Joochen Laabs: Zu William Carlos Williams Gedicht „Junge Frau am Fenster“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu William Carlos Williams Gedicht „Junge Frau am Fenster“.“ –

 

 

 

 

WILLIAM CARLOS WILLIAMS

Young Woman at a Window       Junge Frau am Fenster

She sits with                                   Sie sitzt mit
tears on                                            Tränen auf

her cheek                                         der Wange
her cheek on                                   die Wange auf

her hand                                         der Hand
the child                                          das Kind

in her lap                                        auf dem Schoß
his nose                                          seine Nase

pressed                                           gepreßt
to the glass                                     an das Glas

 

Raum durch Worte

Bei diesem Gedicht verbietet sich für mich eigentlich jede Interpretation. Jedes weitere Wort – Gerümpel. Aber kaum ein Gedicht fordert mich so heraus, mich zu verhalten, und zwar nicht sprachlos. Aus diesem Zwiespalt meine Bemerkungen.
Diese dreiundzwanzig Worte von W.C. Williams sind für mich ein exakt poetisches Gedicht, Kulminationspunkt der Lyrik (auf einer Höhe etwa mit „Wanderers Nachtlied“): eine Situation, sprachlich auf das Minimum reduziert, auf ihren absoluten Kern komprimiert. Aber aus dieser Komprimierung, Ver-Dichtung, die immense Wirkung, eine ungeheure Strahlung. Das Umland, das ausgebreitet wird, ist grenzenlos, räumlich und zeitlich. Noch ehe der enge Raum der Situation benannt wird (er wird es nie), ist er schon ausgeweitet, durch das einzige lokale Detail und durch die Beziehung der Personen dazu: am Fenster. Und zwar gleich in der Überschrift. Und dabei bleibt es. Aber jedes weitere Wort, obwohl ohne jeden lokalen Bezug, assoziiert Räume: das Zimmer, aber sofort dazu möglicherweise einen Garten, einen Vorgarten, ein Stück Straße vielleicht, ein Stück Stadt, die ganze Stadt, Umland, Land, voller vieler Städte… Und gleichzeitig holen die Worte, obwohl auch in dieser Hinsicht völlig unverdächtig, Zeit heran. Denn was das Gedicht ausspricht, ist Folge abgelaufener Vorgänge. Soeben abgelaufener? Es ist unwesentlich, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen. Außer Frage aber steht, Erwartungen, Hoffnungen sind beschädigt worden, deren Wurzeln viel weiter zurück reichen, die möglicherweise schon da waren, als sie, die Frau, Kind war, wie das auf ihrem Schoß… Und das Kind ist es, das einen in die Zeit vorausträgt, als könne man sie vorbereiten, Ungünstiges, Gefährdungen, Schmerzen beiseite räumen, daß dem Kind Situationen wie diese erspart bleiben. Wenn wir, die Außenstehenden, schon zu soviel bereit sind, wie dann erst die Mutter. Wir können aus der Szene treten, erleichtert wäre zu viel gesagt, aber überzeugt, anschließen wird sich, trotz der Tränen, Leben, das der Mutter und das des Kindes.
Dieses Gedicht ein Beleg: Poesie ist nicht sprachlich ästhetisierte Information (worin sich die meisten Texte, die gemeinhin als Gedichte gelten, erschöpfen), Poesie ist der unausgesprochene Raum, den ein Wort oder die Verbindung mehrerer Worte um sich ausbreitet. Die Worte des Dichters – die Steine des Fundaments; wie sicher sie gefügt sind, wie gut ihr Material ist, davon hängt ihre Tragfähigkeit ab und wie groß das Gebäude wird, das der Leser darauf errichtet.
Der Umstand, daß dieses exponierte Gedicht in einer anderen Sprache entstanden ist, bietet die Möglichkeit, durch den Vergleich beider Fassungen deutlich zu machen, daß die Tragfähigkeit der Wörter eben nicht nur von ihrem Sinngehalt, sondern zu einem nicht unerheblichen Teil von ihrer phonetischen Substanz, ihrem Klang, ihrem emotionalen Impuls bestimmt wird. Wie sonst ließe sich der Verlust der beinah wortwörtlichen Übersetzung des Deutschen gegenüber dem Amerikanischen erklären? Allein die scheinbare Unerheblichkeit einer zweiten und dazu noch klangschwachen Silbe der deutschen Wörter Tränen, Wange, Nase, die im Amerikanischen nicht vorhanden ist, reicht aus, daß die Nahtlosigkeit des Originals nicht zustande kommt. Noch größer wäre die Einbuße, verwendete man entsprechend dem englisch-amerikanischen her die analogen deutschen – wiederum um eine Silbe gedehnten – Possessivpronomen ihren, ihrem statt der Artikel der, die. Die klangliche Kongruenz von Übersetzung und Original dient der Entsprechung mehr als die lineare Sinnwiedergabe. Des weiteren liegt dem Original ein klanglicher Bogen zugrunde, der sich von kalten i-Lauten (tears, cheek) über das ambivalente e (band, lap) zu warmen o und a (nose, glass) spannt, der Atmosphäre bedient und im Deutschen nicht herzustellen ist. Wenn dennoch in der Übertragung genügend erhalten bleibt, liegt es nicht zuletzt daran: ein Ur-Stoff, Mutter mit Kind, Madonna. Ein Stoff, der Ethiken, Religionen trug und trägt, und das nicht von ungefähr. Warum soll er gerade vor uns versagen? Zumal er, alles Mythischen, alles Interpretatorischen entkleidet, uns ganz alltäglich-sinnlich vorgeführt wird.
Und ein Gedicht, das, trotz der Zurücknahme äußerer Vorgänge bis auf das Unumgängliche, nicht erstarrt ist; ein Gedicht voller Spannung; der schmale Grat, der sie hervorruft, genau getroffen: nicht Leere, aber Verlust; nicht Resignation, aber Enttäuschung; Schmerz, aber nicht Verzweiflung; Stille, aber nicht Leblosigkeit. Ein Gedicht, das die Grundwahrheit erfaßt: Leben als Bewältigung von Widersprüchen. Leben als Bewegung, als Gegenteil von Ruhe. Ein Gedicht, das einen nicht zur Ruhe kommen läßt. Ein dialektisches Gedicht.

Joochen Laabs, neue deutsche literatur, Heft 3, März 1980

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