Karl Riha: Zu Arno Holz’ Gedicht „Phantasus“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Arno Holz’ Gedicht „Phantasus“ aus Arno Holz: Werke, Band 5, Das Buch der Zeit u.a.. –

 

 

 

 

ARNO HOLZ

Phantasus

Ihr Dach stieß fast bis an die Sterne,
vom Hof her stampfte die Fabrik,
es war die richtige Mietskaserne
mit Flur- und Leiermannsmusik!
Im Keller nistete die Ratte,
parterre gabs Branntwein, Grog und Bier,
und bis ins fünfte Stockwerk hatte
das Vorstadtelend sein Quartier.

Dort saß er nachts vor seinem Lichte
– duck nieder, nieder, wilder Hohn! –
und fieberte und schrieb Gedichte,
ein Träumer, ein verlorner Sohn!
Sein Stübchen konnte grade fassen
ein Tischchen und ein schmales Bett;
er war so arm und so verlassen,
wie jener Gott aus Nazareth!

Doch pfiff auch dreist die feile Dirne,
die Welt, ihn aus: Er ist verrückt!
ihm hatte leuchtend auf die Stirne
der Genius seinen Kuß gedrückt.
Und wenn vom halben Wahnsinn trunken
erzitternd Vers an Vers gereiht,
dann schien auf ewig ihm versunken
die Welt und ihre Nüchternheit.

In Fetzen hing ihm seine Bluse,
sein Nachbar lieh ihm trocknes Brot,
er aber stammelte: O Muse!
und wußte nichts von seiner Not.
Er saß nur still vor seinem Lichte,
allnächtlich, wenn der Tag entflohn,
und fieberte und schrieb Gedichte,
ein Träumer, ein verlorner Sohn!

 

Einzelanalyse

Mit diesem Gedicht eröffnet Arno Holz den kleinen Phantasus-Zyklus im 1886 erschienen Buch der Zeit, Lieder eines Modernen. Wenn schon nicht das erste, so doch ein frühes deutsches Großstadtgedicht! Sieht man aber genauer hin, stellt man rasch fest, daß von großstädtischer Wirklichkeit nur eben ein Ausschnitt – eine Mietskaserne als Wohnort des Dichters – gezeigt wird. Eine solche soziale Einbettung der Dichter-Problematik, ein solcher Aufriß des Elendsmilieus bedeutet in der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts nicht eben wenig – hier lag ja dann auch die Herausforderung der naturalistischen Literatur-Bewegung insgesamt und besonders ihrer ,sozialen Dramatik‘ um 1890 –; sie setzen sich jedoch noch nicht frei und entfalten daher auch nicht ihre ganze Provokation. In gewisser Hinsicht handelt es sich um eine fortgeschriebene Dichter-Dachstuben-Idylle, wie wir sie vom bekannten Bild Spitzwegs (1808–1885) her kennen, nur aus der biedermeierlichen Kleinstadt ins großstädtische Berlin übertragen und sozusagen aufgerauht. Die zu ebener Erde – und vermutlich nach der Straßenseite hinaus – lokalisierte Kneipe und die im Hinterhof stampfende Werkstatt oder Fabrik sind realistisch gesehene Details der damaligen Berliner Wohnwirklichkeit. In den Gründerzeitjahren nach dem Krieg gegen Frankreich und der Reichsgründung von 1870/71 erlebte die preußische Hauptstadt trotz immer wiederkehrender Krisen einen immensen Bevölkerungszuwachs und einen durch ihn ausgelösten Bauboom. Die meisten Zuwanderer kamen vom Lande und erreichten am neuen Wohnort zunächst kaum das Existenzminimum. Entsprechend beherbergen die aus dem Boden gestampften und in die Vorstädte hinauswachsenden Neubauten keine sozial gestaffelte Mieterschaft, wie wir das von früheren Berlin-Beschreibungen her kennen, sondern zeigen quer durch die Etagen – wie Holz richtig formuliert – das gleiche Elend her. Daß im Keller Ratten nisten, komplettiert das Bild; die fixe Verbindung zwischen sozialer Not und Alkoholismus ist eine naturalistische Konstante, die sich nach den lyrischen Anfangen der Bewegung in die Prosa und Dramatik hinein fortsetzt.1
Doch gleich mit der ersten Gedichtzeile gerät die Mietskaserne als Dichter-Domizil unter eine noch andere Perspektive: für ein fünfstöckiges Haus überzogen, heißt es, ihr Dach stieße „fast bis an die Sterne“. Das ist aus der Richtung des Poeten gesehen, der hier zu Hause ist, offensichtlich integrierter Bestandteil des skizzierten Milieus, hungernd und in Lumpen und Lappen gekleidet wie die anderen auch. Aber er geht nicht in dieser Umgebung auf, sondern versucht, sie – zumindest in seiner Phantasie, in seinen Versen – hinter sich zu lassen, ihr zu entfliehen; in diese Richtung weisen Verse wie: „Dann schien auf ewig ihm versunken / die Welt und ihre Nüchternheit“ oder „er aber stammelte: O Muse! / und wußte nichts von seiner Not“. Die Annäherung von Dichterfigur und „Gott aus Nazareth“ ist wohl Dostojewski (1821–1881) zu danken, die geniehafte Charakterisierung aber stammt aus engerer deutscher Tradition, verstanden sich doch die deutschen Frühnaturalisten kurz nach 1880 nicht nur als neues ,Junges Deutschland‘, sondern ebenso als wiedererstandener ,Sturm und Drang‘, kurz – mit dem Titel ihrer ersten durchschlagenden Anthologie-Veröffentlichung – als Moderne Dichter-Charaktere. Von solcher Geniehaftigkeit steht zu hoffen, daß sie – so die satirische Ballade, die sich gegen ,Heijerleispoeterei‘ und ,Reimklangklingelei‘, gegen das ,Urdeutsch‘ des Turnvaters Jahn (1778–1843) und Wagners (1813–1883) Nibelungenring wendet – endlich wieder „unserer Zeit / das Herz ans Herz der Poesie“ schlagen läßt und damit eine neue Freiheitsära einleitet.2
Von welcher Art die Verse sind, die der Poet in nächtlicher Stunde auf seinem Stübchen zu Papier bringt, erfahren wir in diesem Text selbst nicht, wohl aber in den folgenden Gedichten. Als Beispiel das vierte im Zyklus von insgesamt dreizehn:

An seiner Kettenkugel schleppe,
wen nie sein Sklaventum verdroß,
doch mich trägt wiehernd durch die Steppe
Arabiens weißgestirntes Roß.
Ein grüner Turban schmückt das Haupt mir,
von Seide knittert mein Gewand,
und jeder Muselmensch hier glaubt mir,
ich wär der Fürst von Samarkand!
3

Dies die erste von vier ähnlichen, aber sich steigernden, durch den gleichen Refrain gebundenen Strophen. – Das Phantasie-Fieber bzw. die Fieber-Phantasie, mit deren Hilfe sich der arme Poet aus seiner erbärmlichen Lebensrealität losringt, setzt also einen exotischen Traum frei: die darbende Dachstuben-Existenz verwandelt sich in einen wild-fremdartigen Fürsten, dem es an nichts fehlt, die „schönste Odaliske“ eingeschlossen. Als Vorbild dient – literaturgeschichtlich argumentiert – jene orientalisierende Lyrik, wie sie in der Nachfolge auf Goethes (1749–1832) West-östlichen Divan – über Friedrich Rückert (1788–1866) und Emanuel Geibel (1815–1884) auf Friedrich von Bodenstedt (1819–1892) und den Grafen Adolf Friedrich von Schack (1815–1894) – im neunzehnten Jahrhundert Schule gemacht und eine jener epigonalen Strömungen gebildet hat, die speziell die zweite Hälfte des Jahrhunderts kennzeichnen. In seinen literarischen Anfangen war Holz diesen epigonalen Größen der Zeit stark verpflichtet; nun führt er vor, unter welche Anspannung sich der bekannte Ton noch einmal setzen läßt und wie er sich modifiziert, wenn er an einen aktuellen sozialen und sozialkritischen Kontext gebunden wird. Das ist durchaus neu!
Die Freiheitsutopien binden sich auch noch an andere Motive: an den Flug des Vogels – „Ich bin ein Adler und ich fliege“ –, an die „Gärten des Okeanos“ im „dunkelblauen Griechenmeer“, an einen „Wolkenkahn“ – ein Luftschiff also – „mit goldner Trikolore“ oder an ein fernes Eiland, eine ferne Insel des Glücks. Mit dem letzten Gedicht im Zyklus aber stirbt der Dichter: früher Morgen, die Szene ist kalt und stumm; ein Arzt ist zur Stelle und konstatiert „verhungert!“ auf dem Totenschein, der Armenkommissär schließt die liegengebliebenen Manuskripte weg. In den letzten Versen geht es zum Friedhof hinaus, und Arno Holz bringt sich als Schilderer des Vorgangs selbst in sein Gedicht ein. Die relative Nähe des Autors zum Sujet, die sich damit signalisiert, überrascht nicht. Dichter-Problematik und Dichter-Milieu sind dem Leser aus einem weiter vorn im Buch der Zeit abgedruckten Gedicht vertraut, „Meine Nachbarschaft“ überschrieben, also unmittelbar aus der Ich-Perspektive des Schreibers entworfen und doch in diesem und jenem Punkt übereinstimmend mit der des Phantasus-Helden:

Mein Fenster schaut auf einen düstern Hof,
auf schmutzge Dächer und auf rußge Mauern,
doch wer wie ich ein Stückchen Philosoph,
läßt darum sich noch lange nicht bedauern.
Ein wenig Luft, ein wenig Sonnenlicht
dringt schließlich auch durch seine trüben Scheiben,
zu hungern und zu frieren brauch ich nicht
und all mein Tun ist nur ein wenig Schreiben
.4

Die Elendsschilderung, die in den folgenden Strophen Raum gewinnt, scheint authentisch; sie löst sich aber – in anderen Texten – auch aus der Bindung an einen solchen Beobachter und gewinnt damit, indem sie sich auch noch von der sich abhebenden Dichter-Thematik abstrahiert, an beklemmender Intensität; das zeigt das Doppelgedicht „Ein Bild“ und „Ein andres“, in dem aus dem Haus der reichen Exzellenz – eine Migräne der „gnädigen Frau“ schon ist eine Katastrophe – hinübergeblendet wird in die Kammer der armen Leute und deren ganz andere Nöte:

Fünf wurmzernagte Stiegen gehts hinauf
ins letzte Stockwerk einer Mietskaserne;
hier hält der Nordwind sich am liebsten auf
und durch das Dachwerk schaun des Himmels Sterne.
Was sie erspähn, oh, es ist grad genug,
um mit dem Elend brüderlich zu weinen:
Ein Stückchen Schwarzbrot und ein Wasserkrug,
ein Werktisch und ein Schemel mit drei Beinen
.5

Derlei soziale Kontrastierung bringt neue Nuancen ins Spiel, und das gilt dann auch für mehr impressionistische Annäherungen an das Großstadtthema, wie es etwa für „Auf der Straße“ – lyrischer Reflex auf einen Betrunkenen, der als irregeleiteter Don Juan einen Laternenpfahl umarmt – oder für Ninon – chansonhaftes Poem auf ein aus seinem niederen Stand sich herauskokettierendes Mädchen – zutrifft. Der Sinn für die atmosphärischen Schwankungen des Großstadt-Lebens und Großstadt-Erlebens nach Jahreszeiten und dem Zirkel des Tages und der Nacht entwickelt sich und ermöglicht changierende Einfärbungen des Großstadtgedichts. Und vorsichtig deuten sich – über solche thematischen Nuancierungen hinaus – auch formale Modifikationen an, ein frischer Ton, eine frappierend neue Gestik des Gedichts, Resultat der Einsicht, die Kunst sei längst vom Kothurne gestiegen, – dies die ausdrückliche poetologische Einlassung in „Meine Nachbarschaft“! Eine mitternächtliche Großstadtszenerie entwirft die Eingangspassage zu „Erkenne dich selbst“:

Auf den glitschrigen Asphalt
plätscherte der Novemberregen,
und, windgepeitscht, flackerte rotgelb
durch den Nebeldunst das Licht der Laternen.
Nur hier und da noch humpelte schwerfällig
durch die dunklen Gassen der träumenden Weltstadt
ein schläfriger Droschkengaul
6

– und hier läßt Holz sogar festes Metrum, Reim und regelmäßigen Strophenbau fahren und nähert sich dem „normalen“ Sprechton, der Prosadiktion an.
Genau das aber ist der Punkt, an dem Holz in den späten neunziger Jahren mit seiner Revolution der Lyrik einsetzt, seiner ,befreiten deutschen Wortkunst‘, die nur noch auf dem vor allem äußeren Regelzwang emanzipierten Wortrhythmus basiert: das Prinzip der Mittelachsenlyrik. Unmittelbare dichterische Entsprechung dieses programmatischen Entwurfs ist ein großes lyrisches Epos, zu dessen Titel der Dichter auf den eingangs besprochenen Gedichtzyklus im Buch der Zeit zurückgreift: Phantasus – die ersten Hefte erscheinen 1898/99. Über mehrere Jahrzehnte hinweg immer wieder umgearbeitet und erweitert, wächst sich das Werk zur „größten, Räume und Zeitalter überspringenden und zusammenschauenden Lebens- und Phantasiedichtung der deutschen Sprache“ aus.7 Holz bezeichnet das Opus als ,Autobiographie einer Seele‘:

Des ,Schaffenden‘, des ,Dichtenden‘, des ,Künstlers‘, der (…) als der letzte, gesteigertste Menschentyp hingestellt wird, durch den, in irgendeiner ,Beziehung‘, an irgendeinem ,Betracht‘, mit gleicher Intensität, ,alles‘ geht: Alle Qual, alle Angst, alle Not, alle Klage, alle Plage, alle Wonnen, alle Verzücktheiten, alle Jubel, alle Beglücktheiten, alle Seligkeiten, alle Ekstasen, alle Entrücktheiten! Nicht nur seine eigenen, sondern die der ganzen Menschheit! In allen Formen, unter allen ,Verkleidungen‘, durch alle Zonen, aus allen Zeiten!8

Ein großes, umfassendes, weit ausschweifendes Bewußtsein deutet sich an, dem alles gegenwärtig, alles nah ist! In ihm ist natürlich Berlin als Erinnerungslandschaft und reale Lebenswirklichkeit des Dichters nicht ausgespart; im Gegenteil: immer wieder rekurriert der Autor auf diese Wirklichkeit, stößt sich von ihr ab, kommt auf sie zurück. Er rekapituliert sogar die eigene literarische Vergangenheit, die Großstadtlyrik des Buchs der Zeit; jedenfalls decken oder ähneln sich die Überschriften einiger aus dem Fluß des Ganzen herausgestellter und quasi als lyrische Mikro-Aufnahmen agierender Passagen hier mit einzelnen isolierten Gedichttiteln dort. Neunzehnhunderteins (…) – „fünfundzwanzigjähriges Jubiläum als deutscher / Dichter“: und noch immer kann der Autor den exotischen Phantasie-Gästen, die er sich zu diesem Anlaß einlädt, nur mit seiner einfachen Hinterhauskamurke aufwarten.9 Eine bewußt – im Sinn der ,Lyrik-Revolution‘ – modernistische Variante zum Arme-Leute-Milieu, wie wir es aus dem frühen Phantasus-Zyklus kennen, stellt die Moderne Großstadtballade dar. Und auch für die atmosphärische, erlebnishaft-impressionistische Erfassung der großen Stadt gibt es zahlreiche Belege; als Beispiel „Wintergroßstadtmorgen“:

Durch
die Friedrichstraße, die
scheußlich
gußeisernen Gaslaternen brennen nur halb,
die
grauen, häßlichen, eintönig toten
Häuserfronten
zwiedämmern schon, der dunsttrübe Wintermorgen
fröstelt,
den alten Weichflauschhavelock kinnunterverknöpft,
den kalten,
feuchten,
strohhalmzerknautschten Virginiastummel
schief,
die Seele lasch, die
sogenannten Sinne, in jedem sogenannten Sinne
leer,
herzdumpf, schlappschlaff, hirnstumpf,
ausgelaugt,
schlendere ich, trotte ich, bummele
ich
nach… Hause.10

Solche Perioden spannen sich oft über mehrere Druckseiten: in ihnen zerbricht die herkömmliche Satzordnung; das gibt dem einzelnen Wort eine bis dahin unbekannte Freiheit. Wortneubildungen, neue Bildverschränkungen und überhaupt poetische Kühnheiten werden möglich, die bis dahin blockiert waren. Das macht Arno Holz zum ,Vater der Moderne‘ – auch für die deutsche Großstadtlyrik. Seine diesbezüglichen, im Phantasus versteckten Gedichte – literaturgeschichtlich ja nicht mehr auf der Höhe des Naturalismus, sondern der Kunst der Jahrhundertwende zugehörig und in den späteren Bearbeitungen und Neufassungen der Dichtung parallel zum Expressionismus zu sehen – gilt es jedoch überhaupt erst noch richtig zu entdecken!

Karl Riha, in Karl Riha: Deutsche Großstadtlyrik, Artemis Verlag, 1983

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