Karl Krolow: Zu Ulla Hahns Gedicht „Winterlied“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ulla Hahns Gedicht „Winterlied“ aus dem Band Ulla Hahn: Herz über Kopf. –

 

 

 

 

 

ULLA HAHN

Winterlied

Als ich heute von dir ging
fiel der erste Schnee
und es machte sich mein Kopf
einen Reim auf Weh.

Denn es war die Kälte nicht
die die Tränen mir
in die Augen trieb es war
vielmehr Ungereimtes.

Ach da warst du schon zu weit
als ich nach dir rief
und dich fragte wer die Nacht
in deinen Reimen schlief.

 

Abschied und Zweifel

Ulla Hahn hat mit ihrem ersten Gedichtband großen Erfolg gehabt. Eigentlich zeigt jedes Gedicht in ihrem Buch Herz über Kopf, wie es zu ihm kam. Ein „Winterlied“, zwölf Zeilen lang, spricht für viele der übrigen Texte im Band. Es ist volksliednah, so schlicht wie denkbar, gereimt und doch nicht ganz so gereimt, wie es einmal üblich war. Es ist kantabel. Das Liedhafte als ruhige Arie gibt es in einzelnen ihrer Gedichte. Doch das Lied ist in sich variabel. Hier ist es ein Liebes- und ein Abschiedslied, das dem anderen, der verlassen wurde, nachgesagt, nachgesungen wurde.
Ist es ein Abschied mit Tränen, wie in alter Zeit? Im „Winterlied“ von Ulla Hahn ist trotz aller Schlichtheit nichts unterdrückt, kein Gefühl, aber auch keine Komplikation. Leise Distanz und Skepsis artikulieren sich in den Versen. Das charakterisiert die Situation: die Bewegung der Frau, ihr Fortgehen und wie „Ungereimtes“, nicht Ausgesprochenes, nicht Geklärtes sie weinen ließen: „es war vielmehr Ungereimtes“.
So glatt geht überhaupt der wiedergefundene Reim bei Ulla Hahn nicht auf. Emotion bleibt ohnehin dezent und schützt vor allem Gefühligen. Das Liedhafte ist gedämpft. (Ein anderes Lied nennt sich „Mäßig bewegt“). Emotionen werden unter Kontrolle gehalten. Die Scheu vor dem schieren Gefühl ist groß. Fast spielerisch ist alles vorbedacht. Im Weggehen beim ersten Schneefall „machte sich mein Kopf / einen Reim auf Weh“. Das klingt auch ein wenig kokett. Was hier leichthin in den Kopf kommt, zeugt doch auch davon, daß dem Spieler, der Spielerin „mitgespielt“ wurde. Die Dichterin stellt sich vor, was nach dem „Ungereimten“ zurückbleiben und wie es weitergehen könnte.
Und nochmals ist von Reimen die Rede. Der Entfernte, nach dem aus der Entfernung gerufen wird, muß sich etwas fragen lassen. Doch es ist kein Verhör, eine zarte Besorgnis vielmehr, ein leiser Zweifel. Und hier spätestens beginnt das, was ich meinte, wenn ich vom „Mitspielen“ sprach. Die Frau fragt den Mann, wer „die Nacht / in deinen Reimen schlief“. Reime mögen hier für manches stehen: für Leben, Dasein, für Liebe und Zärtlichkeit, für Nähe, auch für trügerische Harmonie möglicherweise. Denn – wie gesagt – diese Reime sind nicht die hergebrachten Reime, die bei uns – von den Ausnahmen abgesehen – vor etwa zwei Jahrzehnten nach und nach verstummten, die sich aus deutschen Gedichten zurückzogen.
Der neue Reim – so schlicht er sich gibt – hat doch dieses Schweigen, dieses Fortgelassenwerden in sich aufgenommen: bei Ulla Hahn, in ihrem „Winterlied“, lebt er als kleines Bedenken, als zarte Vorsicht, die keinerlei rückhaltlose Reimerei aufkommen läßt (die als Protest auch denkbar wäre). Das Ungereimte ist anwesend. Es schleicht sich gewissermaßen ein, sowohl im Artistischen als auch im Vitalen. Ulla Hahns Liebesreime üben eine Zurückhaltung, die bis zur Strenge gehen kann, zu einer Strenge unter Tränen, die aber jedenfalls keine Weinerlichkeit ist. Der Kopf – sprich: Phantasie – soll über Wasser gehalten werden, überm Schnee, der schmelzen wird, damit das obligatorische Weh – gerade, indem es unverblümt genannt wird – nicht überwältigt. Die herbe Schönheit und die Renitenz halten sich in diesen anschmiegsamen Worten die Waage.

Karl Krolow, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Über die Liebe, Insel Verlag, 1985

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