Joseph Anton Kruse: Zu Elisabeth Langgässers Gedicht „Vorfrühlingswald“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Elisabeth Langgässers Gedicht „Vorfrühlingswald“ aus Elisabeth Langgässer: Der Laubmann und die Rose. Ein Jahreskreis. 

 

 

 

 

ELISABETH LANGGÄSSER

Vorfrühlingswald

Schatten wie Hunde im grauen Gewaid,
Schwarzdorn, beflockt von der Häsinnen Kleid.
Sterne, wie milchig. Von Starre erlöst.
Leben, wer lebt dich? Wer ist’s, der dich west?

Murmelnde Munde. Es steigt und verrinnt.
Surren und Sausen. Die Uralte spinnt.
Windgepeitscht, wirrt sich das Schlafgarn vom Strauch –
Hört sie ihn ächzen? Und hört sie sich auch?

Grundwässer quillen. Geheimes Gefühl
Zittert und zuckt durch der Erde Gestühl.
Yggdrasils Härte, sie harzte und schmolz,
Und eine Gottheit wird hangen am Holz.

 

Mutter und Tochter, Jagd und Verfolgung

Nachdem ich im schmalen Lebensroman der Tochter gelesen hatte, griff ich wieder zum Gedichtbändchen ihrer Mutter. Da lagen sie unvereinbar nebeneinander. Einmal Mythologie, Naturmagie, Zeitferne, Erotomanie; Elisabeth Langgässer, wie sie leibte und lebte. Daneben die verzweifelt-liebende Abrechnung mit dieser Mutter, die poetische Rekonstruktion einer durch die Konzentrationslager Theresienstadt und Auschwitz zerstörten Jugend, die nie mehr aufzulösende Lebenslast der Cordelia Edvardson. Gebranntes Kind sucht das Feuer, ein heller Schutzumschlag, der ein nostalgisches Kinderbild der Autorin zeigt, ihre Prosa ein schweres Gewicht aus jüngster Zeit auf der Waagschale gegen diesen eine Generation älteren Lyrikband: Elisabeth Langgässers Der Laubmann und die Rose aus den ersten Nachkriegsjahren.
Sein Pappdeckelumschlag hat etwas von einer Tapete: weiße Linien, die Blattwerk und erblühte Rose auf verblichen-rosafarbenem Grund aussparen. Es ist ein fehlerhaft gesetztes Bändchen auf schlechtem Papier. Und weil es bei einem Gedicht auf jedes Wort, auf jeden Buchstaben, auf jedes Zeichen ankommt, liegt ein grauer Zettel mit Korrekturen bei, der gleichzeitig die Veröffentlichung auf das Jahr 1947 datiert. Cordelia war damals achtzehn Jahre alt, war befreit und in Schweden. Aus katholischem Hause stammend, würde sie später zur jüdischen Religion übertreten. Damit löste sie für sich den Grund ihrer Inhaftierung ein. Die von ihr in den Kinderjahren als ein wenig hysterisch, ein bißchen verrückt empfundene Mutter erbittet nach der Katastrophe von der geretteten Tochter im Ausland brieflich Auskünfte über deren Schreckenszeit, weil sie literarisch davon profitieren möchte. Dadurch wird Cordelia endgültig eine im vielfachem Sinn geschlagene uneheliche Tochter; der Laubmann, die Rose und das verlassene Kind, das im Feuer fast umgekommen wäre und sich seitdem der Gefahr ständig aussetzen muß.
Und doch das Geständnis der Tochter, nur die ihr stets gegenwärtige Lyrik habe ein Überleben ermöglicht. Nicht unbedingt die Lyrik der Mutter, aber doch Lyrik, in deren Tradition diese weiterzudichten sich berufen fühlte. Auch darum hat dieses mythisch und mystisch raunende Naturgedicht viel mit dem Schicksal von Mutter und Tochter zu schaffen. Deshalb berührt und erschreckt es mich. Elisabeth Langgässer hat erst nach dem Krieg wieder publizieren können; um so erstaunlicher, daß im Gedicht die nordische Götterwelt weiterhin unheimliche Urständ feiern darf. Die Tochter ist dabei auf der Strecke geblieben.
Der Vorfrühling als Geschichte von Odins Selbstopfer an der Weltesche Yggdrasil, unter der die uralte Norne wohnt. Christlich der Ausblick, die Übertragung von Odins Opfer auf das des Jesus von Nazareth am Kreuz in Jerusalem. Germanische Naturlyrik und gleichzeitig Karfreitagsgedicht: Gegensätze und Widersprüche, die sich schwer auflösen lassen. Die Langgässer ergibt sich einfach ganz der Emphase, dem atemlosen Gefühl, der allitterierenden Sprache.
Es ist ein Gedicht des Übergangs und des Wechsels: von der Erstarrung zum Leben, vom abweisenden Grau zur farbigen Welt, von Frost und Eis zur Schmelze, von der Härte zum weichen Harz, von der Unerlöstheit zur Befreiung durch das Opfer. Die Bilder von Jagd und Verfolgung, von Frühlingssturm als Frühlingserwachen, von Neugeburt und allgegenwärtiger Vitalität münden in die Botschaft von Yggdrasils Auflösung, von der Renovierung der Welt und von einer neuen erlösten Zukunft. Das nordische Heidentum als Vorläufer und Bote der menschlicheren Lehre des Christentums, der Osterspaziergang als Folge eines Kampfes von Göttern und Mächten mit dem Ergebnis endlichen Friedens. Nach dem bedrohlichen Vorfrühling schließlich der heitere, sanfte Frühling: ein Gott in Menschengestalt, der durch seinen Tod die Natur erlöst.
Hier wird eine religiöse Ebene erreicht, die der Dichterin wegen des erotisch-naturmythischen Tons dennoch leicht übelgenommen wird von denen, die beklagen, daß es keine christliche Literatur mehr gebe, aber selbstverständlich auch von denen, die finden, daß Lyrik nicht Predigt sein dürfe. Der Vorfrühlingswald ist mit seiner untergründig brodelnden herben Glätte mehr als Abbild und Spiegel: nordische Götterwelt und christliche Heilslehre finden dort gewissermaßen ihren „Sitz im Leben“. Jahreszeit und Natur überfallen die Dichterin mit Qual und Trost. Trotz mancher befremdlichen Manierismen teilen sich beide Erfahrungen mit, wird spürbar, daß auch die Mutter dem Feuer nicht entronnen ist.

Joseph Anton Kruseaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zwölfter Band, Insel Verlag, 1989

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