Johannes Bobrowski: Schattenland Ströme

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Johannes Bobrowski: Schattenland Ströme

Bobrowski-Schattenland Ströme

GEDÄCHTNIS FÜR B. L.

Wenn das Dorf
tönt, atmendes Grün
um Sandweg und Steckenzaun,
wenn es geregnet hat,
Schwalbenflug, Himmel,
weiß, groß genug für den Regenbogen,
Abend, die Schläfe,
in die sich die Hand schmiegt, der Mund
singt ohne Laut.

Und
zu rufen nichts mehr.
Es fliegen die Sterne, rauschend,
mit Flügeln, dein Tod
fragt meinem Leben nach. Regen
(sag ich) und Grün, der Vogel
streifte den Bogen,
Licht stäubte auf, eine Wolke
Glanz, wir sahn ihn
nicht mehr.

 

 

 

Zwiesprache mit der Welt

– Zu Johannes Bobrowskis neuem Gedichtband. –

Der zweite Gedichtband von Johannes Bobrowski setzt Themen und Motive des ersten fort, und ein Vergleich von Schattenland Ströme mit der Sarmatischen Zeit mag nichts anderes ergeben als den bezwingenden und beglückenden Eindruck einer starken Kontinuität, die des funkelnden Reizes von Sensation, modischem Effekt, Novität entbehren kann. Hier wird kein Material geliefert für jene oberflächliche, echter geistiger Entwicklung (also Vertiefung) fremde, nichtsdestoweniger weit verbreitete Betrachtungsweise, die eines Dichters „Entwicklung“ daran mißt, ob in seinem neuesten Werk viele neuartige Töne auftauchen.
Also wieder die östliche Welt und das Schicksal des jüdischen Volkes, wieder beseelte Natur und wieder die Begegnungen mit den verkannten und einsamen Dichtern verschiedener Zeiten und Völker, wieder die faszinierende Unmittelbarkeit zur Welt – ein selbstverständlicher Sensualismus – und wieder das Wechselspiel zwischen Schleiern der Melancholie und dem Licht der Hoffnung. Das aber keine Wiederholungen, sondern Variationen. Variationen, die bestimmte gedankliche Grundlagen präziser erkennen lassen, behutsame Überschreitungen von bisher gesetzten Grenzen.
Und so scheint mir, daß einiges in diesen Gedichten deutlicher abzulesen ist, daß sich aus ihnen, so es mit Vorsicht versucht wird, des Dichters Philosophie, sein Standort in der Zeit und seine Psyche überzeugend ableiten lassen, vielleicht mehr in Umschreibungen als in Beschreibungen, in Stichworten mehr als in exakten logischen Ketten. Versuchen wir Beispiele.
Politik, gegründet in tiefwissender Erfahrung; da heißt ein Gedicht „Bericht“, ist kühl in der Diktion, kühler als anderes, unplakativ eindeutig, ist Bericht über ein Foto: Verhör einer jungen Jüdin, dem Ghetto entflohen. Partisanin, durch deutsche Offiziere, „junge / Leute, tadellos uniformiert, / mit tadellosen Gesichtern, / ihre Haltung / ist einwandfrei“. Wir wissen, was geschehen ist; durch ein Foto ist das Mädchen Bajla Gelblung herausgehoben aus der Anonymität millionenfachen Sterbens, von diesem Sterben muß der Dichter nicht sprechen, wir wissen es, aber: Da sind die Tadellosen und Einwandfreien, und das Phänomen des Faschismus ist radikal demaskiert, nicht um irgendeine, sondern um die korrekte Barbarei handelte es sich, und der intensive Schock, den die deskriptive Sachlichkeit dieses Gedichts auslöst, läßt kein Ausweichen vor der Schuld zu, zeigt ein Wesen der Schuld, wie es gemeinhin nicht vermutet wird.
Glaube, christlicher Glaube. Lassen wir die Verwirrungen beiseite, die solchen Begriffen wie „christliche Lyrik“ entspringen, den Definitionen jener Art Dichtung, wo der Dichter besiegt ist von der Theologie und das nicht zu seinem Vorteil; denn darum handelt es sich nicht. Es handelt sich einfach darum, daß eine hinter den Dingen stehende Dimension sichtbar wird, wenn eine alte Deutung des Wachtelschlags, er bedeute „Lobet Gott“, wieder aufgenommen wird, wenn nach einem fast burlesken Idyll vom „Weihnachtsgetier“ die Weihnachtsgeschichte so evoziert wird:

wir kennen da eine Geschichte,
die ist wie wir – eine große
Finsternis unter den Himmeln,
darin die Winter fahren mit Flügeln rot, umglänzt
von silbernen Stimmen.

Und im Gedicht „Immer zu benennen“ ist der Glaube auf Möglichkeit nur begründet:

War da ein Gott
und im Fleisch,
und könnte mich rufen, ich würd
umhergehen, ich würd
warten ein wenig.

So ist es dann an uns, die Konditionalform durch den tatsächlichen Präsens zu ersetzen. Im Gedicht „Nänie“, das Dietrich Buxtehude gewidmet ist, wird – und das ist zugleich Aussage über Kunst überhaupt – dem „mörderischen concentus der Welt“ gegenübergestellt dies:

Ueber der Bucht,
weit,
über dem Regen
farbenstrahlend aus Nebeln
der Bogen – Frieden
ist uns versprochen.

Schließlich Humor, der von Bitterkeit freie Humor des schwermütig Nachdenklichen. Ausdruck einer fröhlichen Gewißheit, die selbst den Gedanken und die Bilder des Todes heiter macht – dem begegnen wir immer wieder.
Aber noch ein Wort von der Leichtigkeit der Bobrowskischen Verse, dieser freien Rhythmen verborgener Kunstfertigkeit, die zuweilen an antike Versmaße angrenzen und anderswo an Verwandlungen von Volksliedformen. In dem Gedicht „Der Muschelbläser“, das ich als eines der schönsten dieses Bandes empfinde, beschwört der Dichter seinen „Freund“, den „Luftgeist“, und klagt:

…und ich lernte schon dies und dies
bei ihm, nur lern ich nicht, wie er so
leicht nur zu ruhen, an den Rand gelehnt nur
der Dunkelheit und immer im Lichten noch,
und kindlich runden Augs zu erwachen bald.

Das verlockt mich zum Widerspruch. In seinen Gedichten hat Johannes Bobrowski diese Leichtigkeit, diese schwebende Vollkommenheit.

Helmut Ullrich, Neue Zeit, 28.7.1963

Schattenland Ströme

Es ist noch nicht lange her, da mit dem ersten Gedichtband von Johannes Bobrowski eine lyrische Stimme vernehmbar wurde, die durch ihren tiefen Ernst, ihre Reife und sprachliche Eigenwilligkeit überraschte und alsogleich auch bei der Kritik einmütigen Respekt gewann. Das geschieht heute nicht sehr oft auf der lrischen Szene. Die großen Veränderungen, die nach dem Kriege unsere Dichtung formiert haben, sind vorbei. Es gibt seit einigen Jahren eigentlich nur noch Variationen…

Bobrowskis lyrischer Ton ist weniger neu als eigenwillig. Er besitzt eine Diktion, die merklich von dem, was in den letzten Jahren an lyrischer Chiffre geprägt wurde, abweicht. Das Verspielte wie das Groteske, das Sybillinische wie die geometrische Wortformation finden bei ihm keinen Platz. Er gibt dem Wort, der lyrischen Strophe einen tiefen Ernst und eine hohe Würde (ohne dabei feierlich zu sein) zurück, die wir schon verloren glaubten. Seine Sprache ist aus Trauer gemacht, von Visionen und schwarzen Gesichten bevölkert; alles, was er mit dem Worte berührt, scheint sich ihm in Schwermut und Schmerz zu verwandeln:

Abends,
der Strom ertönt,
der schwere Atem der Wälder,
Himmel, beflogen
von schreienden Vögeln, Küsten
der Finsternis, alt

Das klingt archaisch und klingt doch heutig, das spricht über Landschaft und auch über Geschichte, drückt Endzeit und auch Hoffnung aus. Und wenn dann etwas später folgt:

Menschlich hab ich gelebt,
zu zählen vergessen die Tore,
die öffnen. An die verschlossenen
hab ich gepocht

So erinnert das nicht nur von obenhin an existentielle Grundmuster. Bobrowski webt das zusammen, nahtlos (wie Babel die Sprache der Bibel und die der Revolution, ihm hat er auch ein lyrisches Porträt gewidmet), er setzt Abstraktes in Bilder um, ohne dabei in die wuchernde Metaphysik zu versinken, die inzwischen eine Gefahr unserer Lyrik geworden ist.
So vermag Bobrowski anzurühren. Und das in einem noblen Sinne. Wie ist das heute noch möglich „anzurühren“, ohne rührselig zu sein? Die Verwandlung geht von seiner Sprache aus. Sie ist karg, erdhaft, schwer geballt, voller Abbreviaturen…
Do wo Sentiments, Gefühle heißt werden könnten, setzt er ein System von Unterbrechungen an. Er ritzt Gedanken, Erinnerungen, Träume, Bilder nur an, fügt neue hinzu, tuscht einen Hauch von Magie über das Ganze. So baut er seine Poesie: mit Bruchstücken unserer Wirklichkeit. Am Ende stellt es sich heraus, daß diese mehr sind als nur „unsere“ Wirklichkeit.
Seine „poesie noir“ erhält flackernde Lichter, gerade durch diese Reihung von Assoziationen, die, knapp formuliert, die Schwärze immer wieder aufreißen. Nicht von ungefähr kommt es, daß er mehr als ein anderer Lyriker seiner Generation eine Vorliebe für Substantive, für Dingworte besitzt. („Dinglichkeit sollte man dem Nachwuchs empfehlen“, rät Lehmann.) In einem sehr schönen Gedicht „Gedankenblatt“ heißt es am Anfang:

Jahre, Spinnenfäden
– es sind die Zigeuner gezogen…

So kettet er, in Andeutungen, in flackernden Feuern, geradezu eine balladeske Begebenheit fort, ein „Gedenkblatt für die Zigeuner, die in der litauischen Heimat des Dichters einst dahinzogen und nun durch Krieg und KZ entschwunden sind“.
Die Welt Litauens, der östlichen Wälder und Flüsse, der alten Bauern und Fischer, die Mystik Hamans und die rätselvolle Weisheit Babels, ist (wie schon in seinem ersten Band), das Thema auch dieser Gedichte. Das Schattenland der Ströme. Wie dort sind auch hier wiederum seine stärksten Arbeiten die „lyrischen Porträts“: Chatterton, Babel, Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs, Peter Bezruč, Hamann, Mickiewicz, und vor allem das Gedicht auf die unvergessene Gertrud Kolmar:

Wir werden nicht sterben, wir werden
mit Türmen gegürtet sein.

Bobrowski lebt in Ost-Berlin, zurückgezogen, einsam, kaum beachtet. Spät hat er den Weg zur Veröffentlichung gefunden; er ist heute 45 Jahre alt. Spüren wir deshalb seine Gedichte so schwer auf unseren Zungen und in unserem Gedächtnis, weil wir ahnen, daß sie aus „Existenz“ gemacht sind? Wir brauchen solche Gedichte, die uns auf andere Art so große Hoffnung geben:

Wir werden nicht sterben, wir werden mit Türmen gegürtet sein.

Host Bienek, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.7.1962

Schattenland Ströme

Der Gedichtband Schattenland Ströme schließt unmittelbar an Bobrowskis ersten Gedichtband Sarmatische Zeit an und ist in den älteren Texten (1955–1957) noch direkter Bestandteil des Sarmatischen Divans, jenes Plans einer lyrischen Enzyklopädie seiner östlichen Erfahrungswelt, den Bobrowski später aufgab. Das heißt, diese Texte wurden von Bobrowski zurückgehalten, als er den ersten Band endgültig zusammenstellte. Teilweise gehörten sie schon zur anfänglichen Konzeption des ersten Bandes von Ende 1959
Als Bobrowski am 24. Oktober 1960 die Umbruchkorrektur des ersten Gedichtbandes erhielt, schrieb er am nächsten Tag an die Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart:

Ich werde ohne Schielen und Zwinkern den zweiten Gedichtband fertigschreiben, bis Ende nächsten Jahres wahrscheinlich. Dann hab ich das Sarmatische Thema und Kindheit und alles zuende gebracht. Dann ist das Feld frei für Prosa.

Ein vorläufiges Manuskript von sechzig Gedichten lieferte Bobrowski bereits am 26. Mai 1961 in Stuttgart ab, als er in Tübingen die Jahresversammlung der Hölderlin-Gesellschaft besuchte. Am 2. Juni ließ er noch die beiden inzwischen entstandenen Gedichte „Hölderlin in Tübingen“ und „Die Tomsker Straße“ folgen. Am 17. Juli 1961 unterzeichnete er den Vertrag mit der Deutschen Verlags-Anstalt. Als diese aus Umfangs- und Preisgründen nachträglich um Kürzung des Manuskripts bat, schlug Bobrowski am 22. August dafür die Gedichte „Landung in Yucatan“, „In der Reuse Zeit“, „Im Mühlenwind“, „Altes Lied“ und eventuell „Ostern“ (das aber nicht gestrichen wurde) vor, fügte jedoch „An Nelly Sachs“ noch hinzu. Im März 1962 erschien der zweite Gedichtband in Stuttgart in einer Auflage von 3.000 Exemplaren, mit einer Radierung von Bobrowskis Freund Christoph Meckel auf dem Einband. Am 4. Juli 1962 folgte der Vertragsabschluß mit dem Union Verlag Berlin über den gleichen Band in derselben Auflagenhöhe; er erschien im Mai 1963.
Zum Titel eines zweiten Gedichtbandes schrieb Bobrowski am 14.8.1959 an Peter Jokostra:

Wenn nämlich der Stomps wirklich den Band Sarmatische Zeit macht, dann will ich in weiser Voraussicht den nächsten zusammenstellen: STROMGEDICHT.

Da das so betitelte große Gedicht vom 11.5.1959 zunächst monatelang ohne Titel blieb, war damit noch das „Stromgedicht“ vom 20.6.1958 gemeint, das später beiseitegelegt wurde. Als das zweite „Stromgedicht“ noch in SZ aufgenommen wurde, war für den zweiten Band ein neuer Titel zu finden. Im August 1960 und noch im März 1961 sollte er Wetterzeichen heißen (an Chr. Meckel 15.8.1960, an J. Moras 21.3.1961). Das bezog sich zuerst auf das kleine „Wetterzeichen“-Gedicht vom 29.6.1960, dann auf das große vom 23.11.1960. Am 5. Mai 1961 sollte der Band nach dem Eingangsgedicht „Der Wachtelschlag“ heißen (an Chr. Meckel). Im Juni und noch im Dezember 1961 dachte Bobrowski an Der Brunnen und der Strom bzw. Brunnen und Strom und wollte damit den engeren, heimatlichen und den größeren, panslawischen Themenkreis der Gedichte zusammenschließen; dazu hatte er am 13.5.1961 eigens ein so betiteltes Gedicht geschrieben (an Chr. Meckel 5.6. und 15.12.1961), aus dem später das Gedicht „Auf einen Brunnen“ hervorging. Den Titel Der Brunnen und der Strom enthielt auch der Verlagsvertrag vom 17. Juli 1961. Schon am 3.11.1961 schien er Bobrowski ein bißchen verdächtig, von wegen Allegorie (an Lektor Felix Berner). Am 20.11. schlug er Schattenland Ströme vor und schrieb dazu:

Die beiden Vokabeln, so einfach nebeneinandergestellt, müßten (hoff ich) Assoziationen erwecken, die auf eine Art magischer Figur hinauslaufen. Und darauf kam es an.

In den Umbruchkorrekturen des Bandes änderte Bobrowski am 8. Dezember den Titel entsprechend und nahm das Gedicht „Der Brunnen und der Strom“ heraus (es stand nach dem Gedicht „An Nelly Sachs“).
Von dem Gedichtband ist keine Handschrift, jedoch das Satzmanuskript der Ausgabe des Union Verlages erhalten. Das Typoskript – ein Durchschlag – enthält einige handschriftliche Korrekturen Bobrowskis, aber nicht mehr den Titel Der Brunnen und der Strom und das gleichnamige Gedicht wie noch das Korrekturbogenexemplar der Stuttgarter Ausgabe. Auf das ursprünglich vorgesehene Gedicht „In der Reuse Zeit“ weist die gestrichene Anmerkung dazu. In der Stuttgarter Ausgabe ist sie versehentlich stehengeblieben
Von drei Gedichten sind ältere Fassungen in Rb. erhalten, daneben zwei Einzelhandschriften. Dem Abdruck der Gedichte ist der Erstdruck des Bandes Schattenland Ströme zugrundegelegt. Die Textverteilung in der Stuttgarter und Berliner Ausgabe ist seitengleich.

Eberhard Haufe, aus Johannes Bobrowski: Erläuterungen der Gedichte und der Gedichte aus dem Nachlass, Gesammelte Werke Band 5, Deutsche Verlags-Anstalt, 1998

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Walter Helmut Fritz: „Schattenland Ströme“
Deutsche Zeitung, 28./29. 7. 1962

Eberhard Haufe: „Schattenland Ströme“. Zur Genesis eines Gedichtbandtitels von Johannes Bobrowski
Norbert Honsza / Hans-Gert Roloff (Hg.): Daß eine Nation die andere verstehen möge, 1988

 

Bobrowskis Konzeption eines „Sarmatischen Divan“

und die Genese der Gedichtbandtitel Sarmatische Zeit

und Schattenland Ströme

(…)
Damit kommen wir zu dem zweiten Gedichtband, dessen Titel Schattenland Ströme die sarmatische Landschaft scheinbar direkter, durch die bindewortlose Koppelung beider Substantive aber auch schwieriger darstellt. Diesen zweiten Band sah Bobrowski im engsten Zusammenhang mit dem ersten, d.h. beide zusammen wenigstens als Umriß dessen, was der spätestens 1959 aufgegebene Großplan des „Sarmatischen Divan“ gemeint hatte. Als er am 25. Oktober 1960 die Umbruchkorrekturen der Sarmatischen Zeit erhielt, schrieb er an den Verlag nach Stuttgart:

Ich werde ohne Schielen und Zwinkern den zweiten Gedichtband fertigschreiben, bis Ende nächsten Jahres wahrscheinlich. Dann hab ich das sarmatische Thema und Kindheit und alles zuende gebracht. Dann ist das Feld frei für Prosa.

Weit früher schon, im Mai 1961, lieferte Bobrowski ein vorläufiges Manuskript nach Stuttgart ab; der Vertragsabschluß für den ersten Band vom 7. Juni 1960 hatte, aller Skepsis zum Trotz, einen solchen schöpferischen Impetus ausgelöst, daß schon ein Jahr darauf der zweite Band, ein halbes Jahr früher als gemutmaßt, fertig vorlag. Im Vertrag vom 17. Juli 1961 hieß er „Der Brunnen und der Strom“.
Das war keineswegs die erste Titelgebung. Nach der Sarmatischen Zeit war es schwer, für den zweiten Band einen ebenso umfassenden wie charakteristischen Titel zu finden. Der früheste steht schon im Brief vom 14. August 1959 an Peter Jokostra:

Wenn nämlich der Stomps wirklich den Band Sarmatische Zeit macht, dann will ich in weiser Voraussicht den nächsten zusammenstellen: STROMGEDICHT.

Das bezog sich entweder auf ein so betiteltes kleines Gedicht vom Juni 1958, das wohl erst beiseitegelegt wurde, als Bobrowski seine Anfangsverse Ende Januar 1960 in das Gedicht „Gedächtnis für einen Flußfischer“ aufnahm, – oder schon auf das große „Stromgedicht“ vom 11. Mai 1959, das zunächst aber offenbar monatelang ohne Titel blieb. Wie auch immer: die genaue Entsprechung zur ersten Titelgebung des ersten Bandes springt ins Auge. Beide Male gibt es ein Titelgedicht, beide Male die direkte motivische Anknüpfung an die so prinzipiell verstandenen Oden „Die Ebene“ und „der Strom“ von 1944. Sehen wir uns von den beiden „Stromgedichten“ das zweite, das große von 1959 an:

STROMGEDICHT

Traum,
jählings,
aus Feuern der Habichtsnacht,
Tierzug,
Blitz unter reglosem Lid
vor, Pfeilbündel Schilf,
wo der Otter, ein Herzsprung,
taucht.

Vor den Aufschein,
die weiße
Mauer aus Licht,
vor den steigenden
Horizont, von Geschrei überglänzt,
von der Tiefe erhoben,
über die Finsternis,
dem ruhlosen Tierherz,
Fraß und Brut,

tritt der Strom,
er kommt
waffenlos, ein anderer
Held, der schlang seine Kindheit
ein, es ist der Wald nun
die Speise und folgt ihm

an den Berg,
an die Schwärze auf
– der Kalmus im Schwerttanz
glänzt vor dem Tag –
in das Dunkel der Brüche

bis an das Dunstland: Inseln,
schwebend, Morast, gestürzte
Tore, eingesunkene
Bögen, Fahnen aus Vogelgeripp
und Tang –
auf dem Schlick
stirbt er, auf den Watten
noch Spur seines Atems, Möwen
decken sie zu.

Traum,
mit des Habichts Schrei
endend, dem Rauschen,
hoch,
Zeichen an bläulicher Wand,
gekratzt in den Mörtel,
mit dem Nagelrand, Bild,
Abbild,
sarmatisch,

lange
folg ich dir,
Strom,
an Rändern der Wälder,
ermattend
leicht, im alten
Zinn ein Geräusch.

Von diesem Gedicht schrieb Bobrowski einen Monat nach der Niederschrift an Peter Jokostra:

lm Gedicht ging es nur um die Gestalt, sozusagen, eines ganzen Stromes – Größenordnung etwa zwischen Düna und Wolga. Daher die Länge. Und dann: Auf Einzelschönheiten, sozusagen, kam es nicht an. Ich bin entschlossen, es für den Höhepunkt der letzten Jahre zu halten, sonst kann ich nicht weiterschreiben.

Das griff die Intention der kurländischen Ode in aller Deutlichkeit auf („Das Prinzip etwa des Stroms… zu fügen“). Was das Gedicht zu einem wirklichen, freilich auch schwierigen „Höhepunkt“ der sarmatischen Lyrik Bobrowskis macht, ist die völlige Tilgung des bisher vorherrschenden Erinnerungsgestus, ist die aufs äußerste gesteigerte poetisch-visionäre Gegenwärtigkeit seines Gegenstandes bei gleichzeitig größter Ferne von aller Realität. Diese Vision heißt hier „Traum“. Wie er mit Tieraug und Habichtsnacht in visionärer Schärfe einsetzt, so endet er „mit des Habichts Schrei“, nur daß damit das Gedicht noch nicht endet. Die noch folgenden Verse setzen das mit dem Fingernagel in die Wand eingekratzte „Abbild“ des Stroms in engsten Bezug zu dem Traum, mit ihm wohl gar gleich. Denn indem das Ermatten des Ich zugleich „lm alten / Zinn ein Geräusch“ ist, findet am Schluß das Verfolgen des Stroms unmittelbar im Zimmer des Sprechenden statt, dort, wo das Abbild des Stroms als eine Art Beschwörungszeichen in den Mörtel gekratzt ist.
Im Gegensatz zur „Sarmatischen Ebene“ wird der Strom nicht angeredet. Aber mit den Worten „er kommt / waffenlos, ein anderer / Held, er schlang seine Kindheit / ein“ gelangt er versweise zur gleichen mythischen Personalität. Wird diese durch die scharfen Naturdetails reduziert, so bleibt sie doch bis zum Ende des Traums erkennbar, so wenn der Strom „stirbt“ und die Möwen die „Spur seines Atems“ zudecken. Dazu gehört in genauer Entsprechung die Nennung des sarmatischen Namens, freilich erst mit dem Abbild des Stroms an der Wand. Nur die Vokabel „sarmatisch“ öffnet hier ganz assoziativ auch die historische Dimension, die in der „Sarmatischen Ebene“ den zweiten Teil des Gedichts durchweg bestimmt.
Erst von diesem zweiten „Stromgedicht“ möchte man glauben, daß es anfangs als Titelgedicht des zweiten Bandes dienen sollte. Da es aber noch in den ersten Band aufgenommen wurde, mußte für den zweiten ein neuer Titel gefunden werden. Im August 1960 und noch im März 1961 dachte Bobrowski an Wetterzeichen. Das bezog sich abermals auf zwei Gedichte, ein dreistrophiges vom 29. Juni 1960, das allzu summarisch, vollmundig und verklärend redet, und auf das große „Wetterzeichen“-Gedicht vom 23. November desselben Jahres, das seinen gewichtigen Platz am Schluß der ersten Abteilung des zweiten Bandes erhielt. Hier wieder nur das zweite Gedicht:

WETTERZEICHEN

Mit dem Fluß hinab,
dem Wiesenfluß
und den wilden Gerüchen
der Wälder, redend
laut mit dem Sommerlicht

und den Vögeln
gegen den Abend, im Dunkel
den Fledermäusen – im Winkelflug
fuhren sie auf und hinab
um eine Scheuer mit kleinen
Drachenflügeln – redend
kam ich hierher, hier bin ich,

auf dem Sandberg, ins trockne Moos
setzt ich den Fuß, den breiten
Himmel hab ich getragen,
die atmenden Lüfte, ich schwanke,
es ist ein Rauschen, ich hör
in der dröhnenden Finsternis,

hör auf den Fluß, er lag
über dem Sand, die Hände
führte der Wind ihm,
der Sommer kam

mit Ermattungen, mit
Blut in den Augen, zuckenden
Schläfen, den Mund voll Rost,

aber er führte die Hände
meinem Fluß, der den Feuern
geht im Schatten der Fische,
im Schatten des Schilfs entgegen,
im Schatten der Bäume –

Flamme, flieg, die Küsten
fahren einwärts ins Land,
lautlos, wehend von Dünen,
um das verlassene Meer
sinken die Steine – Feuer,
leg in den Sturm die Schwingen
wie Rauch, er trägt vor den Wettern
dich, vor der rasenden Stille,

eh die Himmel brechen,
die siedenden Wetter, zerbrochen
die Lüfte dann, auf dem Sand
reglos der Fluß

und die Hügel getroffen,
ich halt einen Baum, ich red noch:
Wir sahen kommen die Zeichen
und schwinden, her durch die Stille
zwei Federn fielen herab.

Zu dem schwierigen, zeichen- und bilderreichen Gedicht sei hier nur bemerkt, was aus dem Vergleich mit anderen Gedichten hervorgeht, daß nämlich mit dem „Wiesenfluß“ die Jura, mit dem „Sandberg“ der kleine Friedhofshügel von Motzischken an der Jura gemeint ist, also jene großelterliche Ferien- und Kindheitslandschaft auf der litauischen Memelseite, von der Bobrowski gern so sprach, als sei dies seine alleinige Kindheitswelt gewesen. Ober diese Landschaft bricht eine Wetterkatastrophe herein, die zuletzt apokalyptische Züge annimmt, d.h. in der Sprache der Naturzeichen offenbar Verlust und Untergang dieser Welt ankündigend umschreibt, also auf den Zweiten Weltkrieg zu beziehen ist. „Wir sahen kommen die Zeichen / und schwinden“ – das erinnert als karge Zusammenfassung an mehrere Bibelstellen, vor allem an Lukas 21,11 „Auch werden Schrecknisse und große Zeichen vom Himmel geschehen“, womit Jesus vom künftigen Untergang Jerusalems spricht.
Auch der Titel dieses außerordentlichen Gedichts wurde als Bandtitel wieder fallengelassen, vielleicht weil er mit nichts auf die sarmatische Landschaft wies. Sollte er im März 1961 noch gelten, so schrieb Bobrowski am 5. Mai überraschend an Christoph Meckel, der Band sei abgeschlossen und heiße „Der Wachtelschlag“, „weil der Titel das Zentralgedicht ist, das die dreiteilige Anlage beider Bändchen zusammennimmt“. Das große Eingangsgedicht des zweiten Bandes war im Februar 1961 entstanden. Indem es die litauische Kindheitslandschaft, mit Mickiewicz-Assoziationen die polnische Geschichte und heidnische Vorzeit Sarmatiens und die Bilderwelt der russischen Holzkirchen traumhaft verknüpfte, reflektierte es tatsächlich die Dreigliederung beider Gedichtbände in Gedichte auf die ostpreußisch-litauische Jugendwelt, in Porträtgedichte und in solche auf die im Krieg erfahrene russische Welt.

Als Bandtitel war dieser Titel freilich ebenso wenig sarmatisch als Wetterzeichen. So hieß der zweite Band schon kurz darauf, scheinbar endgültig, „Der Brunnen und der Strom“. Ein so betiteltes Gedicht war am 13. Mai entstanden, am 5. Juni schrieb Bobrowski an Meckel, der neue Bandtitel solle „den engeren, heimatlichen und den größeren, panslawischen Themenkreis zusammenschließen“. Im Verlagsvertrag vom 17. Juli 1961 heißt der Band ebenso. Das Titelgedicht war bisher nur in seiner überarbeiteten Gestalt als „Auf einen Brunnen“ aus dem Band Wetterzeichen bekannt. Auch dieses Gedicht vom zerberstenden Brunnen, vom versiegenden Wasser, vom verdorrenden Moos meint, indem es vom Lied der Flößer und vom Kaftanjuden spricht, allein und deutlich den Untergang der Heimat, leistete deshalb als Titelgedicht jenen Zusammenschluß des heimatlichen und des panslawischen Themenkreises gerade nicht, den Bobrowski intendierte. Völlig andere kritische Erwägungen traten ganz zuletzt hinzu und führten – im fünften Anlauf – erst in letzter Minute zu dem endgültigen Titel, auch diese Mal erst, als Bobrowski sich von der fixen Idee eines Titelgedichtes ebenso frei machte wie bei der Titelgebung des ersten Bandes.
Das läßt sich genau belegen. Am 25. Oktober 1961 kündigte Felix Berner, der verdienstvolle Lektor in Stuttgart, die Korrekturen des zweiten Bandes an. Daraufhin schloß Bobrowski seinen Antwortbrief vom 3. November mit der Bemerkung.

Der Titel Der Brunnen und der Strom ist mir inzwischen ein bißchen verdächtig, von wegen Allegorie. Wenn Sie einen besseren wüßten…

Berner wollte bei dem bisherigen bleiben, es sei denn, daß Bobrowski „etwas sehr viel Besseres und sehr bald“ einfiele. Daraufhin schrieb dieser am 20. November:

Am liebsten wär mir Schattenland Ströme und dann darunter Gedichte, weiter nichts. Ich will natürlich nicht darauf bestehen. Es wär mit bloß lieb, weil meine Erfahrungen aus Lesungen besagen, daß das Mißverständnis, ich wollte mit Allegorien wirtschaften, ziemlich nahe liegt. Die beiden Vokabeln, so einfach zueinander gestellt, müßten (hoff ich) Assoziationen erwecken, die auf eine Art magischer Figur hinauslaufen. Und darauf käm es an.

In Stuttgart fand man den neuen Titel „tatsächlich besser“. Da aber der Band schon gesetzt war, konnte die Titeländerung erst in der Umbruchkorrektur erfolgen, die Bobrowski am 8. Dezember zurückschickte. Das Titelgedicht „Der Brunnen und der Strom“ nahm er heraus.
Was Bobrowski anstrebte, im Bandtitel „eine Art magischer Figur bezeichnete keine eigentlich neue Schreibintention. Daß der Vers „wahrscheinlich wieder mehr Zauberspruch, Beschwörungsformel“ werden müsse, hatte – wir erinnern uns – schon in einem Brief von 1959 gestanden. „Zauberspruch“, „Beschwörungsformel“ und nun „magische Figur“ – das bindet Bobrowskis Gedichtverständnis rückwärts über den Symbolismus hinweg an die deutsche Romantik bis hin zu ihren Wurzeln bei Herder und Hamann.
Mit den „Strömen“ knüpfte auch der endgültige Bandtitel noch an die beiden früheren Titelgebungen „Stromgedicht“ und „Der Brunnen und der Strom“ an, nur daß der artikellose Plural nun Größenordnungen der sarmatischen Landschaft beschwört, die an sinnlich-poetischer Kraft den ersten Bandtitel Sarmatische Zeit sogar übertreffen. Seine eigentümliche Färbung und Tiefe erhält er aber erst von dem Wort „Schattenland“, das eine Neufindung Bobrowskis war. In seinen bisherigen Gedichten, einschließlich denen des zweiten Bandes, kam er nicht vor. Das so betitelte Gedicht „Schattenland“ entstand erst am 30. Januar 1962. Weisen die „Ströme“, wenn in den Versen ihre Namen fallen, noch auf die geographische Wirklichkeit, so bezeichnet die Vokabel „Schattenland“ im Bandtitel allein und machtvoll den besonderen imaginären Status der Welt dieser Gedichte.
Was es bisher schon gab, war der vertiefte, vor allem personale Gebrauch der „Schatten“-Vokabel, wie er für die Gedichte ab 1960 als charakteristisch gelten darf. Im Gedicht „Der Ilmensee 1941“ vom Juni 1959 erscheint ein „Schattengesicht“, als pure Vokabel vermutlich aus der Schlußstrophe von Bürgers Ballade „Des Pfarrers Tochter von Taubenhain“ ebenso entlehnt, wie die „Schattenfabel von den Verschuldungen / und der Sühnung“ in dem späteren Gedicht „An Klopstock“ aus Herders Gedicht „Mein Schicksal“ genommen ist („Meines Lebens verworrene / Schattenfabel! / o frühe begann sie schon“). Zum Schluß des Gedichts „Seestück“ („windlos, Nacht, ich fahr, / Schattengestalt“) hat Bobrowski zu Vandenbroeck ausdrücklich erklärt, er habe die Vokabel „Schattengestalt“ bei Herder gefunden. Das dürfte sich besonders auf den letzten Abschnitt des 2. Kapitels des 8. Buchs der „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ beziehen („Großer Geist der Erde, mit welchem Blicke überdauerst du alle Schattengestalten und Träume, die sich auf unserer Kugel jagen!“) Mit „Schattengestalten“ als Einwortvers schließt auch Klopstocks, des geliebten „ Zuchtmeisters“, Landschaftsode „Die Roßtrappe“. Für die „Schatten“ insgesamt ist vor allem auf die ersten Sätze des 15. Buches der „Ideen“ zu weisen (die gesamte Einleitung gehörte zu Bobrowskis Lieblingstexten):

Wie Schatten gingen uns Ägypten, Persien, Griechenland, Rom vorüber, wie Schatten steigen sie aus den Gräbern hervor und zeigen sich in der Geschichte.

Daß wir auf Erden nur „Schatten“ und „Schattengestalten“ sind, ist eine zentrale Vorstellung Herders. „Denn Schatten sind wir, und unsere Phantasie dichtet nur Schattenträume“ heißt es kurz nach dem ersten „Ideen“-Zitat.
Das Gedicht „Dorfkirche 1942“ von 1960 kennt zwar kein Ich, aber wen sollten die Worte „der auf den Höhen umher / geht, finster, der eigene / Schatten“ meinen, wenn nicht den, der die Verse spricht. Offenbar ist er nur als Schatten überhaupt gemeint. Vor der zerstörten russischen Dorfkirche der deutsche Soldat Johannes Bobrowski als Schatten finster – so handfest ist hier das Bild zu verstehen. Da verbindet sich der existentielle Sinn der Schatten-Vokabel mit dem vehement moralischen. Das Unwirklich-Unmenschliche der eigenen Existenz als Soldat der Hitler-Wehrmacht in Nordrußland und die eigene Mitschuld sind im Schattenwort poetisch eins. Bleibt es in dem Gedicht „Seestück“ noch offen, wenn auch wahrscheinlich, daß mit „Schattengestalt“ der eigene Tod in den Blick kommt, so begegnet der „Schatten“ in den Gedichten des Bandes Wetterzeichen ganz betont als hiesige Existenzform des Gestorbenseins. Damit geht Bobrowskis „Schatten“- Begriff über Herder hinweg unmittelbar auf den antiken Glauben zurück, daß die Toten als Schatten in der Unterwelt des Hades ein Scheindasein fortführen. Von dorther konnte Schatten leicht auch zur gespenstischen Erscheinung oder zum bloßen oder geisterhaften Erinnerungsbild, zum betont Unwirklichen einer Erscheinung oder zum Abbild höherer Wirklichkeit werden. In all diesen und verwandten Bedeutungen findet sich das Wort bei Klopstock, Hamann, Herder, Bürger, Goethe, Schiller, Hölderlin und Jean Paul.
Bei dem von Bobrowski früh genau gekannten Hölderlin bezeichnet der antike Schatten-Totenbegriff in drei zentralen Texten irdisch-hiesige Existenz in ihrer Glücklosigkeit, in Liebes- und Gottesferne. Zweimal geht es um das verlassene, einsame Ich in seinem reduzierten Dasein:

wenig lebt ich; doch atmet kalt
Mein Abend schon. Und stille, den Schatten gleich,
Bin ich schon hier

(„An die Hoffnung“);

auch mich hab ich verloren mit ihr,
Darum irr ich umher, und wohl, wie die Schatten, so muß ich
Leben
(„Menons Klagen an Diotima“).

In der Schlußstrophe der Elegie „Brot und Wein“ heißt es in der gegenwärtigen Zeit der Nacht und Gottesferne von den Menschen, an denen von einstiger Wahrsagung zwar „so vieles geschieht“, aber „Keines wirket“, lapidar: „denn wir sind herzlos, Schatten“; drei Verse später tritt Christus als „Fackelschwinger“ „unter die Schatten herab“. Von solcher Verwendung der Schatten-Vokabel scheint Bobrowskis Wortgebrauch vornehmlich inspiriert zu sein, wo er nicht der eindeutigen Totenexistenz gilt. Wenn es in dem Gedicht „Hölderlin in Tübingen“ heißt: „vor dieser Tür / ging der Schatten, er ist / gefallen auf einen Fluß / Neckar“, so meint das nicht nur den Schatten, den die Gestalt Hölderlins wirft, sondern den wahnsinnigen Dichter auch selbst in seiner reduzierten, schemenhaft gewordenen Existenz.
In der Assoziationsbreite und -tiefe des solcherart weither vermittelten „Schatten“-Begriffs fand Bobrowski die Möglichkeit, sowohl das Uneigentliche samt der Schuldbeladenheit seiner Existenz als deutscher Soldat im Krieg am Ilmensee als auch das unwiderrufliche Vergangen- und Verlorensein der sarmatischen Kindheitswelt, gleichzeitig aber auch beider im Bewußtsein noch immer bedrängende innere Gegenwart in ein knappes Bild zu bringen, ein Bild, das, wie so vieles in seinen Gedichten, an alte und ehrwürdige Traditionen in Freiheit und doch fester anknüpft, als es zunächst den Anschein hat. So deutet auch das Wort „Schattenland“, das ihm zumindest aus Schillers „Lied von der Glocke“ („Denn sie wohnt im Schattenlande, / Die des Hauses Mutter war“) früh vertraut war, im Titel des zweiten Gedichtbandes auf beides hin: auf den schuldhaft-unwiderbringlichen Verlust der einstigen Heimat wie auf die eigentümlich innere Präsenz dieser und der gesamten im Krieg erfahrenen sarmatischen Welt im Bewußtsein des Dichters.
Zum Schluß sei noch ein kurzer, weil aufschlußreicher Blick auf das gleichnamige Gedicht „Schattanland“ vom 30. Januar 1962 geworfen. Der Bandtitel ist sicherlich umfassender zu verstehen als der Titel des darauffolgenden Gedichtes, aber die Bedeutung des letzteren im ersten allemal mitenthalten.

SCHATTENLAND

Die Raschelstimmen,
Blätter, Vögel, drei Wege
kam ich
vor einem großen Schnee.
Auf dem Ufer, Grannen und Kletten
im Ringelhaar, mit ihren Hunden
Ragana schrie nach dem Fährmann, im Wasser
stand er, mitten im Fluß.
Einmal
folgend den Nebeln,
über die Senke mit goldenen Flügeln
zogen die Trappen, sie setzten
auf die Gräser den hornigen Fuß,
Licht flog, der Tag ihnen nach.

Kalt. Auf der Spitze des Grashalms
die Leere weiß
bis an den Himmel. Der Baum
aber alt, dort ist
ein Ufer, Nebel mit dünnen
Gelenken gehn auf dem Fluß.

Finsternis, wer hier lebt,
spricht mit des Vogels Stimme.
Ausgefahren sind
Windlichter über den Wäldern.

Kein Atem hat sie bewegt.

Das Gesamt dieser geisterhaften Landschaft ist nach der Überschrift „Schattenland“. Wohin sie gehört, zeigt der fremde Name in der ersten Versgruppe an. „Ragana“ ist eine zauberkundige, unheilbringende Hexe der litauisch-lettischen Mythologie. Wenn nicht direkt noch aus dem Volksglauben, so kannte sie Bobrowski zumindest aus Alfred Busts vergessenem Roman Die verlorene Erde (1926), den er besaß und der ihn mit seiner pruzzisch-littauisch-jüdischen Welt in der Jugend stark beeindruckte. Gleich im zweiten Kapitel ist von einer Spukgestalt an der Memel die Rede, die im Volk Ragana heißt und die in großen Abständen in eine Menschenfrau eingeht und während dieser Zeit nicht spukt. So weist die Ragana des Gedichts abermals in Bobrowskis Jugendwelt zurück: vielleicht daß mit dem „Fluß“ auch hier an die litauische Jura gedacht ist.
Zu dem Gedicht hat sich der aufschlußreiche viel korrigierte handschriftliche Entwurf erhalten. Darin lauten die Verse 5–7:

Hekate über dem Ufer, das Ringelhaar
voll Kletten, mit ihren Hunden
schrie nach dem Fährmann, im Wasser
stand er mitten im Fluß

Anstelle der litauischen Hexe oder Spukgestalt zuerst die spätantike Göttin der Geister und Gespenster – das klärt die Szenerie der ganzen Versgruppe auf. Hekate führt nach antiker Sage mit ihren Hunden das nächtliche Geisterheer an; als Herrscherin der Unter- und Totenwelt ist sie eng verbunden mit Charon, dem Fährmann über den Acheron; ihr bevorzugter Aufenthaltsort sind die Kreuz- und Dreiwege. Der Fährmann, die Hunde, die drei Wege sind in der Überarbeitung stehen geblieben. So ist Bobrowskis Ragana eine litauische Hekate, die antike Gespenster- und Totenlandschaft ragt in die sarmatische Landschaft hinein, und die antike Herkunft der Schattenvokabel im Gedichttitel wird mit Händen greifbar, ohne daß die antiken Vorstellungen auf plane, klassizistisch-„korrekte“ Weise übernommen sind; in der Antike gibt es keinen Charon, der im Acheron steht, keine Hekate, die nach dem Fährmann Charon ruft. Es ist jener freie Umgang mit Elementen der Mythologie, der genau das erreicht, was der Gedichtbandtitel Schattenland Ströme bewirken sollte, das Erwecken von Assoziationen, „die auf eine Art magischer Figur hinauslaufen“.
Auch dieses Gedicht deutet auf den Untergang der sarmatischen Welt. Das Ich kam „vor einem großen Schnee“. In Analogie zum Naturzeichensinn von Schnee und Eis in andern Gedichten heißt das: vor dem großen Unheil, vor dem schuldhaften Verlust und Untergang der Heimat. Noch wird mit dem „Einmal“ der zweiten Versgruppe stellvertretend die einstige Helle dieser Welt in einer fast ätherischen Naturepisode erinnert: Die Trappen zogen „mit goldenen Flügeln“ über die Senke, „Licht flog, der Tag ihnen nach“. Vielleicht daß damit schon angedeutet ist, wie das Leben, wie Licht und Tag diese Welt verlassen werden. Von Licht und Leben fast gänzlich verlassen ist die Landschaft in der dritten und vierten Versgruppe. Sie ist nur noch hadesähnliches „Schattenland“. Daß es hier früher einmal anders war, sagte der Vers „Finsternis, wer hier lebt“ zunächst deutlicher, wenn es in dem Entwurf hieß: „Finsternis, wer hier noch lebt“. Von den „Windlichtern“ über den Wäldern war zunächst zusätzlich gesagt: „Niemand hat sie gehört“. Das meint dasselbe wie der Schlußvers: „Kein Atem hat sie bewegt“, nämlich: da ist niemand mehr, der sie hört, niemand, dessen Atem sich mit ihnen mischt, d.h. – da „niemand“ sich nur auf Menschen beziehen kann – da ist kein Mensch mehr. Dann aber muß „wer hier lebt, / spricht mit des Vogels Stimme“ so verstanden werden, daß hier nur noch Vogelleben existiert, allenfalls in Vogelexistenz verwandeltes Menschenleben (was im Hinblick auf den antik-mythologischen Hintergrund des Gedichts nicht völlig von der Hand zu weisen ist, man denke an die Sage von Alkyone und Keyx, die in Eisvögel verwandelt wurden).
Indem das „Schattenland“ mit seiner eigentlichen Beschreibung in der zweiten Gedichthälfte vom Präteritum ins Präsens rückt, ist es auf imaginäre Art ein gegenwärtig-wirkliches. Es in dieser Gegenwärtigkeit noch auf irgendeine außerpoetische Wirklichkeit zu beziehen, ist nicht statthaft. Es meint nur sich selbst als innere Realität, getragen freilich von einer visionären Kraft der Veranschaulichung. Auf dieser letzten Stufe, so darf wohl gesagt werden, ist die sarmatische Landschaft als „Schattenland“ im extremen Sinn zu einer einzigen großen Metapher für die Grundbefindlichkeit des Dichters geworden. Aber auch das ist als eine Sinnvariante in dem Gedichtbandtitel Schattenland Ströme als assoziationsreiche magische Figur schon mit enthalten. Diese Grundbefindlichkeit wird für das Gedicht „Schattenland“ auf bewegende Art deutlich in dem Brief, den Johannes Bobrowski am gleichen Tag wie den ersten Entwurf des Gedichts an seinen wohl engsten Freund, den Lyriker Max Hölzer in Frankfurt am Main schrieb; man möchte meinen, daß die erste Niederschrift der „Schattenland“-Verse unmittelbar vorausgegangen oder unmittelbar gefolgt sei.

30.1.62
Mein lieber Max, wie soll ichs Dich spüren lassen, was mich immer überkommt, wenn ich Deinen Brief in die Hand nehme, wenn ich an Dich denke, die Bataille-Übertragung lese, mir vorstelle, wie Du jetzt lebst – riesiger Raum, riesige Fenster, Blick zum Taunus, hunderte Manuskriptblätter dann? Ich sehn mich danach, dort irgendwo in der Nähe zu hausen, dann irgendwann vorbeizukommen, ins Fenster zu sehen, ob Du da bist.
Seit Monaten nichts geschrieben, in einer Dürre lebend, die die Erinnerung daran, daß ich ja doch geschrieben habe, wie eine Fata Morgana erscheinen läßt – getrennt von den Freunden, auch den hiesigen – und doch mit einer geradezu eschatologischen Hoffnung, die mich mit einer Ruhe und Sicherheit erfüllt, für die ich die Gründe nicht mehr beibringen kann.
Meine große Sorge: Deine Gedichte […] Wenn man allenthalben sieht, wie die Kellerasseln zum Namen Tausendfuß kommen. Als wär das so irgendwas, Gedichte zu machen, als gäb man nicht an einen Vers seine Gesundheit z.B. dran. Eines Tags fang ich wieder an. Ganz große, leere Räume, nur mit Wind und Bäumen, unter den Nebeln der Strom, schwarz, und in der Ferne das Meer. Wie muß da eine Vogelstimme sein. So ungefähr. Aber es kommt nur manchmal bis auf einige Entfernung heran.

Zu diesem Brief wäre viel zu sagen, eine Abhandlung müßte es tun; ein Vortrag darf es unterlassen, vertrauend auf den Nachhall solcher Briefworte in den Zuhörern.

Eberhard Haufe, aus Alfred Kelletat (Hrsg.): Sarmatische Zeit. Erinnerung und Zukunft, Johannes Bobrowski Colloquium 1989, Akademie Sankelmark, 1991

Bobrowski Selbstzeugnisse

Es war gut, daß Bobrowskis Verleger, der Union Verlag, einen Band herausbrachte, der die Meinungen des Dichters über seine Arbeit, seine Umwelt, seine Zeit enthält sowie Ansichten und Kommentare anderer.
Das Werk, im Laufe weniger Jahre entstanden, von enormer Arbeitskraft zeugend, entbehrt jedes hektischen Zugs; ungleich den eruptiven Hervorbringungen mancher Schriftsteller, die nicht viel Zeit hatten, trägt es vielmehr den Stempel der Bedächtigkeit. Ich habe kein Urteil über die wenigen Gedichte, die Bobrowski als junger Soldat im Kriege veröffentlichte – ich habe sie nie gesehen. Alles später Gedruckte ist mir, glaube ich, bekannt. Was mir zunächst daran auffiel, war die Sicherheit des Vortrags, da gab es kein Zögern, mit Picasso hätte Bobrowski sagen können:

Ich suche nicht, ich finde.

Dazu später noch ein Wort.
Bedachtsam war Bobrowski auch im Urteil. So kannte ich ihn, obwohl ich ihn wenig kannte. Meist sah ich ihn auf jenen Versammlungen, die ich bei mir gern als überflüssig bezeichne, da saß er, unauffällig, den Kopf auf kurzem Hals zwischen breiten Schultern, mit wanderndem Blick, in dem Freundlichkeit war und auch Ironie, und nahm teil. Er sagte selten etwas, aber seine Anteilnahme war deutlich spürbar, er nahm Anteil, auch wenn er schwieg, aber er war durchaus kein Schweiger, er sagte ohne Schüchternheit seine Meinung, wenn es ihm geboten schien, und diese Meinung hatte immer Hand und Fuß.
Bobrowskis Ansichten werden nicht ohne Leidenschaft geäußert, aber ohne jede Hysterie, sie gründen auf soliden Kenntnissen, nicht auf Besserwisserei, sie wecken beim Gesprächspartner Aufmerksamkeit, Aufgeschlossenheit, nicht Ärger, sie sind nicht verwaschen; sondern bestimmt, und gerade deshalb tolerant, weil sie die Möglichkeit des eigenen Irrtums nicht ausschließen. Vorgetragen werden sie mit dem erforderlichen Ernst, also nicht ohne Humor.
So kann man hier zum erstenmal einen kleinen Vortrag nachlesen, den Bobrowski 1962 in der Evangelischen Akademie in Berlin-Weißensee über die Aufgaben und Möglichkeiten der Literatur gehalten hat, es sind ganz unfeierliche sieben Seiten, die furchtlos und vernünftig zwar unpopuläre, aber schwer zu widerlegende Gedanken mitteilen. Das – nicht von Bobrowski formulierte – Thema lautet: Benannte Schuld – gebannte Schuld, mit einem Fragezeichen am Schluß. Da ich nicht nur den Inhalt dieser Rede für wichtig halte, sondern auch weitgehend mit ihm übereinstimme, möchte ich hier einiges zitieren.

Bei Johann Gottfried Herder, in den Ideen, lese ich: Der Mensch im 10.000sten Jahre seiner Geschichte mit den gleichen Leidenschaften geboren wie im zweiten… nun braucht das, was Herder hier mit den Leidenschaften gemeint hat, nicht durchaus mit der hier in Rede stehenden Schuld zu tun zu haben. Aber ich bin da nicht so sicher. In den gleichen Ideen aber findet sich die Konzeption einer fortschreitenden Humanisierung. Was hat das mit unserem Thema zu tun? Das Thema ist bezogen auf jüngste Vergangenheit, denke ich, und auf Gegenwart. Sage ich also, was mir eingefallen ist.
Literatur, d.h. die Literatur, von der wir hier handeln –, arbeitet Vergangenheit auf, Vergangenheit im weitesten Sinne, also auch ihre überständigen Erscheinungsformen. Das tut sie also, und sie tut es im Blick auf Gegenwart, meinetwegen auf Zukunft. Sie will also etwas ausrichten.
Nun werden die jungen Leute, die das gelernt haben, Beispiele anführen, wo Literatur das angeblich geleistet hat: Bücher von vorgestern also, die (wie es ungefähr heißt) Taten von gestern geworden sind. Oder bescheidener: vorgestrige Bücher, die gestrige Taten ausgelöst oder befördert haben. Also z.B. die Wirksamkeit der französischen Aufklärer im Zusammenhang mit der Revolution von 1789.
Ich leugne diesen Zusammenhang keineswegs, ich finde nur, daß er in den gängigen Darstellungen monumental dasteht, und daß diese Monumentalität eine Konstruktion ist, daß die Fakten anders aussehen, so sehr anders, daß sie den, der sich mit der tatsächlichen Wirkung der Literatur auf die Zeit befaßt, kleinmütig machen müssen.
Erst einmal ein bißchen in die historischen Fakten: Der Sturm auf die Bastille war kein Sturm. Man ging in ein unbewachtes Gebäude und ließ ein paar Leute heraus. Man brauchte dazu keine Waffen.
Der Zorn der Pariser richtete sich gegen die Monarchie, weil es hieß, der König habe die Überführung von Brotgetreide und Mehl in die hungernde Hauptstadt verhindert usw. usw. …
Nehmen wir ein etwas näher liegendes Beispiel.
Onkel Toms Hütte. Das Buch, so lese ich, hat nicht nur eine außerordentliche Verbreitung, sondern auch direkte Wirkungen gehabt. Angesichts des Farbigenproblems in den Staaten heute scheint das übertrieben. Die Sklaverei hat es nicht beendet. So etwas geschieht nicht als Folge von Literatur. Analog: Die Bauernbefreiung im vorigen Jahrhundert war keine Angelegenheit der Humanität, sondern eine der Industrialisierung…
Nehmen wir ein neueres Beispiel: Die Kollektivierung der Landwirtschaft in der Sowjetunion ist, so lese ich, durch den Roman
Neuland unterm Pflug entscheidend befördert worden. Das Buch erschien 1932, d.h. der erste Teil. Der zweite erst lange nach dem Kriege. Hier gibt es nun eindrucksvolle Auflagen, die Ausleihziffern der Bibliotheken usw. Besagen solche Ziffern etwas über die Wirkung? Sicher. Über die Wirkung Scholochows als Romanautor auf die literarisch Interessierten. Sie stellen fest: der Roman ist nicht so gut wie der Stille Don. Wir brauchen uns auch mit diesem Beispiel nicht aufzuhalten.

Bobrowski spricht dann weiter von eigener Absicht und Wirkung:

Ich befasse mich, nach meiner Ansicht, mit dem Verhältnis der Deutschen zu ihren östlichen Nachbarvölkern. Ich benenne also Verschuldungen – der Deutschen –, und ich versuche, Neigung zu erwecken zu den Litauern, Russen, Polen usw. Da ein solches Thema von historisch gewachsenen Vorurteilen und von aus Unkenntnis oder Voreiligkeit resultierenden Ressentiments weitgehend verdeckt ist, kann eine einfache Propagierung von Ansichten oder Empfehlungen nichts ausrichten. Ich beziehe mich also möglichst auf das, was ich selber kenne, ich will möglichste Authentizität, weil ich denke, daß ,wahre Geschichten‘ noch immer eher überzeugen: weil ich eine Wirkung wünsche.

Den Umfang dieser Wirkung beurteilt Bobrowski ziemlich skeptisch, aber an ihrer Wichtigkeit zweifelt er nicht.

Ich möchte also, daß Literatur etwas ausrichten soll. Aber man verlangt zuviel, wenn man gleich immer die Ergebnisse kassieren will… Wirkt Literatur langsamer? Das wird vielleicht so sein. Aber dann bin ich gegen die großen Worte, gegen die überdimensionierten Ansprüche, gegen das ,Benannt und also auch schon gebannt‘. Ich bin dafür, daß alles immer neu genannt wird, was man so ganz üblich als ,unbewältigt‘ bezeichnet, aber ich denke nicht, daß es damit ,bewältigt‘ ist. Es muß getan werden, nur auf Hoffnung.

Ich habe die Stelle ausführlicher zitiert, weil ich sie, wie gesagt, für wichtig halte und weil ich mit diesen Sätzen übereinstimme. Es wird hier gesagt, was Literatur wirklich leisten kann und daß der ihre eigentlichen Möglichkeiten einschränkt, der der Literatur ihr wesensfremde Aufgaben zuteilt. An anderer Stelle, über das mögliche Bündnis von Geist und Macht sprechend, hat Bobrowski sich in ähnlichem Sinne geäußert: er hat Macht gefordert für die Bekämpfung von Faschismus und Chauvinismus, aber auch die „Zweckoptimisten“ davor gewarnt, von der Literatur Ergebnisse zu erwarten, die die Macht zu erbringen hat. Freilich gehen seine Warnungen auch in andere Richtungen. Ein Mann, mit den großen Formen der Dichtung aufs innigste vertraut, sie mit Sicherheit handhabend, sagt zu formalen Fragen sehr Wesentliches; dabei verläßt ihn aber nie das Interesse an Stoff, Thema, Inhalt. Er entdeckt, daß bei Produzenten wie bei Kritikern gelegentlich das Motiv verlorengeht, „das Motiv, das Thema, indem es sich als Kunstwert, als literarisches Experiment entdeckt, es wird interessant, es begreift sich als in Form- und Bewegungsgesetzen stehend, in Gesetzen, die der Kunst rechtens angehören. Zum Schluß hat sich der Anlaß verflüchtigt, das Kunstwerk hat sich ausschließlich als Kunstprodukt an die Stelle des vorhanden gewesenen Anliegens gesetzt… Übrigens schläft der Zeitgenosse, wenn er sich tatsächlich aufgeregt haben sollte, danach besonders leicht und ruhig ein.“
Natürlich spricht Bobrowski hier auch in eigener Sache. Und zwar in einem Augenblick, da sein Werk bereits ein erstaunliches Echo findet, sein internationales Ansehen beinahe täglich zunimmt, ihm vier bedeutende Literaturpreise in vier Ländern zufallen. Auch eine solche Bemerkung rückt ihn in jenes rechte Licht, in dem man ihn sehen muß. Gerade in eigener Sache geht es hier um das Wichtigste, um die Sache, und der Eifer, mit dem hier falscher Erfolg zurückgewiesen, Aufmerksamkeit für – freilich gestaltete – Absichten verlangt wird, hat etwas Ergreifendes. Diese edle Sachlichkeit ist die Dominante aller Bemerkungen Bobrowskis zur eigenen Arbeit und zur Arbeit anderer.
Das Buch, von dem die Rede ist, enthält eine Reihe von Aufsätzen, die sich mit Bobrowskis Werk befassen. Bemerkenswert scheint mir hier die kleine Arbeit des sowjetischen Kritikers und Übersetzers Groman zu sein, bemerkenswert die beiden Aufsätze von Gerhard Wolf, der sich immer deutlicher als der wesentliche Kritiker zeitgenössischer Lyrik ausweist, den wir hier besitzen. Und durchaus zu Recht stehen die Aufsätze zweier Parteifreunde und Verlagskollegen Bobrowskis in dem Buch, weil sie über wichtige Aspekte des Lebens und der Arbeit Bobrowskis aufklären und Legenden wegräumen, weil sie auf ihre Weise Äußerungen Bobrowskis über seinen Standort und seine Intentionen ergänzen. Anders verhält es sich mit einem In-memoriam-Schreiber, der unbegreiflicherweise Bobrowski als eine Art begabten Anfängers abtun möchte, der von seinen „tastenden“ Versuchen schreibt, wo doch jeden, der lesen kann, gerade die Souveränität des Werks beeindruckt –, der schließlich es nicht lassen kann, aus einer Art pathologischer Aversion gegen zeitgenössische Schreibweisen dem toten Bobrowski Koketterie und eine nicht ganz glaubwürdige Naivität vorzuwerfen. Darauf hätte man verzichten können. Derselbe Autor wagt den Satz:

Die Realia dieser Dichtung, ihr tieferes Anliegen sind drüben nicht zu gebrauchen.

Dümmeres läßt sich schwerlich finden. Denn abgesehen davon, daß ein Blick auf die dem Bande angefügte Bibliographie genügt, um Bobrowskis Verbreitung in Westdeutschland zu ermessen, ist aus dem zitierten Satz zu folgern, daß das tiefere Anliegen eines literarischen Werkes dort unbrauchbar ist, wo es im Gegensatz zur politischen und gesellschaftlichen Realität steht; daß es brauchbar erst unter Bedingungen wird, die seinen moralischen und sittlichen Forderungen entsprechen. Ein alberner Satz, der am Schicksal aller Kunst vorbeigeht und ihre Fähigkeit zu verändern leugnet, zeigt hier, wie jemand, der sich offenbar als sehr parteilich empfindet, ganz gewiß gegen die eigene Absicht, auf etwas verzichtet, dem er nicht widersprechen würde, vorausgesetzt, es wäre „nur so allgemein als möglich“ formuliert.

Stephan Hermlin, gesprochen im Deutschlandsender am 25.7.1967, erschienen in Stephan Hermlin: Lektüre. Über Autoren, Bücher, Leser, Verlag Klaus Wagenbach, 1997

Die fortwährenden Gleichschaltungsversuche

in den fünfziger Jahren

Johannes Bobrowski (1917–1965) war im Nordosten Europas, wo sich mehrere Völker in Verständnis und Haß begegneten, aufgewachsen. Die Erinnerung daran war ihm Heimat und Trauma zugleich. Kant, Herder, Hamann und Klopstock waren sein Wahlverwandten. Doch erst die Begegnung mit P. Huchels Landschaftsgedichten verführte ihn endgültig zum Schreiben.
Jetzt, nachdem der Briefwechsel zwischen J. Bobrowski und P. Huchel gesammelt und feinfühlig eingeführt vorliegt,
1 läßt sich nachvollziehen, wie intensiv das Vorbild Huchel auf Bobrowski eingewirkt hat, aber auch wie spannungsvoll solche Freundschaft vorm Hintergrund der Verhältnisse in der DDR in den endfünfziger und anfangsechziger Jahren verlief. Deutlich die große Verehrung und Dankbarkeit Bobrowskis für Huchels Mentoren- und Protektorenrolle (Huchel hatte Bobrowski in Sinn und Form ein Debüt ermöglicht und ihn der Gruppe 47 anempfohlen, weil er echt überrascht war von dessen in aller Stille herangereifter eigenständigen Stimme, die in politisierter Zeit kein Hehl aus ihrer christlich-humanistischen Verantwortung gemacht und das überzeugend in Poesie umgesetzt hatte). Bobrowski hatte sich geweigert, als „DDR-Dichter“ zu gelten:

ich werde mich nicht als ostdeutsch firmieren lassen, so wenig wie auf „heimlich westdeutsch“. Entweder ich mache deutsche Gedichte oder ich lerne Polnisch.2 (ebd.).

Dennoch blieb er DDR-verhaftet und mußte es bleiben, da er in diesem Land mit allen Konsequenzen leben mußte. Seine Gedichte waren Rufe aus der DDR. Andernorts hätte er anders geschrieben. G. Wolf dazu bei Betrachtung von Bobrowskis Zimmer, dabei Brechts seltsamen Radwechsel-Vorgang nachzeichnend:

Man will ja hiersein und sich doch gleichzeitig darüber hinwegsetzen. Man will woanders sein und doch von seinem Wesen nicht das aufgeben, was man für das beste hält. Seltsamer Vorgang. Vielleicht beginnt mit ihm die Kunst. Denn diese Fähigkeit liegt ja nicht außerhalb der Welt, sondern in ihr, in unserer hier.3

Und wie Bobrowski taktieren mußte, wie er sich für seine wachsende Familie in den Schatten einer Blockpartei (CDU) verziehen mußte! Und wie er sich zurückhielt, als es gegolten hätte, P. Huchel öffentlich beizustehen, als der von den DDR-Behörden als Chefredakteur der Zeitschrift Sinn und Form entlassen und ins totale Out gestellt worden war. Bobrowski hatte inzwischen seine eigenen Schwierigkeiten mit der Staatsmacht. Zwar entschuldigte er sich per Brief bei Huchel für seine Schwäche und sein Versagen, doch Huchel reagierte darauf nicht mehr. Zu viele, denen er einst beigestanden hatte, hatten ihn inzwischen enttäuscht. Dennoch und gerade deshalb ist dieser Briefwechsel zwischen zwei geistesverwandten Humanisten ein wichtiger Beleg für Formen der Anpassung und des Widerstands von Autoren in stark repressiver Zeit. Der Lektor Bobrowski wußte um das engmaschige Zensurnetz, in das man nicht fallen durfte, wollte man weiter wirksam bleiben. So unterschlug er auch wohlweislich manches Gedicht, das man erst später im Nachlaß fand, etwa „Rosa Luxemburg“ von 1960, also kurz vorm Mauerbau geschrieben, aber die Mauer schon ahnend:

Schmerz
wie ein Vogel singt.
Mauer. Lüfte, hörbar
über der Angst.

Wer verschließt deinen Mund.
Lerche? Du fliegst
auf vom Wiesenstädtchen
in die Verwüstung
4 (ebd./164)

Bobrowski schätzte G. Benn und G.B. Fuchs. So wurde das Kräftefeld, das auf ihn einwirkte und aus dem heraus er seinerseits wirkte, sowohl von seinen verehrten literarischen Vorbildern als auch von seinen Sujets (Geschichte, Mensch, Sprache) als auch vom momentan Machbaren bestimmt. In einer Zeit, da Rückbesinnung als Flucht aus der Gegenwart geahndet wurde, schrieb er aus christlicher Haltung heraus seine Gedichte gegen das Vergessen und das Verschweigen rührte er am verpönten Begriff der alten Heimat, und er unterlief damit die durch das Potsdamer Abkommen geschaffenen Tabus. Nicht revanchistisch, sondern nur hindeutend auf jenen einstigen polnisch-deutsch-litauischen Kulturraum als Modellfall für freund-feindliches Zusammenleben und ethnische Säuberung. Seine Kenntnisse von Kunst, Dichtung, Historie, Mythen und Sagen waren ihm dabei ein gewaltiger Fundus, aus dem er seine Texte schöpfte.

Das ganz Neue bei Bobrowski bestand in der Umwertung einer geschichtlichen Landschaft. Aus historischen Fernen dröhnt der Hufschlag schweifender Völker, das Geläut der Glocken von orthodoxen Kirchen und das Heulen des Schofar aus niedergebrannten Synagogen. Ein endloser, unaufhaltsamer Ostwind jagt durch diese Dichtung. In ihr treffen Juden und Litauer, Polen und arme Deutsche aufeinander, vereinen sich gegen ihre Unterdrücker, werden von ihnen besiegt. Johannes Bobrowski erklärte sich nicht für Brüderlichkeit: seine Dichtung war brüderlich.5

Ein literarisch weitgehend ungebildetes Publikum – hatte nicht selbst Becher von literarischen DDR-Analphabeten gesprochen? –, das zudem bereit war, alles zu verdrängen, was sich geographisch und historisch jenseits Oder-Neiße ereignet hatte, konnte zu Bobrowskis Texten nur schwer Zugang finden und seine metaphorisch stark verfremdeten Assoziationen, die sich durch mehrere Zeit- und Bedeutungsebenen hindurch dauernd kreuzten, kaum nachvollziehen. Seine andeutungsreiche und sinnträchtige Bildsprache, oft in Inversionen geschachtelt, die freirhythmische Struktur der Texte, die eigenwillige Strophik und die Metaphernballungen standen in allzu krassem Gegensatz zum damals vorherrschenden Brechtschen Knittelvers-Rationalismus.
Dazu verriegelte Bobrowskis christliche Position ein offizielles Verständnis. Seine Gedichtbände fanden die Begeisterung nur weniger Kenner. Einer der wesentlichen DDR-Lyriker blieb daher trotz großer Bemühungen seiner Verehrer intra muros weitgehend ein Unbekannter.
Eine Umfrage, die 1968 unter DDR-Abiturienten durchgeführt wurde, zeigte, daß selbst sein noch relativ „leichtverständliches“ Gedicht „Das Wort Mensch“, inzwischen auch im Lehrplan der erweiterten Oberschulen, von den Schülern eine nahezu vernichtend niedrige Bewertung erhielt.
6 Eine eindringliche, hochpoetische, notwendige Stimme, die in der Lage gewesen wäre, auf überzeugende Weise von Schuld und Sühne zu sprechen, von Verantwortung und Völkerverständigung, kam kaum zur Wirkung, weil vielen das Organ fehlte, solche Sprache zu rezipieren:

Es kommt
Babel, Isaak.

Er sagt: bei dem Pogrom
als ich Kind war,
meiner Taube
riß man den Kopf ab…

Leute, ihr redet: Vergessen –
Es kommen die jungen Menschen,
ihr Lachen wie Büsche Holunders.
Leute, es möcht der Holunder
sterben
an eurer Vergeßlichkeit
.
7

Da wußte einer um die Gefahren totalitärer Repressionen, um die Gefahren der Verdrängung stalinistischer und faschistischer Pogrome und ihre daher jederzeit mögliche Wiederholung. Da wußte einer vom im Alltag längst wieder und immer wieder lebendigen Faschismus. Geschichte war ihm kein Sediment, sondern ein unterschwellig ständig tätiger Vulkan. Dieses Wissen sensibilisierte Bobrowskis subtile Hellhörigkeit.
Als Lektor im christlichen Union-Verlag konnte Bobrowski an einer wichtigen Schaltstelle wirken und Veröffentlichungen von guter Lyrik ermöglichen; auch wenn er manches eigene poetische Werk nur mit großen Schwierigkeiten oder zu Lebzeiten oft gar nicht durchbringen konnte. So entstand die paradoxe Situation, daß er mit seinen Gedichten im Ausland längst die DDR-Lyrik repräsentierte, während er inlands vor seinem Tode als Poet – der Erzähler Bobrowski war indes wesentlich bekannter – fast nur von Insidern geschätzt wurde. Er gehörte zweifellos zu jenen Dichtern deutscher Sprache, deren Werk das Jahrhundert überdauern und der in die Literaturgeschichte eingehen wird. Dabei gab es zu seinen Lebzeiten lediglich drei schmale Gedichtbändchen von ihm, die dazu erst in den letzten vier Jahren vor seinem frühen Tod – er starb im Alter von 48 Jahren – erschienen waren.

(…)

Edwin Kratschmer: Dichter · Diener · Dissidenten. Sündenfall der DDR-Lyrik, Universitätsverlag – Druckhaus Mayer GmbH Jena, 1995

Ostberliner Dichter lesen in München

Der Komma-Club stellte am 19. Dezember 1962 stetig aufmerksamen Hörern zwei Ostberliner Dichter vor: Günter Kunert (geb. 1929 in Berlin) und Johannes Bobrowski (geb. 1917 in Tilsit). Der Saal war gefüllt wie nie zuvor: viel Jugend, Prominenz, Verleger, Schriftsteller, Kritiker, Industrie.
(…)

Johannes Bobrowski, der vor kurzem den Lyrikpreis der Gruppe 47 bekommen hat, las vorerst aus seinen zwei Gedichtbüchern Sarmatische Zeit und Schattenland. Ströme (beide sind in der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart erschienen), dann Ungedrucktes, das den Tonfall der früheren Verse (freie Rhythmen) beibehielt. Aus Holz ist diese Sprache geschnitten, die aus einer erlittenen Landschaft ihre besten Kräfte zieht. Bilder von somnambuler Schönheit, Chagalls Farbskizzen angenähert, bereichern eine Sprache, die in jedem Teil, in der Verkürzung wie im grossen Atem, die Kraft eigener Aussage hat, Gedenkblätter darunter, die Brentano, Hölderlin, dem Ghetto, der Gertrud Kolmar und Nelly Sachs gewidmet sind. Trauer und Verzicht, Krieg und Grauen liegen noch immer, wenn auch in der Erinnerung nur, über der Sarmatischen Ebene und der Heimat Marc Chagalls. Einen tiefen Eindruck hinterliess die einzige Erzählung, die er las. Eine Judenstube, Mäuse, Gerümpel, Brotreste, ein Stuhl und ein alter Jude, da ein junger deutscher, noch unschuldiger Soldat eintritt und im Mondschein eine fremde, gefährdete Welt erlebt, Ahnung und Gegenwart schon. Vergangenheit jetzt? Hoffentlich. Man wurde unwillkürlich an H.Chr. Andersen erinnert oder an A. Lesages Hinkenden Teufel.
Peter Hamm leitete das darauf folgende Gespräch, das wie alle Massengespräche an einem Zuviel und Zuwenig darben musste. Spontan lässt sich Lyrik nicht erfassen und deuten. Es gehört die Versenkung dazu; sonst nimmt nur zu oft eine falsche Verfremdung den Platz der echten ein.
Das hat der Abend gezeigt: Gespräche menschlicher Art, die eine parteipolitische Verflachung umgehen, sind immer nützlich und gut, selbst wenn sie über „Grenzen“ hinweggeführt werden. Einen namhaften Politiker sah ich nicht. Schade. „Wo sieht man schon einen“, sagte mir Jürgen E. auf dem Heimweg.

Georg Schneider, Die Tat, 4.1.1963

Johannes Bobrowski

Was den Leser der Gedichte von Johannes Bobrowski unmittelbar ansprechen mag, ist das „Östliche“ in ihnen, für das wir so empfänglich sind. Östliche Landschaft zwischen Weichsel und Wolga – Sarmatien, wie es in älterer Zeit hieß – taucht auf; östliche Städte – Wilna, Kaunas, Nowgorod – erscheinen. Die Götter der alten Pruzzen werden angerufen, deren seltsame Namen – Perkun, Pikoll, Patrimpe – die Kinder, die wie der Dichter an den Ufern der Memel aufwuchsen, ebenso selbstverständlich in der Schule lernten wie Nebenflüsse der Memel: Jura, Mitwa, Szeszupe. Und wer sie dort gelernt hat, der liebt sie, liebt den Klang der Namen wie die Flüsse selbst und den Strom mit den treibenden Eisschollen im Frühjahr, den grünen Dämmen, liebt die Dörfer mit den weiten Straßen und Plätzen, den jüdischen Händler mit seinem Wägelchen, die litauischen Lieder, die wilden Schwäne und die einsam in der Ebene aufragenden Windmühlen.
Die Bilder dieser Landschaft der Jugend zitiert Johannes Bobrowski in seinen Gedichten, dazu die Bilder einer noch östlicher gelegenen Landschaft, die sich ihm als Kriegsgefangener einprägten. Selbst wenn damit die wesentlichen Themen dieses Dichters genannt wären [die Skala ist in Wahrheit um einiges breiter], würde mit solchen Andeutungen über die Gedichte selbst wenig gesagt sein; wir haben nur von dem Stoff gesprochen, aus dem sie gemacht sind. Zwar könnte man meinen, die lyrische Kunst dieses Autors bestehe gerade darin, aus den Tiefen des Gedächtnisses das Östliche wiederzuerwecken und zu bewahren im Gedicht; aber das hieße denn doch das Wesen eines lyrischen Gedichts verkennen. Es ist keine Reproduktion, und die Sprache hat darin keine beschreibende Funktion; sie schafft eine eigene Welt, einen sprachlichen Mikrokosmos, der als ganzer neu und einmalig ist. Fragen wir daher weniger nach dem Östlichen in Johannes Bobrowskis Lyrik, begeben wir uns auf die Suche nach den Gedichten selbst.
„Da hab ich / den Pirol geliebt –“ beginnt ein der Kindheit an der Memel sich zuwendendes Gedicht aus dem ersten Band, ein frühes, wie wir meinen. Nur diese Phrase am Anfang, die am Ende wiederholt wird, ist gezeichnet vom Pathos des Erinnerns, ist gleichsam gestischer Ausdruck der Ergriffenheit vom Erinnerten. Die Bilder der Kindheit selbst – sieben Stationen des Tages, vom morgendlichen Glockenklingen bis zur Nacht – rücken in die Distanz, sie sind im reinen Imperfekt, einem für die Lyrik ungewöhnlichen Tempus „erzählt“. Man spürt den Willen zu strenger Stilisierung, die das Intime solcher Kindheitserinnerungen objektivieren, das Schwärmerische zurücknehmen soll; spürt die Absicht, den Bildern etwas Exemplarisches zu geben – sie wird auch erreicht, zumindest in einer Strophe wie dieser:

Da sang die Alte in ihrer
duftenden Kammer. Die Lampe
summte. Es traten die Männer
herein, sie riefen den Hunden
über die Schulter zu.

Auffällig ist der durchgängige Gebrauch des Enjambements – eines Kunstmittels, das, wie der Reim, lyrisches Sprechen in einer vom logischen Sinnbezug unabhängigen Weise gliedert. Der Wille zur Kunstform setzt sich darin gegen den gewohnten syntaktischen Verlauf. In anderen Strophen dieses Gedichtes „Kindheit“ aus der SARMATISCHEN ZEIT wird eine solche Abweichung vom Prosaduktus mit Hilfe von Appositionen oder auch Inversionen erreicht wie beispielsweise in den folgenden:

das Glockenklingen, droben
aufscholls, niedersanks
durch das Laubgehäus,

wenn wir hockten am Waldrand,
auf einen Grashalm reihten
rote Beeren; mit seinem
Wägelchen zog der graue
Jude vorbei.

Auch wer nicht weiß, daß Johannes Bobrowski in früheren Jahren, in Rußland, mit Hilfe der alkäischen Strophe die Landschaft um den Ilmensee im Gedicht zu zeichnen versuchte, wird sich an klassische Strophenformen mit ihren besonderen Wortfügungen erinnert fühlen. Man ahnt das Vorbild des großen Dichters, der einst in antiken Odenmaßen die Landschaften, die Ströme im Westen des Vaterlandes, Neckar und Rhein, besang.
Die in „Kindheit“ sich andeutenden Formtendenzen treten in anderen Gedichten ausgeprägter in Erscheinung. In ihnen wird die Aufsplitterung des Satzgefüges zu einem tragenden Formprinzip, und noch verschärft durch Verzicht auf grammatikalisch-syntaktische Ausführlichkeit überhaupt. Einzelne Wörter müssen für einen Satz einstehen; sie erhalten dadurch besonderes Gewicht; und die Aussage bekommt durch Aneinanderfügung solcher isolierten Einzelelemente etwas Gedrängtes, Geballtes, wie in dem Gedicht „Ikone“:

Türme, gebogen, verzäunt
von Kreuzen, rot. Finster
atmet der Himmel…

Kein Legato, kein Gleiten, sondern harte Fügung, mit einer Tonhöhe fast auf jedem Wort. Und wo die Brechung, die Aufhebung der geläufigen syntaktischen Abfolge und Ausführlichkeit durch Apposition oder Inversion nicht gegeben ist, wird das Enjambement zu Hilfe genommen und so, zumindest formal, eine Brechung erreicht, eine Zäsur, die beim Lesen zum Absetzen zwingt. Meist erfolgt auf die dichte, harte Fügung eine Auflockerung, eine Auflösung, die rhythmisch wie ein Ausatmen wirkt, oft am Ende der Strophe oder auch in ihrer Mitte, während sie am Anfang meistens geballt ist. So auch in dem großen Gedicht „Von den Strömen“ beispielsweise:

Von den Strömen
gekommen der See, gefangen
durch Zähne und Klauen, Brandung,
Küsten, diese Wälder aus zitternder Luft –

Obgleich Gegenstände der Natur – Vegetation und Getier, die Erscheinungen des Wetters, die Elemente, geologische Formen: Hügel, Hang und Berg und Ebene – in die Gedichte eingehen, zögert man, diese als Naturlyrik zu bezeichnen; denn es ist eigentlich das Landschaftliche, das vorherrscht. Natur und Landschaft sind zweierlei: Natur ist überall Natur, Landschaft aber ist überall anders; und gerade das Eigentümliche von Landschaften in ihrer geographischen, ethnographischen, historischen und kulturgeschichtlichen Prägung sucht Bobrowski zu fassen. Alle seine Gedichte, wie sie auch betitelt sein mögen – „Der litauische Brunnen“, „Das Holzhaus über der Wilia“, „Die Memel“, „Der Ilmensee 1941“, „Auf der Taurischen Straße“ – atmen landschaftliche Eigenart.
Und atmen im eigentlichen Sinne des Wortes; es ist die ungewöhnliche Gliederung der Rede, das Vereinzeln der Wörter und Satzteile, das Absetzen und wieder Ansetzen, das sie atmen macht, nicht gleichmäßig, aber natürlich, lebendig:

Seele,
voll Dunkel, spät –
der Tag mit geöffneten
Pulsen, Bläue –
die Ebene singt.

Das Gedicht „Die Sarmatische Ebene“ beginnt so, Weite ausströmend. Wenig, nichts ist mehr zu spüren vom alkäischen Strophenschema; ein freier eigener Gang der Rede ist gefunden. Auch der Fügung der Worte haftet nichts Absichtliches, nichts Harsches mehr an. Dabei ist sie strenger und freier zugleich geworden: sie bedarf nicht mehr solcher Kunstmittel wie Enjambement oder Inversion oder der Apposition, um den Sprachfluß zu unterbrechen und die Gegenkraft des Formalen wirksam zu machen. Ganz unangestrengt treten jetzt die einzelnen Elemente der Rede, aus ihrem Kontext herausgelöst, frei nebeneinander: „Seele, / voll Dunkel, spät –“, oder, in einer anderen Strophe:

Ebene,
riesiger Schlaf,
riesig von Träumen, dein Himmel
weit, ein Glockentor,
in der Wölbung die Lerchen,
hoch –

Diese Gelöstheit ist nicht nur durch das Thema des Gedichts „Ebene“ bedingt: sie tritt auch in anderen auf und deutet auf eine in der formalen Handhabung des Stoffes gewonnene Sicherheit und Freiheit. Freiheit aber auch dem Stoff selbst gegenüber ist gewonnen worden.
Wie weit sie reicht, wird vor allem in dem Gedichtband Schattenland Ströme deutlich. Längst schon losgelöst vom erinnerungshaften Bezug, trat die Landschaft: die Ebene, der Strom, das Dorf, direkt entgegen. Nun aber – und dahin drängte diese gegenüber dem Stoff gewonnene Freiheit – macht sich auch eine Loslösung vom Landschaftlich-Einmaligen bemerkbar: die sarmatisch-irdische Landschaft entrückt, sie wird gleichsam zu einer inneren. Wer möchte nicht schon bei den folgenden Versen des Gedichtes „Windmühle“ zweifeln, daß es sich noch um eine reale Landschaft handle:

Licht,
schäumendes Licht,
über der Ebene, steil,
Berg aus Glanz, ungeheures
Rauschen, es fliegen die Stürme,
atmend von Blitzen, die schreckliche Wand
steigt an den Himmel.

Eine visionäre Landschaft scheint es zu sein; und von einer solchen Landschaft auch spricht das Gedicht „Erzählung“:

Heller Sand, Spuren,
grün, und der fliegende Wald
Finsternis, hoch der stählerne Fisch
fährt durch die Bäume…

Eine Spiritualisierung der Landschaft und ihrer Elemente deutet sich an, wie sie in ähnlicher Weise bei dem französischen Dichter Pierre Jean Jouve stattfindet. Ein Thema aus dessen Gedichten wird auch bei Johannes Bobrowski hörbar: eine Sehnsucht nach Leichtigkeit und Licht aus dem Bewußtsein der eigenen Erdenschwere. „Bäume irdisch, und Licht“ beginnt das Gedicht „Hölderlin in Tübingen“ – eines der schönsten des Bandes Schattenland Ströme –, in dem dieser Gegensatz als untergründiges Thema nur an den gegensätzlichen Metaphern abzulesen ist: dem beweglichen Wasser und der Schwere der Mauern, des Turms; dem Schatten, der auf den grünen Fluß fällt; dem „Drehn der eisernen Fahnen“. Aber direkt ausgesprochen wird es in dem Gedicht „Ungesagt“:

Schwer,
ich wachse hinab,
Wurzeln
breite ich in den Grund,
die Wasser der Erde
finden mich, steigen,
Bitternis schmeck ich – du
bist ohne Erde,
ein Vogel in den Lüften, leichter
immer im Licht,
nur meine Angst noch
hält dich
im irdischen Wind.

Nicht umsonst taucht das Wort „irdisch“ auf in den Gedichten, immer sein Gegenteil insinuierend; nicht umsonst das Bild des Vogels so oft, des Flügels – als Symbol für die Überwindung der Erdenschwere. Auf ihre Weise „gelassen“ waren Bobrowskis Gedichte immer. Aber es ist noch etwas anderes, ist mehr als Gelassenheit, was Verse wie die folgenden bestimmt:

Blau.
Die Lüfte.
Der hohe Baum,
den der Reiher umfliegt.

Schon die abschließenden Punkte an Stelle der weiterleitenden Kommata deuten es an: es ist Ruhe, nicht ganz ohne Wehmut, ist, wenn auch zögernde, Gewißheit des Heimwegs:

Das Ruder
zerbrochen, so werd ich nicht sinken, ich gehe
über den Strom.

Dieses Gedicht heißt ausdrücklich „Heimweg“; aber ähnlich klingt es auch aus anderen, aus „Immer zu benennen“, „Gertrud Kolmar“, „An Nelly Sachs“. Und wo es nicht Gewißheit ist, da ist es Hoffnung, und wo das Grauen nicht weicht, da tritt aus seiner Mitte „Liebe…, eine weiße Gestalt“ [„Else Lasker-Schüler“].
Es ist uns bewußt: wir haben eine Entwicklung gezeichnet, wie sie in Wirklichkeit vielleicht nicht stattgefunden hat [wenn sie auch in ihrem Verlauf natürlich und wahrscheinlich ist]. Die Gedichte sind nicht chronologisch geordnet und nicht datiert; wir haben daher keinen Beweis, müßten den Dichter fragen. Aber ist es keine Entwicklung, so sind es doch verschiedene wirklich vorhandene Verfassungen, die sich abzeichnen, Phasen einer menschlichen Haltung, wie sie im Gedicht ihre Ausprägung fand. Das Gedicht ist nicht ohne den Dichter.
Man fragt sich, ob Johannes Bobrowskis Verse „modern“ – um dies abgegriffene Wort ruhig einmal zu gebrauchen – zu nennen seien. Daß dieser Lyriker die Sprache in unkonventioneller Weise handhabt, ist offenbar geworden: er verzichtet auf ein metrisches Schema, verzichtet auf den Reim – mit einer Ausnahme in dem Gedicht „Dorfmusik“, wo der Reim gleichsam vom Titel und Thema her, als Anklang an den Bänkelsang, also in einem parodistischen Sinne, gefordert erscheint; er geht noch weiter und verzichtet auf den Satz; das Sprachmaterial wird zerbröckelt, und das Gesagte setzt sich aus in grammatikalischer Hinsicht isolierten Elementen zusammen, aus Hauptwörtern im engeren und weiteren Sinne. Außerdem bedient er sich spracharchitektonischer Mittel wie Symmetrien, Wiederholungen, und gebraucht das Zitat – alles Merkmale dessen, was man als „modernes Gedicht“ anzusprechen pflegt. Auf der anderen Seite aber haben diese modernen Formzüge in den Gedichten Bobrowskis nie den Charakter des Experimentellen; seine Lyrik ist nicht abstrakt oder konkret, wie man sagt. Das heißt: die Wortanordnung löst sich nicht von einer vorgefaßten Sinnbezogenheit, um nur dem rhythmisch-musikalischen Moment der freien Affinität der als Material genommenen Wörter zu folgen. Das sprachspielerische Element gewinnt nie die Oberhand, kommt nicht an gegen eine Bedeutungsträchtigkeit, die die Eigenmacht sprachlicher Bildung unterdrückt. Meist ist es der Einsatz des Gedichtes, der frei und unbezogen gesetzt wird, wie in dem Gedicht „Am Fluß“:

Himmel,
die Bläue, Bogen
alt,…

Die Freiheit aber erhält sich nicht; die scheinbar unbezogene Wortfolge wird alsbald von einem Bedeutungsgehalt aufgesaugt. Wie weit das Element des Sprachspielerischen vordringen kann, zeigt sich beispielsweise am Ende des Gedichtes „Ostern“:

es ist
erstanden der Herr, so ruft,
Augen ruft, Wange, ruf, Mund, ruf Hosianna.

Bedeutungsgehalt und Sprachspiel halten sich hier das Gleichgewicht, was dann eine Schwerelosigkeit bewirkt, wie sie nur den vollkommenen Gebilden der Kunst eigen ist.
Noch eine Frage drängt nach Klärung, die in einem anderen Zusammenhang mit der Unterscheidung von Natur und Landschaft zu kurz abgeschnitten wurde, als daß sie nicht noch einmal aufgegriffen werden müßte. Wesenszüge und Merkmale des neueren Naturgedichts sind von Karl Krolow in „Aspekte zeitgenössischer Lyrik“ bestimmt worden. Danach ist es ein wesentlicher Zug dieser Lyrik, daß der Dichter sich selbst aus seinen Versen „herausnimmt“ und aufhört, von sich selbst zu sprechen. Er spricht auch nicht von der Natur, sondern wird zum verstummenden Beobachter und läßt die Natur selber sprechen.
Selbst wenn man statt Natur: Landschaft setzte, träfe das Gesagte für die Gedichte Bobrowskis nicht zu. Das Ich, oder auch das Wir, das in ihnen erscheint, ist das eines Erzählers. „Ich sah“, „Ich hörte“ – sind Wendungen, mit denen der Dichter sich ins Gedicht einführt, das eine Stilisierung ins Epische erfährt. „Einmal / am Rande der Steppe, / wir kamen vom Gurkenfeld, / an der Straße lagerten / die Kamele…“ [„Auf der Taurischen Straße“] – so wird, fast möchte man sagen: erzählt. Nicht „Mund“ der Natur ist der Dichter, sondern Erzähler des Landschaftlich-Einmaligen.
Und es ist auch nicht Scheu vor der Indiskretion, vor dem Gefühligen, Allzulyrischen – wie bei den Dichtern der Naturlyrik –, was Bobrowski dazu führt, einem Objektiven, der Landschaft sich anzuvertrauen: vielmehr die Faszination, die diese auf ihn übt, bestimmt ihn, von ihr zu sprechen. [Auch Gestalten wie Hans Henny Jahnn, Góngora, Dylan Thomas zwingen ihn aus ihrer Faszinationskraft heraus zum lyrischen Porträt.]
Bobrowski scheut sich auch nicht, das epische Ich im Gedicht durch das lyrische zu ersetzen; wo das geschieht, erscheint es mit schöner Selbstverständlichkeit. Jene Thematik, die, wie wir sahen, gegen die landschaftliche sich durchsetzte – ein empfundener Gegensatz zwischen eigener Schwere und möglicher Leichtheit –, bezieht sich durchaus auf das Ich, ist aber auch weit genug, um über das Einzel-Ich hinauszugreifen. Und wo Persönliches gesagt ist, hat es sein Gegengewicht im Formalen, ist es aufgehoben im Kunstgebilde, das sein Gedicht ist.

Britta Titel, aus Schriftsteller der Gegenwart. Dreiundfünfzig Porträts. Herausgegeben von Klaus Nonnenmann, Walter-Verlag, 1963

XII 

abendliche weise für strasbourg
eine uferregion an der polnischen grenze spät nachmittags
frühherbst aus der ferne kommen zwei gestalten MANN
und FRAU aufeinander zu die ganz normal aussehen wie
leichen.

Mann:
Als wir, ein letztes Mal für lange, hier an diesem Ufer durch kniehohes Gras und Gestrüpp liefen, wir hatten den Wanderweg, der damals parallel zum Fluß verlief, bewußt verlassen, hatten Gummistiefel an den Füßen, hatten Bluejeans und die gefütterten Jacken mit den tiefen Taschen angezogen, in die wir die Hände, die Arme, fast bis zu den Ellenbogen hineinstoßen konnten und hatten Nebelschwaden vor den Mündern: Atemnebel, Sprachnebel, Nebel des Zögerns und einfachen Nebel der Feuchtigkeit in dieser Luft; da hielten wir plötzlich, ohne uns darauf verständigt zu haben, gleichzeitig inne und standen, standen für die Dauer einiger Minuten voneinander abgewandt, du auf das nahe Waldstück, ich auf den Fluß blickend, über den Fluß auf das andere Ufer wo weiter flußabwärts, ein angelnder Mann auf einem, kaum die Wasseroberfläche überragenden, vielleicht schon bald verschwunden sein würdenden Steg saß. Daß der Steg verwittert und, schief wie er war, mit jedem Hochwasser ein Stück mehr abgesackt sein mußte, konnte ich, noch auf die beträchtliche Entfernung hin, deutlich erkennen. Mir war, je länger ich zu Mann und Steg hinüberschaute, als sähe ich den Fluß endlich stillstehen und sähe als die einzige Bewegung in der, um den Fluß herum, mit ihm erstarrten Landschaft, nur noch das Wippen der Angel in den Händen des Fischers dort drüben in seiner, mir ganz unerreichbaren Ferne.
Und während ich so abgewandt von dir, dem Waldstück und dem Hinterland versuchte, meine Gedanken auf den Mann am jenseitigen, polnischen Ufer zu richten, seinen, mir sicher unverständlichen, polnischen Gedanken gar zu begegnen drohte, war mir, als hätte es dich, deine Nähe, deinen Geruch, das Rascheln deiner Schritte und das Klirren deiner Stimme nie gegeben, als hätte es gar nichts von dir je gegeben, nicht einmal dich selbst. In diesem Augenblick muß unsere Trennung sich ereignet haben: du warst aus meiner Wahrnehmung und meinem Erinnern unwiderruflich verschwunden.

Frau:
Es gab keinen angelnden Mann, wie es nie einen Fluß und auch das jenseitige Ufer nie gegeben haben wird; so oder so ähnlich, sagte ich mir oft seit damals, dachte es demnach schon in der kurzen Spanne von Atem, für deren Dauer ich, abgewandt von dir, im nahen Wald zwei Waldarbeitern zusah, die, gerade noch entrindete Baumstämme übereinandergestapelt, jetzt eine Pause eingelegt hatten, Vesper zu halten.
Wem würde ich erklären können, was ich sah: es ging vom Essen beider Männer eine tiefe Stille aus.
Selbst die, von ihnen sicher in der Tagfrühe mitgeführten, inzwischen aber in dem Waldstück nurmehr herumliegenden Maschinen und Geräte waren still, und ich bemerkte wie ich anfing, über diese Stille nachzudenken, wobei mir die Stille meines eigenen Denkens plötzlich laut und klappernd vorkam.
Ich steckte mir die Fingerkuppen in die Ohren, nichts von dem nach außen dringen zu lassen.
Ich sah, und es war die gesehene Stille der Essenden, war die noch tiefere Stille ihrer Maschinen und Geräte, die, wie mir beinah folgerichtig klar wurde, einst aus einem tiefen Menschenschweigen ersonnen worden waren, in der ich den Ausdruck einer fernen Demut erblickte. Ich sah in der gesehenen Stille der beiden Vesper haltenden Waldarbeiter, aber mehr noch in ihren Maschinen und Geräten, die Vergeblichkeitsschatten längst untergegangener, betender Menschen. Menschen, die zu treffen ich mein Haus, das Bauland schon zu meinem Haus, verlassen haben mußte. Da erst wußte ich, wir beide würden nie mehr zueinanderfinden.

Mann:
Meine Erinnerung an den Spaziergang hat zerstört, was ich bis dahin fest zu wissen glaubte; o die Erinnerung seither: ich habe die Namen der Fabrikanten und selbst ihre Pflegehinweise aus den Futteralen sämtlicher meiner Kleider heraustrennen lassen, bloß um die Fülle von Gründen frei von Ablenkung zu halten, Gründen, die du vorgabst zu haben, nicht auf den Fluß, und ich bin sicher, es war dieser, und bin sicher, daß er Oder hieß und seither nicht mehr fließt, hinausschauen zu müssen.
Du wolltest, als Malerin, für die du dich hieltest, meinen Blick, der dir stets ein Gedankenblick gewesen war, nicht teilen.
Du trugst dich, wie du zugeben wirst, auch damals schon mit Überlegungen, deren Gegenstand mir von Anfang an dunkel und unerforschlich bleiben sollte, die aber doch darauf abzuzielen schienen, fortan von Gedankenblicken, wie du sie meinem Hunger nach Sinn zuschriebst, nurmehr verstört zu sein und auf diese Weise einer Art Instinkt zu gehorchen, über dessen Wesen du, wie ich gleich ahnte, freilich gar nichts Faßbares in der Hand hieltest, für den du auch im Leben keine Verantwortung würdest übernehmen können.

sie wenden sich einander zu.

Frau:
Darüber hatten wir bis dahin nie gesprochen.

Mann:
Wir hatten noch nie über Etwas gesprochen.
Nur über so genannte Dinge, Reisen etwa, Filme, Fotokopien von Zeitungsausschnitten, welche sich ihrerseits wieder mit Dingen befaßt hatten, die uns nichts angegangen waren, weil es ihnen nicht gelungen war, uns Etwas gegenüberzustellen. Wir hatten nur, jeder für sich, schon sehr lange gewußt, daß wir uns weiter und weiter voneinander entfernen und eines Tages einfach fortgegangen sein würden. Mehr gab unser Wissen nicht her.
So werden wir auch diesmal, staunend über die Verläufe unserer ereignislosen Leben, den Spaziergang unterbrochen haben, einander vorzuführen, wie es aussähe, würden wir uns tatsächlich einmal in diese kindhaften, entsetzlichen Gesichter blicken, die die Heimatfreiheit an uns hinterlassen hat.
Doch selbst das dazu notwendige Maskenspiel beherrschten wir nicht mehr; so überanstrengt hatte uns die Flachheit unserer Schwere, daß sogar die Kunst, wie oft war sie uns Zuflucht gewesen, nichts weiter mehr bot, als jenen blöden Schmerz, den Hinterbliebene Verschollener empfinden.

Frau:
Und wir waren darüber erschrocken.
Jetzt galt es: wir hatten ein Alter erreicht, dessen Feinde wir immer gewesen waren, ein den Menschen diesseits des Flusses sonst gar nicht erreichbares Alter.
Wir hatten uns ertappt, der Vorhang war zerrissen. Und. doch muß Etwas uns getröstet haben, schließlich weinten wir nicht, und fielen uns nicht, wie wir es erwartet haben müssen, gegenseitig an.
Wir bebten nur, jeder für sich… nur ein wenig. Selbst jetzt ist Etwas Tröstliches geblieben in unseren Worten, Etwas wie: ICH KENNE DEN WALD NICHT, DU KENNST NICHT DEN FLUSS; Etwas weit voneinander entfernt, und anders überhaupt nicht Wahrnehmbares.
Wir sind auf eine alte, ekelhafte Weise Kinder, aber niemand außer uns begriffe das Verhängnis, würden wir jetzt anfangen zu lachen.

Waldarbeiter:
Ich habe diese Arbeit angenommen, weil ich schon als kleiner Junge wußte, daß ich irgendwann in meinem Leben einen Wald werde zersägen müssen.

Waldarbeiter:
Laß den weg, hab ich dem Chef gesagt, der gehört in die Stadt. Auf den Tisch hab ich gehauen, mir die Hand dabei zerstochen, bloß weil ich allein arbeiten will. Teil mir keinen wieder zu, der in die Stadt gehört, der aus der Stadt kommt, der wie alle ist. Es ist entsetzlich, daß der Chef mich nicht verstanden hat. Wenn es ihm darauf ankommt, ist er hellhörig wie eine Eule. Es muß ihm auf mich nicht ankommen, ich habe schon lange so einen Verdacht und hab wieder zu leise geklagt.

Mann:
Wir waren noch lange nicht weit genug voneinander entfernt, uns darüber zu täuschen, daß wir ein Alter erreicht hatten, dessen Möglichkeit zur Größe wir uns mit den Annahmen über die Lüge des Lebens selbst entzogen hatten; jenes Menschenalter nämlich, für dessen Erreichung wir diesseits des Flusses allerorts verspottet und fortgejagt würden, gäbe es noch jemand außer uns, der davon Kenntnis besäße. Aber den, wie du gleich richtig festgestellt hast, gab es ja nicht, würde es nicht geben.
Und so würden wir, ein jeder ganz für sich und für den anderen doch sichtbar, instinktiv Gedankenblicken oder die Gedankenblicke leugnend, fortan unseren Instinkten folgen: Höhen, die wir nie erreicht und Eigenschaften, die wir nie besessen hatten. Wir würden mit unserer, von ungezähltem Alter verhangenen, gräßlichen Kindhaftigkeit, jeder für sich, und doch wieder nicht ganz für sich allein, ein neues Spielzeug ausprobieren, seine Möglichkeiten vorschnell überschätzen, um uns schließlich an seiner Zerstörbarkeit zu langweilen: ganz wie wir heute den Verdacht abstritten, einst aus Baumrinde winzige Boote geschnitten zu haben, um sie später, du als Waldene, den Flußlauf keines Blickes würdigend, ich als Hiesiger, mich nach dem jenseitigen Ufer verzehrend, das ich, weil mir ja nichts weiter übrig bliebe, seinem Wesen nach für unerreichbar halten würde, heimwärts in unsere Kisten und Keller zu tragen.

sie sinnen und fassen sich wieder.

Frau:
Nenn mir einen Anlaß, mir nicht mehr zu gleichen.
Sag mir die Farbe des Fließens, dann sag mir die Farbe der Ufer. Gib mir Etwas, das dann nicht mehr in dir sein wird. Kannst du das. Sag nicht, wir wären nur spaziert, und nicht, wir seien nur erlahmt.
Du fügst gern so komische Worte zu Sätzen.
Du Gedankenblickmann, der doch niemals gedacht hat, der immer flußabwärts, wo immer ein angelnder Mann sitzt, zu bleiben verstand.
Einmal sagtest du, mein Schicksal als Malerin sei es, in einem Zustand dauernder Bewußtlosigkeit zu verharren und von jeder mir nicht geschehenen Liebe zerrissen zu werden. Und ein andermal hieß es, ich würde, wie vor einer jeden, so auch der bezweifelten, gar nicht zu nennenden Liebe gescheitert sein, wie ich jetzt, also damals, das Waldstück beobachtend stürbe, verschwände, verginge. Ich stehe dir nicht feindlich gegenüber und bin auch keine Feindin der Menschen, die verurteilt sind, diesseits des Flusses zu siedeln. Nur empfand ich oft, als ich mit ihnen sprach, daß sie nicht wissen, was sie reden, wenn sie etwas sagen. Womöglich träumen sie ja noch. Ich kenne aber, die anderen kenn’ ich ja gar nicht, die Menschen auf dieser Seite des Flusses nicht gut genug, so schlimme Mutmaßungen über sie zu verbreiten.
Als Fremde aus den Wäldern habe ich mir, seit ich zum erstenmal dieses Ufer betrat, nur die mit meiner Flußabgewandtheit übereinstimmenden Träume gemerkt.
Alles, was darüberhinaus noch geschehen sein muß, habe ich mir nicht gemerkt und es mir deshalb heimlich aufgeschrieben.
Da ist kein Grund, mir diesen unschuldigen Zeitvertreib zu neiden: ich wollte bloß sehen, wie fremd mir die eigene Handschrift schon ist. Niemand muß in dem Schriftgut einer Malerin nach Anhaltspunkten für eine weitere Schrift suchen.
Schließlich lebt sie nicht davon.
Ich weiß was ich sah als der Abendnebel, wie er sich über das Waldstück herabsenkte mir eine Helle, sein Grau oder Blau mir ein Grün und das Schwarz der erwarteten Nacht mir die Andeutung war, eines noch unbekannten, überraschenden Schwarz, welches kommen würde, täten wir endlich die Arme auf, uns in der elenden Herrlichkeit unseres Schweigens zu treffen.
Ich weiß, warum du mich bedrohst, du bedrohst mich ja nicht.
Ich bin früher langsam gewesen, doch dann bin ich langsam geworden: das ist ein nie bemerkter Unterschied.
Aber nur so kann es sein, daß ich längst eine Stille erwarte, in der sich das Schweigen ereignen kann, dem ich noch jung und täglich deinen Ablenkungen folgend, fremd geworden bin.
Ja, fremd wie keine Fremde keinem sich in ihr Verirrenden. Ich habe begonnen zu warten.

Mann:
Sicher hast du das, ich werde dich in deiner Dummheit warten lassen und ein Stück den Fluß hinunter gehen. Gleich an der nächsten Fährstation werde ich eine Wirtschaft erreichen, in der ein paar ermüdete, schweigsame Menschen an der Theke lehnen, die, da sie in Wahrheit ihr Leben diesseits des Flusses verbracht und gearbeitet haben, noch auf ihrer Flucht als Soldaten und ihrer daraus sich ergebenden Flucht als Vertriebene, gelernt haben, besser als seine Verheißung, das Elend des Zweifelns zu kennen. Zu ihnen werde ich mich lehnen, meinen Blick vereinfachen und meinen Schmerz darüber mit der Zeit betäuben.
Ich habe nämlich in Wahrheit nie diesseits des Flusses gelebt, sondern lediglich an der Möglichkeit, hier überhaupt leben zu können, gezweifelt.
Wo ich von meinem Ufer, meinem Land sprach, meinte ich die weite Welt.
Seit ich vergessen kann, weiß ich, wie töricht das war.
Wer kennte nicht, am Ufer angelangt, ein Ziehen in der Brust.
Und erst das Land… Wie wunderbar muß der Versuch sein, nicht daran zu rühren, es nicht auszukosten bis zum Ende. Längst sind wir angekommen, wo auf der Suche zu sein wir immer noch vorgeben, wenn man uns fragt, was wir täten. Die Menschenzeit dieses Planetenlandes hat sich auf Verkleinerungen eingerichtet.
Adieu, meine Geliebte.
Es bleibt verführerisch, die Menschen hier auf ihrem Kopf zu denken.
Auch wenn ich nun mit der Gelassenheit nach Osten blicken muß, die ihren Wahnsinn lindern hälfe, würden sie in ihrer frohen Massenhaftigkeit Gelassenheit erlangen, ehe sie aus den Verschlägen, die sie ihrer Wärme wegen anzulegen wissen, an die Flüsse kriechen.

der oger stürzt sich in die fluten.

Frau:
Adieu ich werde euren Blick nicht teilen, lieber Bommel, und nicht das Bedauern, mit dem ihr die Flüsse beschreibt.
Ich würde mich nur wieder in den Uferschlamm eingraben, was ein Fehler wäre, denn ich kenne nicht die Sehnsucht an den Flüssen.
Ich ahne, wogegen ihr ankämpft, wenn ihr nach und nach flußabwärts zu den toten Männern geht, euch zu ihnen zu stellen. Ich aber, wie ich es lernte mit meiner Geburt, will mich zu den Maschinen und Geräten hocken; und das Menschenschweigen hörend, aus dem sie ersonnen wurden, werde ich das Wort für Horizont aus meinem Mund verbannen.
Ich werde sehr viel Wasser brauchen, eurer todbringenden Wehmut nicht wieder zu folgen; und wenn kein Wasser wieder käme. 

sie wendet sich den waldarbeitem zu sie auf die stirn
zu küssen ehe sie sich wie die UNBEKANNTE die zuletzt
verschwand unter ausnutzung der abendkühle löst.

Waldarbeiter:
Feierabend. Hause. 

Waldarbeiter:
Wie lang die Tage sind, wie nicht von dieser Welt. Laß alles liegen, wie es liegt. Mir ist so, als kämen noch andere, schönere Menschen, für die bloß kein Platz wird, solange wir immer das Werkzeug mitnehmen.

aus weiter ferne ein fischer.

Fischer: (polnisch)
Ich werde hier sitzen und fischen, bis der Fluß mir meine Rute aus der Hand schlägt. Ich werde den Fluß überdauern, auch wenn von ihm nur eine leere und rissige Straße bleibt, mit einer Ampel und einem die Grenze markierenden Hund.
Ich halte keinen auf, es gibt keinen Halt unter Fischern.
Es gibt keinen Halt, hört ihr, gar keinen Halt.
Davon redet der Fluß. Er sagt immer das Gleiche:
VERSCHWINDE ANDERES UFER.
Mehr kann er nicht sagen:
VERSCHWINDE IN GOTTES NAMEN.

Waldarbeiter:
Verstehst du, was der ruft. 

Waldarbeiter:
Wie soll ich wissen, was er sieht. 

Waldarbeiter:
Ist es wahr, daß, wer am Ufer angekommen umkehrt, sich bereits verloren hat.

Waldarbeiter:
Wie soll denn ich wissen, was wahr ist. 

(die Nacht hat das größere Boot; i. m. Johannes Bobrowski) 

Ulrich Zieger
Aus: Ulrich Zieger: Über die Mandelbrotmenge (1993), in Ulrich Zieger: Vier Hefte, Druckhaus Galrev (edition qwert zui opü), 1999

 

AN BOBROWSKI

Sarmatien
Alt
SARMATISCHE ZEIT
Archaische Zeit

Du kamst herauf
Aus dem
SCHATTENLAND
STRÖME
Ein Baum

Mit Wurzeln
Aus Filigran
Wir bleiben
Verbannt

Sarmatien

Aber das Licht
Über dem Sund
Von Helsingör
Buxtehude

Und der junge Bruhns
Sind auch vom Libanon
Das Licht – das Licht
Der Wind
Die Ebene herauf

Die Hügel blau
Vor Nowgorod.
Wir kennen
Nicht

Sarmatien

Wir sind
Nicht Salz
Nicht Licht
Die Taube nicht

Geköpft im Sand
Der Greis nicht
Mit dem weißen Haar
Sind Aaron nicht

Im Staub die Spur
Bleibt unverhohlen
Hinter uns
IM WINDGESTRÄUCH

Der Fährmann
Winkt
Sokaiten – Und
Er kommt
Kein Wort
Kein Wort
Das taugt

Was wissen wir
In Blindheit stumm
Vielleicht
Daß er gewesen ist

Gespielt auf
LITAU’SCHEM CLAVIER
Beschrieben hat das
MÄUSEFEST
Von LEVINS MÜHLE
Uns erzählt
Von BOEHLENDORFF
UND ANDEREN

Vielleicht
Daß er
Gegangen ist
Vom E zum H

Setzt den Stein
Wer soll ihn setzen?
Setzt den Stein
Wer kann es tun?

Wie wird man
In Livland reden
Über ihn – Ein
Guter Mensch!

Guter Mensch
Singt Wilnas
Eiche
Meine Birke
Nowgorod
Widerschein
und WETTERZEICHEN

NACHBARSCHAFT
Wir hören’s gerne
Schöner Mond
Mahiampol
Und der Händler
Aus Rassainen
Der Holunder
Schwer und reif

Schwaden Heu
Tollkirschendickicht
Haar, das brannte
Judenkind

Setzt den Stein
Wer soll ihn setzen?
Setzt den Stein
Wer wird es tun?

Bucht aus Regen –
Regen-Bogen
Frieden
Der
Versprochen

Ist

Jochen Hoffbauer

 

BEGEGNUNG
für Johannes Bobrowski

„Hier bin ich geboren –
auf der anderen Seite der Stadt,
damals in den ermordeten Jahren;
und bin weder hier noch dort zuhause,
unterwegs,
ich suche den Ort,“

„Hier bin ich zuhause –
am Strand, ich schau ostwärts
in die ermordeten Jahre;
wo der See ins Unsichtbare geht,
noch weiter weg,
ich komme von dort.“

Und dennoch stehen wir hier zusammen,
das Wasser ist still, und unsere Augen
haften darauf, begegnen sich, ruhen –
weder auf der einen Seite
noch auf der andern,
in einem lebenden Jahr.

Michael Hamburger

 

DICHTERKREIS

Im liedoffnen Raum
„der schönen Literatur
und des schönen Trinkens“
verhaltene Töne
deines Clavichords.

Blauer Rauch,
Zigarrengeselligkeit,
wenn die Uhren anfangen
nachzugehen,
im rotweinverzögerten
Wort.

Gastlichkeit
bis in die Mitternacht
geleerter
Gläser.

Ulrich Grasnick

 

 

Johannes Bobrowski liest Gedichte und Prosa 1962 und 1965 für die Quartplatten des Klaus Wagenbach Verlages.

Johannes Bobrowski liest Gedichte und Prosa 1962. Bei dieser Aufnahme handelt es sich mit ziemlicher Sicherheit um die Lesung Johannes Bobrowskis zur Tagung der Gruppe 47 in Berlin, auf der Bobrowski den Preis der Gruppe 47 erhielt.

 

Gerhard Wolf: Johannes Bobrowski: Leben und Werk

Gerhard Wolf: Beschreibung eines Zimmers. 15 Kapitel über Johannes Bobrowski

Walter Gross: Der Ort, wo wir leben
DU, Heft 2, Februar 1965

Günter Hartung: Johannes Bobrowski
Sinn und Form, Heft 4, 1966

Wilhelm Girnus: Für Johannes Bobrowski
Sinn und Form, Heft 6, 1967

Jürgen Joachimsthaler: Bobrowskis Häutungen
literaturkritik.de, 5.4.2017

Andreas Degen: Kafka zum Beispiel
literaturkritik.de, 9.4.2017

Thomas Taterka: Der letzte Talissone
literaturkritik.de, 5.4.2017

Sabine Egger: Martin Buber und Johannes Bobrowski
literaturkritik.de, 16.4.2017

Andreas F. Kelletat: Vom Ende der Sesshaftigkeit
literaturkritik.de, 5.4.2017

Reiner Niehoff: Bobrowski-Fragmente
SWR2, 19.6.2017

 

Zum 1. Todestag des Autors:

Jürgen P. Wallmann: ich hab gelebt im Land, das ich nenne nicht“
Die Tat, 3.9.1966

Zum 50. Geburtstag des Autors:

Gerhard Desczyk: „… so wird reden der Sand“
Neue Zeit, 9.4.1967

Zum 10. Todestag des Autors:

Peter Jokostra: Gedenkzeichen und Warnzeichen
Die Tat, 29.8.1975

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Gerhard Rostin: Der geht uns so leicht nicht fort
Neue Zeit, 9.4.1977

Zum 15. Todestag des Autors:

Jürgen Rennert: Von der Sterblichkeit der Dichter
Das Literaturjournal, 3.9.1980

Zum 20. Todestag des Autors:

Gerhard Wolf: Stimme gegen das Vergessen
Freibeuter, Heft 25, 1985

Reinhold George: Brober
Schattenfabel von den Verschuldungen. Johannes Bobrowski zur 20. Wiederkehr seines Todestages, Amerika Gedenkbibliothek, Berliner Zentralbibliothek, 1985

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Michael Hinze: Mitteilungen auf poetische Weise
Berliner Zeitung, 9.4.1987

Eberhard Haufe: Der Alte im verschossenen Kaftan
Neue Zeit, 9.4.1987

Zum 50. Todestag des Autors:

Annett Gröschner: Der sarmatische Freund
Die Welt, 29.8.2015

Christian Lindner: Mit dem dunklen Unterton der Melancholie
deutschlandradiokultur.de, 2.8.2015

Lothar Müller: Nachrichten aus dem Schattenland
Süddeutsche Zeitung, 1.9.2015

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Helmut Böttiger: Große existenzielle Melodik
Süddeutsche Zeitung, 6.4.2017

Dirk Pilz: Dem großen Dichter zum 100. Geburtstag
Berliner Zeitung, 6.4.2017

Dirk Pilz: Ostwärts der Elbe
Frankfurter Rundschau, 7.4.2017

Arnd Beise: Ein Christenmensch und ein großer Geschichtenerzähler
junge Welt, 8.4.2017

Klaus Walther: Johannes Bobrowski: In „Sarmatien“ eine poetische Heimat gefunden
FreiePresse, 7.4.2017

Richard Kämmerlings: Der Deutsche, der an der Ostfront zum Dichter wurde
Die Welt, 9.4.2017

Cornelius Hell: Wer war Johannes Bobrowski?
Die Presse, 7.4.2017

Klaus Bellin: Erzählen, was die Leute nicht wissen
neues deutschland, 8.4.2017

Tom Schulz: Mein Dunkel ist schon gekommen
Neue Zürcher Zeitung, 9.4.2017

Manfred Orlick: Die Deutschen und der europäische Osten
literaturkritik.de, 5.4.2017

Oliver vom Hove: Der Dichter verlorener Welten
Wiener Zeitung, 9.4.2017

Wolf Scheller: Poetische Landnahme im Osten
frankfurter-hefte.de, 1.4.2017

 

 

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Nachrufe auf Johannes Bobrowski: Der Sonntag ✝ Die ZeitSZ
Kürbiskern ✝ Kunze ✝ Grabrede 1 & 2

 

Klaus Wagenbach spricht über Johannes Bobrowski und Günter Grass liest die Erzählung „Rainfarn“.

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