Karen Leeder (Hrsg.): Schaltstelle

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Karen Leeder (Hrsg.): Schaltstelle

Leeder-Schaltstelle

ICH UND MEINS

Nehmen wir an,
ich finge mit mir an,
was finge ich dann mit mir an,
was nicht andere dazugetan ha’m.

Nahezu ununterscheidbar im Anfang,
nehmen wir Gestalt an, durch Nahrung,
sogenannte Erziehung sowie Betreuung
werden wir geformt, verformt, umgeformt.

„Ich“ ist eine Selbstbehauptung
angemaßten Autoritäten gegenüber,
und täglich neu zu manifestieren;
auf Teufel komm raus,
Schleppschwanz und Eiertanz.

„Meins“ ist die soziale Substanz
des mir eigens vermittelten
gut Durchrüttelten:

Meins ist sozusagen deins,
und ich, dubidu, du.

Bert Papenfuß

 

 

 

Säulenheilige und Portalfiguren?

– Benn und Celan im Poetik-Dialog mit der jüngeren deutschsprachigen Lyrik seit den 1990er Jahren. –

Ich glaube, daß die Beeinflussung von zur Produktion veranlagten jungen Leuten durch die frühere Literatur nicht so groß ist, wie vielfach angenommen wird (wahrscheinlich zum Leidwesen der Literarhistoriker). Ich würde eher sagen, daß sich im Verlaufe einer Kulturperiode innere Lagen wiederholen, gleiche Ausdruckszwänge wieder hervortreten, die eine Weile erloschen waren.1

Es war Gottfried Benn, der 1955 in seiner Einleitung zur Anthologie Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts diese These gegen eine mit Einflusstheorien arbeitende Literaturgeschichte formulierte – zu einem Zeitpunkt, als der Autor selber nach der großen Resonanz der Statischen Gedichte (1948) und der Marburger Rede Probleme der Lyrik (1951) zumindest in Westdeutschland für viele der zur lyrischen „Produktion veranlagten jungen Leuten“ eine zentrale Orientierungsfigur geworden war. Aus heutiger Perspektive ist die bei Benn anklingende Idee historischer Wiederholungszyklen sicherlich obsolet, während seine Skepsis gegenüber vorschnellen Konstruktionen von Einflüssen nach wie vor plausibel erscheint. Wenn im Folgenden mit Blick auf die jüngere Lyrikergeneration2 nach der Rezeption zweier Autoren gefragt wird, die im 20. Jahrhundert zu den Schlüsselfiguren der deutschsprachigen Lyrik gehörten – Benn in der ersten und Celan in der zweiten Jahrhunderthälfte –, dann geht es weder um den Nachweis werkkonstitutiver Einflussnahmen noch um Spekulationen über lebensgeschichtliche Prägungen, sondern um die Rekonstruktion dialogischer Ausgangslagen, wie sie sich in Essays, Poetiken, Notizen, Skizzen und anderen Texten zeigen: um reflektierte, textuell belegbare Rekurse auf Benn und Celan, die für das Selbstverständnis, die Selbstdarstellung und die eigenen poetologischen Positionen aufschlussreich sein können. Vor diesem Hintergrund ist ,Einfluss‘ keine primär wirkungspsychologische Kategorie, sondern Teil eines intertextuellen Dialogs, bei dem Bezugnahmen auf die beiden großen Autoren in einer Vielzahl von Texten auf unterschiedlichste Weise markiert sind. Methodologisch erscheint daher dieser Art Konstruktion von ,Einfluss‘ nicht die biographische Deutung adäquat, sondern der an Texten orientierte Kommentar.

1. Jenseits von ,Beeinflussung‘? Dialogische Ausgangslagen
Wer die in den 1990er Jahren geschriebenen Poetiken jüngerer Autorinnen und Autoren liest, dem wird zum einen die Belesenheit und profunde literarische Bildung auffallen – der jüngere Lyriker dieses Jahrzehnts ist im Regelfall ein poeta doctus –, zum anderen ein recht enges, oft wiederkehrendes Repertoire an Namen aus der frühen literarischen Moderne: Vor allem Baudelaire, Mallarmé, Rilke, Pound, Benn, Eliot und Mandelstam erweisen sich als Bezugskoordinaten der Argumentation. Schon diese Auswahl zeigt ein starkes Bedürfnis nach historischer, hochreflektierter Fundierung der eigenen Positionen. Die frühe Moderne gibt den Rahmen vor, in dem der eigene Anspruch ausgelotet werden soll; es geht also nicht um einen historisierenden Regress, sondern umgekehrt um einen produktiven Anschluss an das am schärfsten ausgeprägte Bewusstsein für die immer noch gültige Basisfrage nach Anspruch und Autonomie ,des‘ Gedichts in einer Gegenwart, die keine verbindlichen Sinnorientierungsmuster mehr kennt, so dass die Dichtung und die Sprache der Dichtung, ortlos geworden und zunächst durch nichts gerechtfertigt, sich aus eigener Kraft konstituieren müssen.
Es geht bei diesem Blick auf die frühe Moderne nicht um den Versuch, bestimmte Stile, Selbstverständnisse und Rollen zu adaptieren, sondern um das Interesse an der Entstehung und Ausfaltung moderner Gedichtpoetiken und deren Spannungsverhältnis zur jeweiligen Schreibpraxis eines Autors. Vor diesem Hintergrund ist der Rekurs auf Benn in doppelter Hinsicht naheliegend. Benns Positionierung lässt sich durch die Nähe zur frühen Moderne, seine expressionistische Vergangenheit, erklären; außerdem war es Benn, der als einer der ersten nach 1945 dem deutschen Publikum in seinen Problemen der Lyrik den europäischen Kontext mit effektvollen Namen ins Gedächtnis rief, an Baudelaire, Mallarmé, Apollinaire, Valéry, Verlaine, Pound, Poe, Auden und die Surrealisten erinnerte.3 Bemerkenswert ist bei den Jüngeren auch die Reserviertheit gegenüber Lyrikern der Nachkriegsära, etwa das Desinteresse an Günter Eich, Hans Magnus Enzensberger, Karl Krolow, Peter Rühmkorf, aber auch an Günter Kunert und insbesondere der kategorische Abstand zu den Protagonisten der „Neuen Subjektivität“. Zu den wenigen Ausnahmen, die im großen Ensemble der Nachkriegsdichtung überhaupt mit erhöhter Aufmerksamkeit rechnen konnten, gehören bei einem kleinen Teil der jüngeren Generation, die in den 1980er Jahren zu schreiben begann, die Protagonisten des Experimentellen – die Wiener Gruppe, Friederike Mayröcker und Ernst Jandl. Ein einziger Lyriker der zweiten Jahrhunderthälfte aber ragt um so mehr hervor: Paul Celan, dessen späte Gedichte und programmatische Reden eine Schlüsselstellung im ,Poetenkanon‘ der Jüngeren einnehmen, nicht zuletzt deshalb, weil Celan am konsequentesten und zugleich produktivsten an die poetologischen Problemkonstellationen der frühen Moderne anknüpft. Zwar stehe, so Thomas Kling, Celan „vielerorts, immer noch, für die geschlossene Abteilung Gedicht“, also für das Klischee einer kaum oder gar nicht verständlichen Hermetik. Zugleich aber beobachtet Kling eine derart enthusiastische Hinwendung zu Celan, dass sie ihm geradezu verdächtig vorkommt und zu einer programmatischen ,Warnung‘ vor einer von Celans Lebensgeschichte geprägten und auf sie rekurrierenden Gedichtlektüre veranlasst:4

Ausgemacht scheint auch dies: Am Ende seines Dichterlebens steht der Opfertod – geradezu zwingend, automatisch, es-musste-ja-so-kommen. […] Warnung:
Die exklusiv biografistische, die homestory-mäßige Lesart ist zweifellos hoch suchterzeugend und führt schon nach wenigen Leseversuchen in die Abhängigkeit. Überhaupt kann vor dem inzwischen längst international verbreiteten Celan nicht oft genug gewarnt werden. In Deutschland ist eine vergleichbare Massen-Abhängigkeit, die raschest ins Selbstauflösungs-Stadium (Epigonie) führt, seit den fünfziger Jahren, bis auf auffällige Ausnahmen, nicht mehr beobachtet worden (Bennzedrin).

Diese ,Warnung‘ kann nicht als Warnung vor Celan gelesen werden, sondern resultiert gerade umgekehrt aus der Hochschätzung eines Dichters, den Kling in Gefahr sieht, durch „homestory-mäßige Lesart“ und Epigonentum gleichermaßen verharmlost und entschärft zu werden. Von hier aus zieht Kling den Vergleich zu Benn, zu jener „Massen-Abhängigkeit“ der 1950er Jahre, als Benn eine modische Sucht war – Kling spielt mit der Formel „Bennzedrin“ darauf an –, für kurze Zeit eine lyrische Benn-„Epigonie“ auslöste und zuletzt die Wirkung einer Droge hatte, die das zeitgeschichtliche Gedächtnis des belesenen deutschen Bürgertums entlastete, Erinnerungen an den Faschismus betäubte und die trübe, muffige Adenauerzeit erträglich machte.
Klings Celan-Aufsatz ist mit der kritischen Korrelation der beiden Namen keineswegs der einzige Beleg für den dissonanten Zusammenklang von Benn und Celan. In der 1999 erschienenen kleinen Gedichtanthologie Fünfzig Gedichte des 20. Jahrhunderts,5 zusammengestellt von Friedericke Mayröcker, Barbara Köhler, Durs Grünbein, Thomas Kling und Peter Waterhouse, gehören sowohl Gottfried Benn als auch Paul Celan zum Kanon, was sicherlich nicht überrascht. Aussagekräftiger sind die gewählten Titel und die Kombinationen von Benn- und Celan-Texten im Kanon der einzelnen Autoren. So wählte Grünbein mit dem Gedicht „Durch’s Erlenholz kam sie entlang gestrichen —-“ einen Text des jungen Benn, während er Celans Gedicht „Kermorvan“ und dessen Übersetzung des Mandelstam-Gedichts „Nachts, vorm Haus“ empfahl (mit drei von zehn Texten wurden Benn und Celan bei Grünbein besonders beachtet). Kling schlug mit „Einsamer nie –“ ein Gedicht Benns vor, das, 1936 entstanden, erst 1948 in den Statischen Gedichten veröffentlicht wurde,6 und nahm Celans „Engführung“ in seinen Kanonvorschlag auf. Die beiden anderen aus der Gruppe der jüngeren Gegenwartslyrik, Köhler und Waterhouse, wählten kein Benn-Gedicht aus. Dagegen spielt Celan eine ungleich größere Rolle. Waterhouse schlug Celans Gedicht „Es ist alles anders“ und seine Übersetzung des Mandelstam-Poems „Der Hufeisen-Finder“ vor, so dass Celan auf doppelte Weise, mit eigenen Gedichten und mit Übersetzungen, im projektierten Kanon vertreten ist.

2. „Big Benn“, „Onkel Benn“ und andere (Selbst-)Konfigurationen der Autonomiepoetik
Die kombinatorische Wahl von Benn und Celan bei Grünbein und Kling, die Hervorhebung Celans bei Waterhouse, der Benn nicht empfiehlt, und die Aussparung der beiden Kanongrößen in Barbara Köhlers Favoritenliste (ein Autorinnenkanon mit Reinhard Priessnitz als markante Ausnahme) illustrieren auf unmissverständliche Weise, dass auch unter den Autorinnen und Autoren einer Generation ein Kanon ausnahmslos über eine breite Auswahlvarianz möglich ist: Es gibt nicht einmal im Ansatz einen Generationenkanon, so dass die Zusammenstellung von Benn und Celan im Kern nur eine der möglichen Dialog-Facetten in der unabgeschlossenen, sich ständig verändernden Korrespondenz zwischen Gegenwart und Tradition darstellt. Dabei kann und soll der Begriff der Tradition die Spannung zwischen den historischen Positionen Benns und Celans nicht harmonisieren. Wer, wie Grünbein und Kling, beide Namen in einem Kanon verbindet, will damit nicht gleich über die beiden poetologischen und werkgeschichtlichen Gegensätze hinwegtäuschen, die sich in den Polen Benn und Celan ausdrücken. Wer beiden begegnet, erhebt sie noch keineswegs zu Säulenheiligen und Portalfiguren, sondern ist auf dem Wege, sich in einem unübersichtlichen Raum über ein Netz von Dialogansätzen zu verständigen.
Dabei vermag das Reizwort Benn bereits erste Unterscheidungen zur vorherigen Lyrikergeneration transparent zu machen. Dass Benn Lyriker reizte, die in den 1960er Jahren zu publizieren begannen, zeigt paradigmatisch Karl Mickels 1998 erschienene Satire „Dr. Gottfried Benn, oder: Der verlaufene Christ“,7 die in einer Art kommentierter Zitatcollage noch einmal alle längst bekannten Benn-Klischees in kritischer Absicht kompiliert. Der Bogen reicht vom Pfarrhaussohn, der im „kalte[n] Grobianismus der Morgue-Gedichte“8 im Kern die ,Bußpredigt‘ für den Vater geschrieben habe, über den Vorwurf, Benn-Rezeption sei letztlich eine Art „Backfisch-Schwärmerei“,9 bis hin zum Empfang von Hanns Johsts Nazi-„Persilschein“10 und schließlich zum Spott über „Benns Wortcocktails“.11 Jener „verlaufene Christ“, das erklärt sich für Mickel von selbst, ist kaum mehr als eine Schreckfigur aus dem Fundus der Literaturgeschichte. Diese historisierende Verortung Benns entspricht einem Verständnis, das in der literaturwissenschaftlichen Rezeption schon in den Achtzigern vertreten wurde. 1985 hatte Bruno Hillebrand seinen Essay „Gottfried Benn heute“ auf eine bündige Rezeptionsformel gebracht:

Machen wir uns nichts vor, da gibt es keinen Zusammenhang mehr. Das alles ist historisch geworden, als solches interessant und vergleichbar, aber wir sind das nicht mehr, wir stecken in neuen Erlebnisformen, damit auch Kunstformen.12

Differenzierter geht 1994 Jürgen Theobaldys Essay „Offene Räume“ vor, der, erschienen in der für aktuelle Lyrik und neueste Gedichtpoetiken zuständigen Insider-Zeitschrift Zwischen den Zeilen, für eine Lyrik „ohne den Panzer des Hermetismus“13 plädiert. Der 1944 geborene Autor versucht eine späte Rechtfertigung der „Neuen Subjektivität“ und bezeichnet den für sie charakteristischen „Parlando-Stil“ als eine „freie lyrische Form“, deren „unbekümmerte Tongebung“ er gegen „hochmütige Sprachspiele und ausgrenzende Lebensstile“14 in Schutz nimmt.
Signifikant dabei sind ein ex- und implizit gegen Benn gerichteter Duktus, der auf das verstärkte Benn-Interesse jüngerer Autoren zielt. So findet sich bei Theobaldy ein wie beiläufig eingestreuter Hinweis über den Reim, der auf Benns Gedicht „Aprèslude“15 anspielt:

Der Reim, einst Begriff für den ganzen Vers, ist nach „Aprèslude“ […] ein eher auf- und eindringliches, das Artistische zum Kabarettistischen hinbiegendes Element.16

Und dieses Benn-Stichwort eröffnet gleichsam die Fläche für einen viel grundsätzlicheren Angriff gegen den „Panzer des Hermetismus“, die sprachbewusste, sprachkritische und sprachexperimentelle Lyrik und damit gegen „formal ausgeklügelte Verfahren, mit denen Gedichte zu Vorführmodellen einer Könnerschaft werden, die ihre Vorgaben ausbeutet und bald als erschöpft wegwirft. Die Lyrik läuft dabei Gefahr, zum Instrument eines höheren Juxes zu werden, zum defizitären Ertrag linguistischer Studien, und was an ihr spielerisch ist, kippt in ein systematisches Tüfteln und Schematisieren um.“17
Theobaldy sucht die Differenz zu Benn, dem Antipoden seiner eigenen Poetik, noch dort, wo dieser von der Sache her gar nicht zuständig zu sein scheint. Eine Benn-Anspielung leitet den Schluss des Essays ein und ist die programmatische Relativierung einer Benn-Sequenz aus den „Problemen der Lyrik“ über die „Wirklichkeitszertrümmerung […], die Freiheit schafft für das Gedicht – durch Worte.“ Bei Benn hieß es:

Worte, Worte – Substantive! Sie brauchen nur die Schwingen zu öffnen und Jahrtausende entfallen ihrem Flug.18

Ohne den Namen zu nennen, repliziert Theobaldy die berühmte Sentenz, indem er der bei Benn gewählten Sichtweise von oben, der Vogelperspektive, einen Standpunkt „von unten“ entgegenstellt:

Selbst wenn es nicht immer Jahrtausende sind, die ihrem Flug entfallen: Sie öffnen ihre Schwingen, ich komme von unten her, ich intoniere von unten. Dennoch trägt meine Dichtung nicht nur das, woher ich bin und wie ich lebe, in sich. Von Sapphos Plejaden spüre ich die nächtliche Einsamkeit einer Vereinzelten und empfinde zugleich das Glück der Welt, lesen, Verse lesen zu können.19

Die Ironisierung Benns ist in Theobaldys Generation eine Art Selbstbehauptung gegen Gedichtpoetiken, die sich dem Alltagsdiskurs entgegenstellen und, in welcher Form auch immer, Autonomie einklagen: für das Gedicht wie für den, der es schreibt. Ein Beispiel dafür findet sich in Michael Benkes Gedicht „Flusslandschaft mit Lyrikern“,20 das zum Stichwort „BIG BENN“ zunächst einen trügerisch enthusiastischen Benn-Dialog schildert, um ihn dann um so konsequenter als „Plaudertaschen“-Ton zu entlarven. Als Landschaftsbild wählt der Autor (wie Theobaldy 1944 geboren) die symbolische Kulisse am „toten Arm“ der Ems:

Am toten Arm,
elendig schön überwuchert,
zeigtest du auf die opake Farbe
des Wassers:
wir waren mittendrin
im hermetischen Gedicht;
o GOTTFRIED!
Eine Ehrenrunde um den Emssee.
Lesefrüchte längs
der lahmen Ems.
„In BENNs 327 Gedichten
finden sich 635 verschiedene Namen
für Blumen, Bäume und Gärten.“
Ein Hoch auf das geschwisterliche
Verhältnis zur Natur.

[…]

Wieder entlang der Ems,
sommertags, niedriger Pegelstand.

[…]
Nicht endenwollende Monologe
über Poesie und westfälische Pfannekuchen,
weißt du noch?

[…]
Alte Plaudertaschen
beim Thema Lyrik querbeet:
Gedichte als Messer, wie ein Stück Brot,
Gedichte wie Äpfel, usf.
Kein Schwärmen mehr für
BIG BENN.

Um wie viel unbefangener und offener die Benn-Rezeption jüngerer Lyriker ist, lässt sich an Norbert Hummelts (Jahrgang 1962) etwas despektierlich „Mein Onkel Gottfried Benn“ genanntem Essay von 1999 demonstrieren. Fast wie ein Bekenntnis liest sich sein Hinweis, Benn sei unter den deutschsprachigen Lyrikern des 20. Jahrhunderts

derjenige, dessen Werk für mich die stärksten Impulse aussendet und sich in der beständigen Auseinandersetzung am wenigsten zu verbrauchen scheint. Dabei gehöre ich nicht mehr einer Generation an, die mit seinen Versen – oder überhaupt mit Gedichten! – im Deutschunterricht traktiert worden wäre und sich deshalb besonders heftig von dem vermeintlichen Vorbild hätte abstoßen müssen.21

Zweierlei fällt an dieser Selbstbeobachtung auf: Erstens tritt die exzeptionelle Rolle Benns für die jüngere Generation unverstellt hervor („die stärksten Impulse“), zweitens erscheint die fehlende schulische Rezeption geradezu als Voraussetzung, sich ,seinen‘ Benn auf eigene Weise zu erschließen. Dabei ist der Benn des Poetenkanons auch bei Hummelt kein anbetungswürdiges Idol. „Mein Onkel Gottfried Benn“ hat Hummelt seinen Essay überschrieben und die politische Seite eine „beständige Irritation“ genannt:22

Begeisterung und Kopfzerbrechen: Neben der Anziehungskraft einer auf ,Faszination‘ zielenden Dichtung und Poetik die beständige Irritation einer Biographie mit ihrem nie auslöschbaren geistigen Zusammenbruch bei der ,Machtergreifung‘ 1933. Die stark beunruhigende Frage, wie man sich denn damals selbst entschieden und verhalten hätte, geht ja von Benns Werk viel zwingender aus als von dem eines politisch ,korrekten‘ Autors. Vorläufig bleibt die auch nicht wirklich beruhigende Einsicht, daß gute Gedichte nicht den ,guten Menschen‘ fordern und umgekehrt.

Die politische ,Irritation‘ markiert eine kategorische Distanz – in politischer Hinsicht. Im Unterschied jedoch zur Generation der 1968er sind damit nicht bereits die Ästhetik und vor allem der poetische Rang Benns a priori diskreditiert. Hummelt muss sich auch nicht auf den Benn vor 1933 begrenzen. Nicht der Provokateur der frühen Jahre, der Benn der Morgue, tritt als Figur der Auseinandersetzung ins Zentrum, sondern der späte Benn, wie Hummelt nicht ohne Emphase formuliert:23

Ich finde in diesen späten Gedichten den Spannungsreichtum des ganzen Werks, die harten Fügungen aus Schroffem und Weichem, den schnoddrigen Ton und das hehre Bild, das Aufgehen im Großstadtleben gepaart mit einem Rest Natursehnsucht, abwägende Skepsis und Anflüge von Euphorie und die Fähigkeit, all dies im Gedicht mit- und gegeneinander agieren zu lassen, teils in klassizistisch strengen Formen, teils aus einer spontan anmutenden Sprachbewegung heraus.

Die Anziehungskraft des späten Benn lag nicht zuletzt darin, dass seine artistische Konzeption und sein Verständnis vom Gedicht wieder einen Weg zur Sprachlichkeit von Poesie eröffnen und damit die Chance, über die Alltagslyrik und Lyrik der „Neuen Subjektivität“ hinauszugelangen. Hummelt stellt – hierin durchaus typisch für seine Generation – klar:

Für uns war schon längst nicht mehr Benns Artistik, sondern gerade die ,Neue Lyrik‘ der siebziger Jahre (mit der klaren Ausnahme Brinkmanns) dasjenige, was es schreibend zu überwinden galt: ihren Hang zur platten Inhaltlichkeit, ihre mangelnde Sprachreflexion und formale Nachlässigkeit, ihren schalen Realismus und vereinfachenden Subjektbegriff; alles Dinge, die beim alten Benn so nicht vorkamen.24

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Hummelt, den seit den 1960er Jahren am Oppositionspaar Benn und Brecht diskutierten und personifizierten Gegensatz zwischen artistischer und politisch engagierter Dichtung aufgreifend, für seine Generation die Aktualität Benns hervorhebt:

Wer als Lyriker oder Lyrikerin heutzutage überhaupt noch liest (was in der nachwachsenden Spoken-Word-Generation wohl kaum noch selbstverständlich ist), liest jedenfalls eher Benn als Brecht. […] Brechts didaktischer Ansatz hat für Lyrikerinnen und Lyriker heute wenig Bedeutung. Benn dagegen wird weiter gelesen, ohne daß man sich über ihn jemals einig sein könnte.25

Benn also, „eine erste Geheimadresse“.26 oder doch nur ein Dunstkreis, in den jüngere Autoren leicht hineingeraten können? Hummelt bejaht am Ende keine der Fragen und macht damit noch einmal deutlich, dass Gedichtpoetiken im ausgehenden 20. Jahrhundert ohne Portalfiguren und Idole auszukommen haben. Was der Titel des Essays, „Mein Onkel Gottfried Benn“, an Ironie und Despektierlichkeit ankündigt, nimmt der Text an vielen Stellen zurück; er lässt den ,Onkel‘ doch sehr übermächtig erscheinen, bis dann im Schlussteil gerade diese ,Vorliebe‘ ein ,Grund‘ genannt wird, „sich selbst nicht ganz über den Weg zu trauen.“27 Hummelt bricht an dieser Stelle die (Selbst-)Reflexion ab und endet mit einem eigenen Gedicht, das, mit „dunst“ überschrieben, den mit Benn-Lektüre und Gulaschessen beschäftigten Dichter nicht im Benn-Porträt des großen, einsamen Ichs konturiert, sondern als einen in „die nähe überlebter dinge“ geratenen jungen Dichter, der seinen eigenen Weg noch vor sich hat:28

du suchst die nähe überlebter dinge
warum auch nicht? es schaut ja
keiner zu wie du die klinke drückst
[…]
[…] zuzeiten flüchtest du
obschon noch jung, ins stammlokal
mit den getönten scheiben, ganz
ohne aussicht auf die dämmerung
verrauchte luft, in fremder rede
dunst gehüllter mund, du bist nicht
mitgemeint. ist das jahrhundert
denn noch nicht zu ende? du sitzt
bei gulasch u. liest gottfried benn
aus einem jener alten limesbände.

Poetologische Reflexionen sind für jüngere Lyrikerinnen und Lyriker heute kaum noch Anlässe, Manifeste oder Autodafés zu schreiben; ein zurückgenommener Aufsatzstil herrscht vor. Dass dies kein Zeichen relativierender Unentschiedenheit oder gar Unsicherheit ist, dafür sind Essays aus der Feder des 2005 früh verstorbenen Lyrikers Thomas Kling schlagende Beweise. In seinen Bemerkungen „Zu den deutschsprachigen Avantgarden“29 kommt er mehrfach auf Benn zu sprechen. Die eigene Lektürebiographie bindet er an eine Leseinitiation zurück, an die expressionistische Menschheitsdämmerung, die ihm der Großvater, „1886 geboren, vom Jahrgang Benns und Balls“,30 an die Hand gab. Als frühes Leseerlebnis steht Benn für die „Lyrik der Generation Verdun“31 und als ihr Überlebender, dessen Retrospektive auf den Expressionismus Kling im Folgenden immer wieder zitiert. Für Kling sind nur zwei Namen geblieben:

Zwei Werke haben sich gehalten, Benns und Trakls, beide erste Namen für das deutschsprachige Gedicht, für die Weltliteratur überhaupt. Benn und Trakl, interessanterweise beides Dichter vom drogendurchströmten Blut Baudelaires. Das ist nicht wenig für eine „belastete Generation“ (Benn 1955), die […] noch ein letztes Mal als eine Künstlergeneration (sich) aufspielt.32

Das Interesse an Benn gilt eindeutig dem Sprachkünstler, einem Dichter, dessen frühe Lyrik, so Kling, „Realitäts-Präparate“33 verarbeitet habe, eine Umschreibung, die nicht näher erläutert wird und offenbar auf die provozierend kalte Medizinerperspektive der Morgue-Gedichte anspielt. Berücksichtigt man, dass Kling 1999 für das Lyrik-Sonderheft von Text + Kritik Benns Gedicht „Einsamer nie –“ als eines von zehn Kanongedichten empfahl, so zeichnet sich eine Benn-Rezeption ab, die bei Kling nicht auf eine Werkphase beschränkt blieb. Die Hervorhebung Benns war sogar noch gegenüber dem 1997 erschienenen Itinerar – einer Sammlung, die poetologische Schlüsseltexte Klings enthält – gestiegen; dort hatte er Benn noch unter dem Stichwort „meine frühen Lektüreerfahrungen“ hinter Trakl gestellt:

Benn, vor allem Trakl.34

Auch wenn für Kling Dadaisten wie Ball und Serner den viel konsequenteren Weg in die Avantgarde eröffneten, firmiert Benn als frühe Figuration des sprachbewussten Dichters und mehr noch als ein autonomer, eigensinniger, gelehrter Kopf. Zwar nennt ihn Kling nicht „BIG BENN“ und schon gar nicht „Onkel“, aber doch respektvoll den mit Autorität ausgestatteten „Dr. Benn“,35 den „Straightshooter“,36 eine auf Autonomie pochende und Autonomie für das Gedicht beanspruchende Kanongröße des 20. Jahrhunderts und eine Orientierungsfigur mit gewichtiger Stimme selbst dort, wo sich Kling von ihm abgrenzt und dessen Standpunkt, das moderne Gedicht sei ein Lese- und kein Vortragsgedicht, für ein Urteil hält, das „heute als überholt gelten“37 dürfe.
Schließlich gehört Benn bei Kling zu denjenigen Autoren, deren frühe Lektüre bereits – so jedenfalls die spätere Erinnerung – die Verwerfung der Alltags- und Befindlichkeitslyrik der 1970er Jahre vorbereitet haben soll. Kling polemisiert gegen diese Lyrik, die „im Aschenputtelfetzen des Alltagsgedichts (sogenannte Neue Subjektivität) nach 1968 längsschleicht: depressiv, schlecht gearbeitet, sprachschlampig, sackförmig schlackernd in ostentativer Schlechtdraufität. […] Gegen die trostlose Lesung, die dichterische Sprache, die dichterisches Sprechen nicht ernstzunehmen vermag, ist eine jüngere Dichtergeneration angetreten.“38 Schon im Itinerar hatte Kling Hohn und Spott über „die durch die 70er wallenden, nun sprachlich völlig verwahrlosten Bauchnabelbetrachter“ und „Fußlahme des Denkens“ ausgegossen, die für ihn „insgesamt ein unerfreuliches Lazarett von potentiellen New-Age-Fällen“39 repräsentierten.
Eine Benn-Renaissance wie in den 1950er Jahren setzte mit der intensivierten Benn-Lektüre noch nicht ein. Der Unterschied lässt sich an Rühmkorfs Essay „Brief an Benn“ von 1955 näher erläutern. Rühmkorfs Porträt gipfelt in der Emphase:

der uns in dieser Zeit den Mut zum Monolog lehre: Gottfried Benn. Und er hat, glaube ich, Anteil daran, daß wir überhaupt lyrisch am Leben blieben.40

Benn war der Meister, und die Beziehung. zu ihm ein Meister-Schüler-Verhältnis, jedenfalls bis zum Augenblick der Loslösung von Benn:

Wir haben viel gelernt von Gottfried Benn, es hat uns kaum einer vorher so furchtbar imponiert, aber die eigene Konstitution hat sich auf sich selbst besonnen, eine junge Generation setzt ihren Schlag Mensch und trägt ihre eigenen Leiden aus.41

Eine solche Konstellation war und ist seither nicht mehr zu beobachten, nicht einmal dort, wo zu erkennen ist, dass Benn durchaus noch ,imponieren‘ kann. Bei Hummelt wie bei Kling ist die abwägende, von Identifikation und Enthusiasmus entfernte Auseinandersetzung mit dem späten Benn im doppelten Sinne motiviert. Es besteht erstens ein Interesse an Benns Konzeption des modernen Gedichts – seinen Produktionsbedingungen und Ansprüchen – und zweitens am Selbstbild des Lyrikers, der in seinen Essays und Briefen die Unbedingtheit des seinem Werk subordinierten Schriftstellers demonstriert. Die Differenz zur Alltagslyrik der 1970er Jahre kommt nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck, dass für die jüngere Lyrikergeneration Dichtung erst jenseits spontaner Gefühls-, Erlebnis- und Empfindungsartikulationen beginnt. Dies hatte Benn als Grundaxiom moderner Dichtung in seinen späten Vorträgen und Essays immer wieder hervorgehoben.
Und noch ein anderer Satz aus den Problemen der Lyrik erhält in diesem Zusammenhang eine ungebrochene Aktualität:

Der Lyriker kann gar nicht genug wissen, er kann gar nicht genug arbeiten, er muß an allem nahe sein, er muß sich orientieren, wo die Welt heute hält, welche Stunde an diesem Mittag über der Erde steht.42

Die Formel „gar nicht genug wissen“ – als Prämisse modernen Dichtens – erhielt in den 1990er Jahren einen hohen Zustimmungswert. Bei Grünbein heißt es in den tagebuchartigen Berliner Aufzeichnungen, die unter dem Titel Das erste Jahr 2001 erschienen:

In Gedichten blitzt die Welt immer wieder als a priori des Lebens auf, so wie sie aller Erfahrung vorausliegt. Die besten Zeilen verdanken sich jener angeborenen experience, von der Baudelaire im Vorbeigehn an einer Stelle spricht.43

Grünbein ist ein exzeptionelles Beispiel für einen Lyiker, der in seinen Gedichten wie in seinen Essays den Konnex von Dichtung und Naturwissenschaften zum poetischen Schlüsselthema macht und sein Interesse an Neurobiologie, Hirnforschung und moderner Anthropologie auf den Satz zuspitzt:

Stellt sich die Frage, ob wir alle nicht lieber Mediziner geworden wären.44

Eben jenes „Niemandsland zwischen Medizin und Poetik“45 hatte vor ihm Benn bereits als einer der ersten und Entschiedensten betreten. Grünbein schreibt Gedichte und Essays, wie eine Reihe von Autoren; das Selbstverständnis seiner Autorschaft zielt eher auf Benn als beispielsweise auf Enzensberger oder Rühmkorf.
Grünbeins Poetik ist das Studium der artistischen, ,kalten‘ Kunst eingeschrieben, wie sie Benn in seinen späten Essays propagiert. Gedichte sind nach Grünbein „mathematische Gleichungen. Nur daß statt Zahlen hier Worte, also Träger von Gedanken und Empfindungen, in Relation gesetzt werden. […] Die großen Gedichte ähneln komplexen Gleichungen mit vielen Funktionen.“46 Noch deutlicher erscheint der Rekurs auf Benn in einem Zyklus mit „monologischen Gedichten“, den Grünbein in seinem Erstlingswerk Grauzone morgens veröffentlichte. Der intertextuelle Bezug zu Benn ist evident; bei Benn heißt es programmatisch:

Alle möchten dichten das moderne Gedicht, dessen monologischer Zug außer Zweifel ist.47

Für Grünbein liegt das Element des Monologischen in der durchscheinenden Konstruktion des Gedichts, also in der Dominanz der poesis und ihrer Techniken:

Denn
was ist schon die Surrea-
listik der Ängste gegen die

maßlos zufälligen kleinen
Tricks eines Gedichts
.
48

Wie bei Benn findet auch bei Grünbein das Bekenntnis zur Artistik dort seine Grenze, wo der Weg zum Experimentellen die Sprache selbst tangiert, wo also, etwas verkürzt formuliert, Artistik zur avantgardistischen Praxis wird. Grünbein notiert im Ersten Jahr:

Mögen andere die Sprache zertrümmern oder metzgermäßig zerlegen, mögen sie als kaltblütige Vergewaltiger in sie eindringen, wie sie das nennen, ich bleibe gern außen vor. Zudringlichkeit ist eine Todsünde des Geistes, Nötigung das Armutszeugnis jedes gescheiterten Liebhabers.49

Die Anspielung gilt den Nachfahren eben jener dadaistischen „Neutönerei“, die bereits Benn mit dem französischen Lettrismus, August Stramm und Kurt Schwitters in Verbindung brachte, indem er 1951 eine „neutönende“ Dichtung ausmalte, die „auch das Röcheln, das Echo, das Zungenschnalzen, das Rülpsen, den Husten und das laute Lachen zur Geltung bringen kann.“50
Nun sind wie bei Benn auch Grünbeins Essays keine Deklarationen der eigenen poetischen Schreibpraxis; die Produktion der Essays und der Gedichtbände erfolgt parallel zueinander. Jürgen Schröders Hinweis, für Benn sei eine „Spannung zweier verschiedener, aber gleichzeitig gepflegter Gattungen“51 anzunehmen, gilt analog auch für Grünbein und belegt einmal mehr die „Tatsache, daß das Verhältnis von Theorie und Werk, von poetischer Reflexion und poetischer Intuition bei den meisten Autoren keineswegs ein komplementäres oder gar kongruentes ist, sondern fast immer einen produktiven und lebensgeschichtlich komplizierten Spannungszustand bildet“.52 Die begrenzte poetologisch-essayistische Nähe zu Benn findet ihre Grenze in Grünbeins Gedichten, die gerade dort, wo sie, wie in der Schädelbasislektion und in Falten und Fallen, das gemeinsame Thema „Dichtung und Naturwissenschaft“ streifen, weder einem Benn-Duktus noch einer Benn-Perspektive verpflichtet sind. Korrelationen ergeben sich nicht auf der Basis von Abhängigkeiten, sondern von fast zwangsläufigen Analogien, die ihren Grund darin haben, dass Grünbein wie Benn in einem radikalen Sinne von der Autonomie des Gedichts überzeugt ist, auch von dessen einzigartiger Stärke, gegen die Welt zu bestehen: „Dichten ist ein Abwehrzauber gegen die Macht des Realen, ein Angriff aufs eigene Zentrum“, notiert Grünbein im Ersten Jahr.53
Thomas Böhme hat in einem Aufsatz über Benn
54 die melancholische Substanz seiner Dichtung ausgelotet und die These aufgestellt:

Es entsteht eine Literatur der anthropologischen Exzentrizität. In den imaginären Raum zwischen geschichtlich-sozialer Welt und dem literarischen Bewußtsein, in dem Raum des ästhetischen Ausdrucks also, zieht eine Kälte ein, eine Verletztheit, eine Trauer, eine Aggression, die […] niemals Benn verlassen.55[/footnote]

Eng damit verbunden sei die „Entzauberung der ratiozentristischen Souveränität des Subjekts“.56 Auch wenn gerade diese Depositionierung des Subjekts ebenso bei Grünbein ein Thema ist, vorgeführt beispielsweise in seinem anthropologischen Schlüsselgedicht „Falten und Fallen“, so lassen sich Schröders Beobachtungen zu ,Kälte‘, ,Verletztheit‘, ,Trauer‘ und vor allem ,Aggression‘ auf Grünbein nicht ohne weiteres übertragen. Das Interesse an Benn ist, zusammenfassend formuliert, bei Grünbein und anderen seiner Generation nicht Ausdruck einer poetologischen Konfession, sondern Teil einer aufmerksamen, produktiven Lektüre, die den Problemhorizont des wissenden, gelehrten, am Poetik-Kanon der Modeme geschulten Dichters zu konstituieren half.57

3. Paul Celan und die neue „sprachschöpferische Linie“
Am Paradigma Benn ist deutlich geworden, dass alte Metaphern wie ,Schule‘, ,Strömung‘ oder ,Gegenströmung‘ weder das Verhältnis des einzelnen Dichters noch das seiner Generation zum weiten Feld literarhistorischer Traditionen zu charakterisieren vermögen. Es gibt keine generationsspezifischen Lesarten und Deutungshoheiten, wohl aber gemeinsame Ausgangslagen, die erklären können, wieso bestimmte Autoren, Epochen und literarische Ausdrucksformen im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen und andere nicht. Nun stellt sich die Frage, ob sich bei einem Autor wie Celan, der einer jüngeren Generation als Benn angehörte und weit über Benn hinaus an der Geschichte der deutschsprachigen Nachkriegslyrik mitschrieb, andere Rezeptionsmodi zeigen, zumal Celans Werk keineswegs als historisch abgeschlossen zu verstehen ist, wie die Erschließung des Nachlasses zeigen kann. Dabei führten die Konstellationen nach Celans Tod keineswegs zu immer größerer Resonanz unter den in den 1970er und 1980er Jahren schreibenden Autorinnen und Autoren. Einer der wenigen und Entschiedensten unter ihnen, der Celans Werk seit Jahren mit Enthusiasmus studiert, ist Dieter Schlesak. Im Jahre 2000 veröffentlichte er unter dem Titel Tunneleffekt ein Lyrikbuch, das, zyklisch aufgebaut und von Prosareflexionen unterbrochen, mit einem hochambitionierten Essay abschließt, der mit „Fragmente zu einer posthumen Poetik“58 überschrieben ist. Der aus Siebenbürgen stammende Dichter, vor seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland (1969) zeitweilig Redakteur der Bukarester Zeitschrift Neue Literatur, lässt in vielen seiner Texte erkennen, dass die eigene Schreibpraxis von einer intensiven Korrespondenz mit modernen Dichtern beherrscht ist. Der Bogen reicht von Baudelaire über Ungaretti zu Celan und Brodsky. In diesem Kontext steht Celans Name für eine der bedeutsamsten Bezugsgrößen. Wie kein anderer Dichter, so heißt es in dem Essay, sei es Celan gewesen, der „[e]xemplarisch“ das Totengedächtnis der Holocaust-Opfer bewahrt und damit eine Art des Gedenkens praktiziert habe, die Schlesak emphatisch als eine „Aufforderung“ versteht, „bisherige Grenzen zu überschreiten“:59

Sicher, Vorsicht ist geboten, auch Skepsis, Sprachlosigkeit und Verstummen. Doch an dessen Rändern – ist da nicht der Widerschein des Ungeheuerlichen? Ist nicht eben dieses Ungeheuerliche der Massaker an der Grenze unserer Vorstellung eine Aufforderung, bisherige Grenzen zu überschreiten, genau jene Beschränktheit, die erst dieses Unfaßbare ermöglicht hat zu überschreiten?

Es folgt ein mit „Uneinlösbarkeit, Vermessen„ überschriebener kleiner Prosatext, der von Celans Tod handelt“:60

Am 20. April 1970 hatte Paul Celan, dessen Mutter in einem KZ ermordet worden war, in der Seine Selbstmord begangen; so war er gelöst, aufgelöst flüssig, von der Zeit nach dem Krieg aus dem Erinnern zerstört. Und Erfahrung an der Grenze unserer Vorstellung scheint genau so zu beweisen, daß Erkennen und Verstummen in eins fallen, und er so mit seinem Erkennen versinkt, die Trennung aufhebt, die ihn umtreibt, sich auflösend mit dem eigenen gequälten Kopf, in dem, was ihm entgegensteht.

Im zyklischen Konzept seiner Dichtung bleibt das Insistieren auf die Einheit von „Erkennen und Verstummen“ aber nicht der letzte Bezug auf Celan, denn es folgt noch eine pathetische Evokation des großen Dichters – unter der Überschrift „Verzweifelt such ich Celan“:

Verzweifelt such ich Celan.
Und lauter angeblich Tote.
Er lebt. Das ist sicher.
Hörst du mich

Paul mit dem anderen Namen
vorweg gegangen ihr
seid doch so viele!

Ist es die Seine? Oder was ist das Dunkel?61

Schlesaks Rezeption ist bis hin zum sprachlichen Duktus von einer emotionalen Nähe zu Celan bestimmt; Celans Lebensgeschichte wie Celans Rang sind nicht nur der Stoff, sondern auch die eigentliche Antriebskraft für den Schreibprozess.
Der jüngeren Lyrikergeneration ist solches Pathos fremd und – ob berechtigt oder nicht – verdächtig. Es sei daran erinnert, wie Kling seinen Blick auf Celan gegen den, wie er polemisch schrieb, „Einfluss des biografistischen, das Seh- und Urteilsvermögen entscheidend beeinträchtigenden Cocktails“ entwickelte, „dessen Ingredienzien in variierenden Mischverhältnissen nach wie vor Traumata-Psychose-Suizid heißen“.62 Bei Kling deutete sich ein neues, bisher unter Lyrikern nicht weit verbreitetes Interesse an, das Celans Dichtung jenseits des öffentlichen Deutungskanons und der literaturwissenschaftlichen Deutungshoheit zu entdecken versuchte. Lyrikerinnen und Lyrikern, die sich im Zeichen von Sprachreflexion und Sprachbewusstsein gegen den Trend der 1970er Jahre abgrenzten, musste der Weg zu Celan nicht erst erschlossen werden; sie schreckte das Klischee vom unverständlichen Dichter nicht. „Daß […] ein hermetischer Gedichtzyklus der Barbarei und dem Untergang ganzer Bevölkerungen standhalten kann, ist noch das tröstlichste“,63 heißt es bei Grünbein. Das innovative Potenzial der Celan-Rezeption jüngerer Autoren zeigt sich im eigenen Zugang zu einem Lyriker, der bisher auch und gerade seinen Verteidigern als Inbegriff eines von Holocaust und Totengedächtnis durchdrungenen Autors galt. Der neue Zugang indes war kein thematischer, sondern ein poetischer, war die Re-Lektüre eines von der poetischen Spracharbeit am Gedicht geprägten Werks. Celan avancierte in kurzer Zeit zur konkurrenzlosen lyrischen Kanongröße, zum bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Prozess lief fast parallel zum literaturwissenschaftlichen Aufschwung der jüngeren Celan-Forschung, so dass es kein Zufall, sondern geradezu unvermeidlich ist, dass in einzelnen Fällen – wie bei Peter Waterhouse, der über Celan promovierte – die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Autor und dessen produktive Rezeption im lyrischen Werk eine biographische Einheit bilden.
Das Spektrum der Hinweise und Anspielungen auf Celan reicht von apokryphen Zitaten Celanscher Poetik-Formeln bis hin zu umfangreichen Studien. Ein erstes Beispiel für eine indirekte Zitattechnik, die Celans Namen ausspart, sind Walter Thümlers „Poetologische Notizen“, die Celan als Reflexions- und Bezugsbasis voraussetzen. Wie selbstverständlich wird Bezug genommen auf die Formel vom „Verstummen des Dichters“:

Wer spricht das Wort nach dem Verstummen des Dichters? Wer setzt das Wort wieder ein, eröffnet die Sprache, wenn die Sprache sich verabschiedet hat und ein Gedicht keinen Sinn mehr macht als nur den einer unendlichen Repetition, eines unendlichen Spiegelverhältnisses des Selben […]?64

In Celans Meridian-Rede hieß es:

Das Gedicht zeigt, das ist unverkennbar, eine starke Neigung zum Verstummen. Es behauptet sich […] am Rande seiner selbst; es ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück.65

Thümlers formelhafter Verweis auf Celan ruft einen komplexen Zusammenhang ins Gedächtnis und hat innerhalb der „Poetologischen Notizen“ die Funktion einer Chiffre, die ein Bündel von Argumentationen umfasst. Auf diese Weise erkundet Thümler (Jahrgang 1955) die Aktualität und Prägnanz Celanscher Reflexionen, die er, wie dessen poetologische Schlüsselmetapher „Atemwende“,66 ins Gedächtnis ruft:

Poesie geschieht im Zusammenspiel von Atmung und Sprache. Der Vers ist eine Atemspur und eine Spur für den Atem.67

Da Celan in seiner Meridian-Rede das Gedicht nicht diskursiv, sondern im poetischen Dialog mit seiner eigenen und Büchners Dichtung erschlossen hat, werden von jüngeren Autorinnen und Autoren nicht etwa systematische Poetik-Passagen referiert, sondern Bildkomplexe adaptiert und weiterentwickelt. Ein Beispiel dafür ist die Weg- und Bewegungsmetaphorik. Celan hatte, indem er sich kategorisch von Benns Postulat des Monologischen und Absoluten abwandte (ohne indes Benns Namen zu erwähnen), das dialogische Element der Poesie für unverzichtbar erklärt:

Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber.68

Schon 1958 in seiner Bremer Rede hatte er erklärt:

Gedichte sind […] unterwegs: sie halten auf etwas zu.69

Im Meridian, der Darmstädter Rede, heißt es analog:

Das Gedicht ist einsam und unterwegs. Wer es schreibt, bleibt ihm mitgegeben.70

Celan faltet die Metapher vom Weg und Unterwegssein des Gedichts noch weiter aus und spricht von „Wege[n], auf denen die Sprache stimmhaft wird“:

es sind Begegnungen, Wege einer Stimme zu einem wahrnehmenden Du, kreatürliche Wege, Daseinsentwürfe vielleicht […].71

Celans poetologische Bildfelder haben, gerade weil es sich um Metaphern handelt, die in verschiedene Richtungen ausgelegt und ausgestaltet werden können, die Wirkung von Impulsen, die zu eigenen Positionen ermuntern und einem offenen intertextuellen Dialog Raum geben. So heißt es bei Brigitte Oleschinski: „Was an Gedichten zählt, ist nicht ihr Status als kulturelle Produktion oder individuelle Leistung, sondern ihre Nähe“ zur „Bewegung“, „dem unaufhörlichen Umklappen von einem Moment auf den anderen“.72 Ein anderes Beispiel stammt aus dem Essay „Über Gedichte“ von Astrid Schleinitz (Jahrgang 1961):

Gedichte bewegen sich am Rand der Sprache, zeigen das Problem und das Wunder des Verstehens, weisen immer wieder darauf hin. In diesem Sinne hören sie nicht auf, Provokation zu sein. Sie verweigern sich der Umrißlinie, dem Design, ziehen bekannte und in vertrauten Kontexten gebundene Worte ins Ungewisse, geben ihnen einen neuen Raum, in dem sie schweben müssen, weil dort die Schwerkraft des Altbekannten aufgehoben ist.73

Während solche Essays Celans Poetik nur im Ungefähren streifen, setzen andere Autoren sich noch entschieden intensiver mit ihr auseinander. Hinzu kommt die produktive literarische Rezeption, die Nähe zu Celan in der eigenen Dichtung. So finden sich bei Ferdinand Schmatz (Jahrgang 1953), einem Exponenten der „sprachschöpferischen Linie“ österreichischer Gegenwartsliteratur, signifikante Analogien zu Celan, beispielsweise in der Versdichtung das grosse babel’n74 aus dem Jahre 1999, und zwar sowohl auf der Ebene intertextueller Motivrekurse (Mund, Baum, Stein, Stern, Schall, Wort, Lallen, Gerede u.a.m.) als auch in einem viel grundsätzlicheren Maße in dem poetischen Verfahren, biblisch-religiöse Bildlichkeit und Thematik von der Genesis über die Psalmen bis zur Apokalypse in den autonomen Sprachraum der eigenen Poesie zu transformieren.
Am konsequentesten und umfassendsten hat sich indes ein anderer österreichischer Lyriker, Peter Waterhouse, mit Celan auseinandergesetzt. In seinem Buch Im Genesis-Gelände75 versucht er, einige Gedichte aus Celans Sprachgitter in einem fortwährenden Prozess mikrologischer Beobachtungen einzelner Wörter, deren Etymologien, Klänge und Silben zu erschließen und dabei ein Netz von Wiederholungen, Korrespondenzen und im Gedicht vereinigten Oppositionen aufzudecken. Vieles, was in diesem „Genesis-Gelände“ poetischen Sprechens beobachtet wird, bleibt offen; Fragesätze sind bei Waterhouse legitime Argumentationsfiguren, in denen er bis hin zum verborgenen Spiel mit den Silben mancher Wörter neue Lösungen andeutet und so einen eigenständigen Blick auf Celans Gedichte ermöglicht. Waterhouse produziert keine neuen Hypothesen zum Werk und spart Zugänge über Kontextualität und Intertextualität von Dichtung aus; seine Arbeitsmittel sind Wörterbücher wie der Grimm und die Wörterlisten der Tübinger Celan-Ausgabe. Das methodische Vorgehen erinnert an Verfahren literarischer Übersetzung und wirkt wie eine eigene Form der Übersetzungskunst, die von Annäherung bestimmt ist und nur insoweit von Deutung, wie diese die poetischen Sedimente des einzelnen Gedichts wieder verflüssigt und erneut lesbar macht. Damit aber werden Analogien zur poetischen Schreibpraxis sichtbar, vor allem Waterhouses Vorliebe für Sprachparadoxien und seine Sensibilität für die Morphologie der Wörter, also für die Silben als poetische Elementarteile des Gedichts, mit denen er entlegene semantisch-lexikalische Zusammenhänge und etymologische Korrespondenzen aufspürt. 2002 setzt Waterhouse seine „mikrologische“ Methode der Gedichtaufschlüsselung in einem „Versuch über Paul Celans Gedicht ,Wolfsbohne‘“76 fort, der gerade dadurch überzeugt, dass er den trügerischen Schein eines interpretationsgesättigten Celan-Bildes konsequent ausspart.
Waterhouse ist sicher kein Celan-Epigone, aber jemand, der im „Genesis-Gelände“ des großen Dichters poetische Feldforschung betrieben und daraus für seine eigene Schreibpraxis Schlüsse gezogen hat. Welche Schlüsselrolle die Celan-Rezeption für den Dichter spielt, zeigt sich nicht erst in der kleinen Schrift Im Genesis-Gelände, sondern fast ein Jahrzehnt früher in SPRACHE TOD NACHT AUSSEN GEDICHT. Roman (1989), einem aus drei Erzählkomplexen zusammengesetzten Prosatext, dessen Untertitel allenfalls provisorisch einen Gattungsnamen markiert und in deutlicher Spannung zum letzten Titelteil GEDICHT steht. Waterhouse löst diese Konfrontation keineswegs auf, sondern verschärft sie insofern noch, als der Ich-Erzähler an manchen Stellen sich explizit als autobiographisches Ich zu erkennen gibt, wie der Erzähleingang mit seinen Hinweisen auf den italienischen Dichter Andrea Zanzotto und vor allem auf Celan leitmotivisch hervorhebt:

Im Herbst 1984 hörte ich Gedichte von Andrea Zanzotto. Die Ankündigung stellte den Dichter als hermetischen Dichter vor. Ich hatte eine größere Arbeit über Paul Celan. Mein Interesse sprang über.77

Das erzählende Ich konstituiert sich wie das lyrische Ich eines Gedichts. Es schildert keine Ereignisse, sondern entfaltet einen Reflexionsraum, der die unterschiedlichsten Erinnerungsfelder in einem großen Poem anordnet. Die Felder korrespondieren wechselseitig miteinander wie in einer räumlichen Struktur; statt des epischen Nacheinanders dominiert das Neben- und Ineinander von Erinnerungsfacetten.
Eine Schlüsselepisode des Ganzen ist Celans Gedicht „Stimmen“ gewidmet, das vollständig zitiert, also gleichsam als Thema und als ,Stimme‘ in den eigenen Text einbezogen wird. „Ich las durch Wochen das Gedicht ,Stimmen‘ von Paul Celan. Ich lernte das Gedicht auswendig“,78 so hebt die Episode an. Für Waterhouse ist die Dimension der Mündlichkeit bei Celan keineswegs nur wie etwa für Kling ein klarer Beleg für den nicht zu unterschätzenden auditiven Kern Celanscher Poetik, sondern eine „Verflüssigung“ des Sprachlichen, eine „Übersetzung“ des Gedichts ins „Unfaßlichste“:79

Ich sah das Gedicht verschoben aus dem Sagen in das Stimmliche. Ich sah das Stimmliche anders sein als das Sprachliche. Ich sah die Stimme etwas nicht sprechen können. Ich sah die Stimme in das Flüssige gebracht sein. Ich sah die Stimme in das Grün des Flüssigen gebracht sein. Ich sah die Stimme ins Unfasslichste gebracht sein. Ich sah die Stimme als liquid, geschmolzen, durchsichtig. Ich sah das Gedicht die Stimmen ins Bild des Wassers übersetzen. Ich sah die Stimmen in ihrem Ausdruck die Ufer, die Grenzen, die Definitionen, die Namen, die Sprache in Unfaßlichkeit bringen.

Die Erzählung, nun noch deutlicher in ein Prosa-Gedicht übergehend als zu Beginn, poetisiert eine der zentralen Schlüsselerfahrungen des Ichs: Celans „Stimmen“, paradigmatisch für die semantische Ambivalenz poetischen Sprechens schlechthin, kann erst dadurch, dass das Gedicht die „Stimmen“, wie es im Text heißt, als „Sinn nicht gebende“ darstellt, die poetische Dimension des Totengedächtnisses aufschließen:

Die Stimmen waren Bewegung. Die Stimmen waren Nicht-Bleibendes. Die Stimmen waren Atem. […] Ich hörte in der Gewichtlosigkeit des Gedichts eine Erweckung sich ereignen. […] Ich sah das Gedicht als Gespräch mit der Schwerelosigkeit; von der Schwerelosigkeit in Atem gehalten. Ich sah das Gedicht Ereignis sein des für die Toten Sprechens, für das weit außerhalb Liegende.80

Das mit „Erweckung“ umschriebene Erlebnis der Celanschen „Stimmen“ wird für Waterhouse zum Kern einer eigenen Gedichtpoetik, die sich am tiefsten innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartslyrik der Rezeption Celans verdankt:

Ich sah die weiten Bedeutungsbereiche im Gedicht zusammenkommen. Ich sah das Gedicht sich aus dem Weiten formieren. Ich sah das Gedicht sich aus dem Anderen formieren. Ich sah das Gedicht sich aus dem Unbenennbaren formieren. Ich sah das Wort Jakobsstimme aus den Weiten herbeigeholt. Ich sah das Stimmliche als das Anwesendmachen des Fernen.81

Waterhouses literarische „Stimmen“-Lektüre ist symptomatisch für die in der jüngeren Lyrik der 1990er Jahre wiederentdeckte Dimension der Mündlichkeit von Poesie und die (allerdings nicht auf Celan zurückreichende) Rolle performativer Praxis bei der Lyrikpräsentation vom immer beliebteren Poetry Slam bis zu den Auftritten und Inszenierungen Klings und anderer Dichter. Dabei wird Celans Lyrik keineswegs zu einer Poesie jenseits von Schrift und Schriftlichkeit. Kling hat einen seiner letzten zu Lebzeiten publizierten Aufsätze für das Celan-Heft von Text + Kritik geschrieben:

Sprach-Pendelbewegung. Celans Galgen-Motiv.82

Darin definiert er, an Celans Verständnis der „Herkunft der Poesie aus der Mündlichkeit“83 anschließend, den Konnex von Mündlichkeit und Schriftlichkeit genauer:

Oft benutzt Celan im Gegenschnitt, beziehungsweise in Überlagerung, oder sagen wir in stratigrafischer Schichtung funktionierende Formen von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Diese Mündlichkeits-Schriftlichkeits-Töne sind oft dem O-Ton, dem Gesprächston oder einem originalen Erzählton […] nachempfunden.84

Die jüngeren Autoren fasziniert an Celans Stimmen-Thema die Prägnanz, mit der er, wie Kling formuliert, „Mündlichkeit, die natürlich eine Strategie inszenierter Mündlichkeit ist“,85 in seinen Gedichten entfaltet. Kling spricht von „Off-Stimmen“, die „auf einem ausgeprägten Geschichtsbewusstsein“ gründen, und von ihrer kulturgeschichtlichen Basis, „die sich vornehmlich aus alt-europäisch-polylingualen Quellen speist.“86 Diese Beobachtung führt ins Zentrum seiner Definition von Poesie, die damit in ihren intertextuellen Referenzen genuin auf Celan rekurriert:

Gedichte sind hochkomplexe („vielzüngige“, polylinguale) Sprachsysteme.87

Vor diesem Hintergrund erklärt sich Klings Hochschätzung des Gedichts „Engführung“ als eines der Kernkanongedichte des 20. Jahrhunderts:88 eines Textes, der zugleich in nuce eine weitere Grundprämisse des Gedichts veranschaulicht, die „Gedächtniskunst“:

Gedicht ist Gedächtniskunst und steht als Schrift naturgemäß vor der Performance des Textes […]. Das Gedicht als literales Ereignis ist die Sprachinstallation vor der Sprachinstallation.89

Kling hat die Rolle Celans für die eigene Schreibpraxis, aber auch für das Selbstverständnis der eigenen Tradition immer wieder hervorgehoben und damit auf eine tiefere poetologische Dimension verwiesen, als es das ihm oft zugedachte Etikett „experimentelle Lyrik“ auszudrücken vermag. In einem Interview mit Hans Jürgen Balmes und Urs Engeler beantwortet er die Frage nach der „positive[n] Anknüpfung […] an den späten Celan, der ja damals weitgehend abgelehnt worden ist als zu hermetisch“,90 in einem sehr prinzipiellen, fast apodiktischen Sinne, indem er eine „sprachschöpferische Linie“ der deutschen Dichtung konstruiert. Es sei für ihn „eine vollkommen klare Sache“, dass ihn „so eine sprachschöpferische Linie von einem, sagen wir mal, Oswald von Wolkenstein […] über Jean Paul bis zu Paul Celan, der ja auch ein hohes Interesse an Spracharchäologie gehabt hat, das mich das also da ganz sicher verbindet, und das ist in jedem Fall die positive Linie der deutschsprachigen Literatur. Ich sehe schon, daß es da weitergehen kann.91
Diese Prognose lässt sich vielfach bestätigen und zeigt insgesamt eine gegenüber der Benn-Rezeption intensivere, engagiertere Auseinandersetzung mit Celans Gedichten an, die sich aus meiner Sicht neben der mächtig sprießenden Celan-Philologie als eigenständig und innovativ zu behaupten vermag. Noch dort, wo jemand „nur ein wenig Material ausbreiten“ möchte – wie Marcel Beyer in seinem Essay „Landkarten, Sprachigkeit, Paul Celan“ –, finden sich Kerndefinitionen aktueller Gedichtpoetik, die stakkatoartig elementare Stichworte Celanscher Gedichtpraxis aufführen:

Der Reim. Die verschiedenen Sprachen. Geschriebene und gesprochene Sprache. Der Ton, der Sprachgestus. Nicht als Substanzen, sondern als Wechselverhältnisse, zwischen Mündlich- und Schriftlichkeit, Fremd-, Eigen-, Ein-, Zwei- und Mehrsprachigkeit: Das nenne ich Sprachigkeit.92

Die Rezeption Celans ist, wie vor allem bei Waterhouse, Kling und Beyer deutlich wird, um einige Stufen emphatischer und trotz der stets bewussten historischen Distanz zu Autor und Werk vorbehaltloser als die Rezeption Benns, und zwar vor allem im Hinblick auf die Radikalität seines Umgangs mit Sprache. Das wird nicht zuletzt dort deutlich, wo auf Benn und Celan rekurriert wird. So stellt Franz Josef Czernin im Jahre 2000 noch einmal die Frage „Dichtung, relativ und absolut“ auf, freilich ohne Benn und Celan mit Namen zu nennen. Sein Essay spannt den Bogen von Benn über Celan bis hin zur aktuellen Gedichtpoetik und ruft so das scheinbar längst in die Literaturgeschichte abgesunkene Reizwort „absolutes Gedicht“ ins Gedächtnis. Benn hatte in „Probleme der Lyrik“ den Begriff als Summe seiner Poetik mit äußerster Emphase ausgespielt:

Aus all diesem kommt das Gedicht, das vielleicht eine dieser zerrissenen Stunden sammelt –: das absolute Gedicht, das Gedicht ohne Glauben, das Gedicht ohne Hoffnung, das Gedicht, an niemanden gerichtet, das Gedicht aus Worten, die Sie faszinierend montieren.93

Celan dagegen konterte in ebenso emphatischer Weise, indem er das Gedicht als „Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch“94 definierte. In seiner Darmstädter Rede rief er aus: „Das absolute Gedicht – nein, das gibt es gewiß nicht, das kann es nicht geben!“95 Es kennzeichnet die gänzlich andere poetologische Situation Czernins, dass die Frage nicht mehr in der Art von Konfessionen behandelt wird, sondern als ein analytisches Problem. Czernin lässt sich sogar hypothetisch auf die Möglichkeit des Absoluten ein:

Was wäre in diesem Zusammenhang aller Dinge absolute Dichtung? – Sie wäre die Wirksamkeit jenes Ideals ästhetischer Vollständigkeit, die darin bestünde, daß von einem bestimmten Feld verschiedener oder verschiedenartiger Dinge oder Zusammenhänge aus oder auch durch und mit ihnen die Beziehungen zwischen allen Arten von Dingen oder Zusammenhängen ausgelöst und aufeinander bezogen werden.96

Dass ein solches ,Ideal‘ nicht realisierbar ist, davon ist Czernin indes fest überzeugt und entwickelt das Paradox „relative[r] Dichtungen, die sich – ihrer Unvollständigkeit und also Unvollkommenheit entgegen – dennoch der Tendenz zu jenem Ideal des Herstellens oder der Entdeckung des Ganzen verdanken.“97 Die Erkenntnis spitzt der Autor am Schluss des Essays auf eine Weg-Metapher zu, die, an Celan erinnernd, das geglückte Gedicht gerade aus dem Scheitern des „Ideal[s]“ erklärt:

Irgendwo auf dem unendlich langen Weg zu jenem Ideal absoluter Dichtung verlassen uns die Kräfte, oder wir verlassen sie.98

Solche „Teillösungen“99 mögen ebenso akademisch und trocken erscheinen. Sie zeigen allerdings ein weiteres Mal, welche Möglichkeiten zu eigenwilligen, individuellen ,Lösungen‘ Reflexionen auf Benn und Celan bieten können. Sie erweisen sich immer noch als attraktive Impulse, um Konturen der eigenen Poetik mit kräftigen Straffierungen auszumalen. Der kleinste gemeinsame Nenner all dieser Versuche ist die Bereitschaft, sich am Schwierigen abzuarbeiten, um in einem radikalen Sinne die „sprachschöpferische Linie“ der deutschsprachigen Lyrik weiterzuentwickeln.

Hermann Korte

 

 

 

Inhalt

– Karen Leeder: Introduction. ,Schreiben am Schnittpunkt‘:
The Place of Contemporary German Poetry

– Anja Utler: Gedichte

 

1. Vorletzte Worte: Lyrik nach 1990

– Anna Chiarloni: Zwischen den Zeiten. Zur jüngsten Lyrik von Heinz Czechowski

– Christine Cosentino: Volker Brauns Lyrikband Tumulus im Umfeld seiner Werke um die Jahrtausendwende

– Gerrit-Jan Berendse: ,Dank Breton‘: Surrealismus und kulturelles Gedächtnis in Adolf Endlers Lyrik

– Bert Papenfuß: Gedichte

 

2. Lyrik im Dialog

– Hermann Korte: Säulenheilige und Portalfiguren? Benn und Celan im Poetik-Dialog mit der jüngeren deutschsprachigen Lyrik seit den 1990er Jahren

– Georgina Paul: Unschuld, du Licht meiner Augen: Elke Erb in the Company of Friederike Mayröcker in the Aftermath of German Unification

– Michael Eskin: Descartes of Metaphor: On Durs Grünbein’s Vom Schnee

– Marcel Beyer: Gedichte

 

3. Spielarten der Sprache

– Katrin Kohl: Es lebe das Klischee! Spielarten eines verpönten Stilmittels bei Ernst Jandl, Andreas Okopenko und Oskar Pastior

– Iain Galbraith: The Poet and the Pendulum: Composition and Metaphor in the Poetics of Raoul Schrott

– Karen Leeder: ,Übungen der Zugewandtheit‘: Ulrike Draesner’s Poetics of Correspondence

– Lutz Seiler: Gedichte

 

4. Text und Körper

– Ruth J. Owen: Bodies in Contemporary German Poetry

– Maurizio Pirro: Hermeneutik der Vergangenheit bei Kathrin Schmidt und Barbara Köhler

– Heike Bartel: Bypässe zu „Herzgänge“, einem Prosagedicht von Anne Duden

– Evelyn Schlag: Gedichte

 

5. Interview

– „Die Bitterkeit auf meiner Zunge“: Anna Chiarloni im Gespräch mit Heinz Czechowski

– Silke Scheuermann: Gedichte

 

6. Der Ort der Lyrik

– Wolfgang Ertl: Kindheitsbilder in der Lyrik Wulf Kirstens

– Cheryl Dueck: Global Cargo in the Poetry of Brigitte Oleschinski

– Anneka Metzger & Birgit Dahlke: Sprachräume. Barbara Köhlers Textinstallationen der 1990er Jahre

– Peter Waterhouse: Gedichte

 

7. Erste Worte: Lyrik von Jetzt

– Peter Geist: „halber Aufenthalt / wie auf fotokopiertem Schnee“. Wie Lyrikkritik und eine Anthologie junger Lyrik einander verfehlten

– Michael Braun: Schnelle Lebensläufe: Das punctuelle Zünden der Welt in der jungen Lyrik des 21. Jahrhunderts

– Erk Grimm: Die Neue Schlichtheit in Lyrik von Jetzt: Poetische Diskursverschiebungen in der deutschsprachigen Gegenwartsdichtung nach 2000

– Volker Braun: Gedichte

– Auswahlbibliographie

– Die Autoren

– Register

 

Erstmals

liegt mit Schaltstelle eine umfassende Studie zur zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert vor. In einem breiten Spektrum an Beiträgen international renommierter Experten aus Deutschland, Großbritannien, den USA, Kanada, Italien und den Niederlanden präsentiert diese Untersuchung ausführliche Analysen zu bekannten Größen, eingehende Betrachtungen zur Lyrik des Körpers, zur Verwendung von Klischee-Bildern, zur Metapherntheorie, zum Topos der Kindheit oder zur ,neuen Schlichtheit‘, sowie Beiträge zur jüngsten Generation von Dichterinnen und Dichtern, die im neuen Jahrhundert ihren Einstand gegeben haben. Zudem enthält der vorliegende Band ein Interview mit Heinz Czechowski, eine umfangreiche Bibliographie und neue Gedichte von acht führenden deutschsprachigen Lyrikerinnen und Lyrikern. Zu oft wird in Diskussionen zur Literatur in der Berliner Republik die Lyrik marginalisiert: dieser Band zeigt, daß sie im Gegenteil eine unerläßliche Rolle zu spielen hat.

Editions Rodopi, Klappentext, 2007

 

 

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