Joseph Anton Kruse: Zu Günter Kunerts Gedicht „Fantasma“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Kunerts Gedicht „Fantasma“ aus Günter Kunert: Berlin beizeiten. –

 

 

 

 

GÜNTER KUNERT

Fantasma

Das letzte Gedicht über Berlin –
wie wird das wohl sein?
Hymnisch? Oder voll Ironie?
Epitaph auf bröckelndem Stein?

Zum Abschied vielleicht eine Elegie
im Plusquamperfekt: Gewesen war.
Adressiert an den Wind.
Absender: Ein üblicher Narr.

Das letzte Gedicht über Berlin
wär auch das Ende vom Lied:
ein immer unvollendeter Vers,
weil ihn keiner mehr sieht.

 

Berliner Apokalypse

Kunert schreibt, als zeichne er mit spitzer Feder oder stichele auf Linol oder Holz, künstlerische Techniken, die er gelernt hat und immer wieder anwendet. Manchen seiner Bücher hat er den eigenen optischen Schmuck mit auf den Weg gegeben. Seine Gedichte enthalten darum nicht von ungefähr messerscharfe Zustandsbeschreibungen, in denen er den Orten ihre Silhouetten, den Himmelsfarben ihre Konturen, den Personen ihre einsamen Schatten zuschneidet. In der Lyrik wurde früher, und manchmal geschieht das heute noch, allzuoft allzuviel gefühlt. Auch Kunert ist nicht ohne anteilnehmende Emotionen wie dieses Berlin-Gedicht aus seinem Band Berlin beizeiten zeigt: Abschied eines närrischen Liebhabers von einer Stadt, die seine Welt bedeutet.
Vor allem aber zeigt ihn seine Lyrik als einen Mann mit bohrenden Gedanken und von strenger Wahrhaftigkeit. Diese Gedichte beschönigen nicht mehr, sie rühmen nicht; sie schmerzen und wollen weh tun durch ihre schonungslose Offenheit, der auch die letzte Illusion zum Opfer fällt. Sentimentales Gejammere liegt ihnen fern, dafür sind sie zu gescheit. Fein ziseliert sind die Sätze, genau treffend die Worte; noch in den Reimen und Assonanzen äußert sich die kühle Kunst als Aufforderung zur Teilnahme am unentrinnbaren Totentanz. Kunerts Lyrik hat ihren eigenen, unverwechselbaren Klang und stützt sich dennoch, wie beispielsweise in Berlin beizeiten mehrfach ironisch angedeutet, souverän auf die Tradition. Sie zitiert und variiert dort Gryphius mit seinem barocken Vergänglichkeitsmotiv, „verbessert“ und aktualisiert Goethes Glück des Augenblicks, beruft sich ernüchtert und ernüchternd auf den „armen“ Brecht. Alles in allem: Wer durch die Brille der Kunertschen Verse die Welt betrachtet dem vergeht zwar das Lachen, nicht aber eine gewisse sarkastische Standhaftigkeit selbst im Untergang.
Seine Visionen und Prophezeiungen der Endzeit sind – gewiß aus biographischen Gründen, aber auch um der symbolischen Wirkung willen – besonders häufig und besonders intensiv an zahlreichen Gedichten über Berlin festgemacht. Günter Kunert ist, angesichts seiner Skepsis insgesamt und seiner schwer zu widerlegenden Katastrophenmeldungen, ohne Zweifel der große literarische Leichenredner und unsere Augen öffnende, ungläubige Prophet, der diese deutscheste der Städte mit ihrem ganz besonderen Schicksal und Krankheitsverlauf anhänglich-kritisch begleitet hat. Dafür ist Berlin beizeiten aus dem Jahr 1987 der nachdrücklichste Beleg. Das Gedicht „Fantasma“ stammt aus dem ersten Zyklus mit dem Titel „Von Berlin“ und ist dessen bedeutungsträchtiger Auftakt. Damals konnte vom Fall der Mauer und von Vereinigung dessen, was zusammengehört, noch keine Rede sein. Traum oder Trugbild, worüber diese drei Strophen spekulieren, betreffen das Ende Berlins als Ende der Welt als Schluß des Lebens und als Aufhören jeglicher Dichtung, in der noch dann die Geschichte festgeschrieben wird, wenn sie sich auflöst. Was darum zuletzt übrigbleibt, ist ein poetisches Fragment ohne Leser. Kunert liefert mit dieser Perspektive seine Berliner Variante der sogenannten Letzten Dinge.
Auch wenn sie in diesem kühlen und aufgeklärten Gedicht beileibe nicht auf der Hand zu liegen scheint, könnte dadurch eine religiöse Dimension gewonnen sein. Die Schreckensbilder apokalyptischer Reden Jesu oder der „Offenbarung“ des Johannes auf Patmos werden hier nämlich klag- und schmucklos, eben modern, auf jene Stadt übertragen, auf die wir alle so lange geblickt haben. Gedacht wird bei Kunert, wie auch andere seiner Berlin-Gedichte zeigen, in Generationen und Erdzeitaltern. Die Vergangenheit als bröckelnder Stein mit Grabschrift vermag uns in der Regel schon anzurühren. Fassungslos aber macht uns das Plusquamperfekt. Da ist nicht einmal mehr etwas Greifbares, sondern nur noch der Wind. Das Wort, um noch einmal eine theologische Deutung ins Spiel zu bringen und an den Beginn des Johannesevangeliums zu erinnern, war allerdings nicht nur am Anfang da, hier bildet es auch das Ende.
Wer sich über die Formen der literarischen Annäherung an Berlin die differenziertesten Gedanken macht und die verschiedensten Gedichtformen erwägt, muß die Stadt sehr lieben und ihre Besonderheit als eine der eingängigsten, einen selbst betreffende und deutende Metapher betrachten. Durch diese Stadt hat nicht nur Kunert „beizeiten“ sämtliche Bedingungen der menschlichen Existenz kennengelernt. Das „Verzeichnis lieferbarer Bücher“ ist voll von Titeln über die deutsche Hauptstadt. Kunerts Arbeiten bilden dabei jene Obertöne, die als Warnung aufzufangen sind, sich nicht am Erreichten zu berauschen, sondern darin alle skeptischen Signale ernst zu nehmen. Denn schließlich denkt diese Berliner Apokalypse sogar über das Ende hinaus: Die Literatur lebt von Berlin, und Berlin ist in Verse eingegangen, bleibt in Gedanken und Sprache aufgehoben.

Joseph Anton Kruseaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechzehnter Band, Insel Verlag, 1993

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00