht Heimat sichtbar, die als Ziel das Nichtankommenkönnen als Chance begreift. Im Ähnlichen siehst Du das Fremde und im Unterschiedenen das Gleiche. Bleib der deutschen Lyrik erhalten. So wird Prag, was es immer war: Eine Schwelle auf dem Weg zur Erkenntnis, wie sie das goldene Prag in den Worten seines deutschsprachigen Dichters Franz Baermann Steiner formuliert hat:

Sieh mein Sohn, dies ist der Hunger des Himmels, jenes der Hunger der Seele. Keiner von beiden wird gestillt, so schlecht oder so gut es dir geht.

Jürgen Serke, aus Wolfgang Greisenegger & Wolfgang Lederhaas (Hrsg.): Antworten. Jiří Gruša zum 70. Geburtstag, Wieser Verlag, 2008

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + DAS&DIMDb +
Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachruf auf Jiří Gruša:

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00