Jürgen Stenzel: Zu Christian Morgensterns Gedicht „Das ästhetische Wiesel“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Christian Morgensterns Gedicht „Das ästhetische Wiesel“ aus Christian Morgenstern: Alle Galgenlieder. –

 

 

 

 

CHRISTIAN MORGENSTERN

Das ästhetische Wiesel

Ein Wiesel
saß auf einem Kiesel
inmitten Bachgeriesel.

Wißt ihr,
weshalb

Das Mondkalb
verriet es mir
im stillen:

Das raffinier-
te Tier
tats um des Reimes willen.

 

Mondkalbs Geheimnis

Dies Gedicht ist ein Beweis. Wohl nicht als Beweis beabsichtigt, aber es ist einer; wie das Nasobem, das Morgenstern (1871–1914) im Jahre 1905 aus der Leyer seiner Galgenlieder springen ließ, in denen auch unser Wiesel zu Hause ist. Wir sind auf die Zeugenschaft des Mondkalbs dabei im Grunde gar nicht angewiesen.
Das raffinier-te Tier läßt einen mehr als zweihundertjährigen Protest auflaufen. Dem 17. Jahrhundert noch war Poesie schlechthin: gebundene Rede; Rede, zu Versen gebunden durch den Reim. Gelegentliche reimlose Verse hießen Waisen (Waisen!). Junge Literaten aber wollten dann (das war in den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts) ihren deutschen Landsleuten zeigen, es gehe auch anders; der wein- und liebesselige Anakreon bot griechischen Schutz und Vorbild. Wer an die vernünftige Lehre dachte, sah die gerade Linie seiner Gedanken gekrümmt. Wer seine Empfindungen aufs Papier verströmen wollte, fühlte ihre Wahrheit sich verzerren unter dem Joch des Reims.
Es wurde zerbrochen. Die Alten hatten schließlich auch keinen Reim gekannt. Fortan durften Ungereimtheiten ebenso als Poesie gelten wie alles Paar-, Kreuz-, Schweif- oder wie immer Gereimte. Dennoch fand noch Arno Holz in seiner Formel „Kunst = Natur – X“ das fatale x (die Mittel des Künstlers) durch den Reim allzu aufgebläht; das ging auf Kosten der Natur. Am Ende fügten sich seine Gedichte so um eine Mittelachse wie bei unserem Gedicht vom ästhetischen Wiesel, das mit steif gerecktem Rücken von seinem Kiesel aus einen verschmitzten Blick auf den Phantasus wirft. Mittlerweile ist der Reim zum Underdog geworden, mitleiderregend fast. Und mit ihm eine ganze Reihe anderer lästiger Regeln.
Unser Gedicht läßt drei aufeinanderfolgenden Reimen zwei umschließende folgen, das macht 3 + 4 + 4 Zeilen. Die aber, wie junge Hunde, gruppieren sich nach Länge und Enge auch anderen Ordnungen gemäß. So entsteht eine heitere und verquere Konkurrenz miteinander spielender Systeme. Als Zugabe innerhalb der abschließenden Reimklammer der raffinierte gebrochene Reim. Der bildet ab, was er sagt, so wie man eine Kugel mit gewölbten Händen darstellt. Solche Mimesis ergibt Zuwachs, Sinnlichkeit, Spiel, macht die Worte erfreulich und konkret. Was aber ist das Geheimnis, das das Mondkalb ausplaudert? Das Wiesel sitzt aus keinem anderen Grunde auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel als dem, daß diese Worte sich auf seinen Namen reimen. Deshalb verdient es „ästhetisch“ zu heißen. Wer von uns käme wohl auf die Idee, sagen wir, einen Kuchen unter Buchen zu suchen oder einen Käse mit der Fräse zu bearbeiten, bloß weil diese Worte sich reimen (obgleich wir für einen Witz manchmal den besten Freund verraten)? Nur im zwecklosen Spiel, einem interesselosen Wohlgefallen zuliebe, also nur ästhetisch handelnd.
Was aber das Tollste ist: es gäbe die poetische Tatsache nicht, wenn jenes Tierchen sich nicht so verhalten, nicht den Reim als Anregung (statt als Zwang) genommen hätte. Es ist nicht mehr wegzudiskutieren: da saß ein Wiesel auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel. Widerspricht jemand? Goethe hat recht: das Geschriebene behauptet sein Recht wie das Geschehene. Solange die Überlieferung trägt, saß das Wiesel eben da und nirgends anders. Wem wir diese Tatsache zu verdanken haben, das ist der Reim. Er ist ein Diener der Einbildungskraft oder ihr Werkzeug (Ich sage: der Einbildungskraft; die Einbildungsschwäche bringt nur das Geklapper von Sonne und Wonne zustande; was folgt dann auf Liebe?).
Und so ist es mit vielen poetischen Regeln und Formen, die man zum alten Eisen geworfen hat, obgleich sie doch eine produktive Kraft zu sein vermögen. Das sollte doch nicht nur Mondkälbern einsichtig sein.

Jürgen Stenzel, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechster Band, Insel Verlag, 1982

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