Karl Riha: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „DENN, Herr, die großen Städte sind…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „DENN, Herr, die großen Städte sind…“ aus Rainer Maria Rilke: Werke in drei Bänden, Bd. 1, Gedichtzyklen. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

DENN, Herr, die großen Städte sind…

DENN, Herr, die großen Städte sind
verlorene und aufgelöste;
wie Flucht vor Flammen ist die größte, –
und ist kein Trost, daß er sie tröste,
und ihre kleine Zeit verrinnt.

Da leben Menschen, leben schlecht und schwer,
in tiefen Zimmern, bange von Gebärde,
geängsteter denn eine Erstlingsherde;
und draußen wacht und atmet deine Erde,
sie aber sind und wissen es nicht mehr.

Da wachsen Kinder auf an Fensterstufen,
die immer in demselben Schatten sind,
und wissen nicht, daß draußen Blumen rufen
und zu einem Tag voll Weite, Glück und Wind, –
und müssen Kind sein und sind traurig Kind.

Da blühen Jungfraun auf zum Unbekannten
und sehnen sich nach ihrer Kindheit Ruh;
das aber ist nicht da, wofür sie brannten,
und zitternd schließen sie sich wieder zu.
Und haben in verhüllten Hinterzimmern
die Tage der enttäuschten Mutterschaft,
der langen Nächte willenloses Wimmern
und kalte Jahre ohne Kampf und Kraft.
Und ganz im Dunkel stehn die Sterbebetten,
und langsam sehnen sie sich dazu hin;
und sterben lange, sterben wie in Ketten
und gehen aus wie eine Bettlerin.

 

Einzelanalyse

Sucht man nach literarischen Vorbildern für den hier angeschlagenen Großstadtlyrik-Ton, scheidet der Zugriff der Naturalisten aus; zu vehement und deutlich hat sich die Lyriker-Generation der Stefan George (1868–1933), Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke gegen deren Programmatik ausgesprochen und sich in offene Gegnerschaft begeben. Fündig wird man dagegen, wenn man sich in der von den Naturalisten attackierten Literatur umsieht, beispielsweise bei einem Autor wie Hermann Lingg (1820–1905), dem Arno Holz unter Anspielung auf seine Versepen, die sich ihren Stoff aus germanischer Frühzeit holen, vorgeworfen hatte, er habe sich „völkerwandernd verrannt“. Dessen Opera hatte er zusammen mit Richard Wagners Nibelungenring ins Pfefferland gewünscht – hinterdrein geworfen: Julius Wolffs (1834–1910) und Rudolf Baumbachs (1840–1905) „Heijerleispoeterei“, Mirzas (d.i. Friedrich von Bodenstedt) „Reimklangklingelei“ und die „ägyptischen Romane“ von Georg Ebers (1837–1898).1 Gerade aus solchen historischen Bezügen heraus entwickelt sich jedoch ein Gedicht Linggs, „Die großen Städte“ überschrieben, das sich in seinem thematischen Ansatz bei einem Pauschalurteil über „die großen Städte“ und in seiner formalen Gestik (Enjambement und ,und‘-Anaphern) mit Rilkes Großstadt-Versen vergleichen läßt; die Herausgeber der Großstadtlyrik-Anthologie Im steinernen Meer haben – noch 1910 – eben dieses Gedicht an den Anfang ihrer Sammlung gestellt und ihm damit eine anhaltende Aktualität attestiert. Die erste Strophe –:

Die großen Städte schleppen
durchs Meer und über Steppen
sich fort, und ihren Fluch,
sie haben ihre Narren
und hinter sich Erstarren
und Schutt und Leichentuch
.2

Im folgenden entwickelt der Autor, daß sich von Babylon aus ein „verzehrend Fieber “ durch die Welt geschleppt habe, vom Euphrat an den Tiber, vom Nil an den Hellespont und schließlich auch nach London und Paris:

Die großen Städte raffen
die Welt an sich und schaffen
sich Raum von Land zu Land,
sie sind die Völkerzwinger
und sind die Fackelschwinger,
des Aufruhrs erster Brand.

Sie schaun die letzte Blöße,
das Grab von jeder Größe,
das Elend und die Pracht.
Sie sind die Totenstille
in Tower und Bastille
und sind die Straßenschlacht.

Rilkes Verse – ohne Titel – sind April 1903 im italienischen Viareggio als Reaktion auf den ersten Paris-Aufenthalt der Jahre 1902/03 entstanden, erstgedruckt im Stunden-Buch von 1905, dort plaziert im dritten Teil: „Von der Armut und vom Tode“. So wenig der Text selbst in Linggs historische Richtung ausschlägt, Rilkes Paris-Erlebnis als solches kennt derlei Einschläge sehr wohl. Der Dichter schreibt beispielsweise in einem Brief an Lou Andreas-Salomé (1861–1937):

Paris hat für mein geängstigtes Gefühl etwas Unsäglich-Banges. Es hat sich ganz verloren, es rast wie ein bahnverirrter Stern auf irgendeinen schrecklichen Zusammenstoß zu. So müssen die Städte gewesen sein, von denen die Bibel erzählt, daß der Zorn Gottes hinter ihnen emporstieg, um sie zu überschütten und zu erschüttern.3

Diese biblisch fundierte Erfahrung der ,sündigen‘ und deshalb zu ,strafenden‘ Stadt klingt in ,verloren‘ und ,aufgelöst‘ an; die Erwartung einer unmittelbar bevorstehenden Katastrophe setzt sich zwar in „DENN, Herr, die großen Städte sind…“ nicht sichtbar um, scheint aber hinter den angeschlagenen Motiven durch. Und zu dem zitierten Text muß man noch andere hinzuziehen, die das Thema aufnehmen und variieren, also Verse wie:

Die großen Städte sind nicht wahr; sie täuschen
den Tag, die Nacht, die Tiere und das Kind;
ihr Schweigen lügt, sie lügen mit Geräuschen
und mit den Dingen, welche willig sind.
Nichts von dem weiten wirklichen Geschehen,
das sich um dich, du Werdender bewegt,
geschieht in ihnen. Deiner Winde Wehen
fällt in die Gassen, die es anders drehen,
ihr Rauschen wird im Hin- und Widergehen
verwirrt, gereizt und aufgeregt
.4

„DENN, Herr,…“: dieser Einsatz scheint auf einen vorausgehenden Disput angelegt, auf den hin der Autor eine Folgerung zieht. In der Tat ist das ganze Stunden-Buch auf diese Form der transzendentalen Anrede hin angelegt und entwickelt sich in seinen Gegenständen strikt aus ihr heraus. Für das Großstadtthema hat das eine spezifische Präsentation zur Folge: der religiöse Hintergrund einer Anklage vor Gott ist quasi noch präsent, während sich gleichzeitig schon eine neue – weltliche – Sichtweise vorbereitet; statt auf Sündhaftigkeit läuft die Kritik der ,großen Städte‘ auf ihre Widernatur, ihr falsches Wesen hinaus. Das bestätigen jedenfalls die gegebenen Beispiele: Menschen, in „tiefen Zimmern“ lebend, abgetrennt von der lebendig atmenden Natur; Kinder, die nie aus dem Schatten der Kellerwohnungen herauskommen, nie erfahren, was es mit Blumenwiesen, der weiten Landschaft vor der Stadt, voll „Weite, Glück und Wind“, auf sich hat; junge Mädchen, die ihr Liebes- und Lebensziel verfehlen in dunklen Hinterzimmern Fehlgeburten erleiden oder Abtreibungen vornehmen lassen, einem langen Siechtum ausgeliefert, und darin denen ähneln, die tatsächlich schon im Sterben liegen.
Rilke scheint in den Belegen und ihren Details – Schattenexistenzen voll Bangigkeit und Angst, schlechte Wohnbedingungen etc. – an die Elendsmalerei der Naturalisten anzuknüpfen. Der Schein trügt aber! Den Paradigmata geht ja genau jene soziologische Signifikanz ab, die sie bei den Naturalisten haben: während sie dort – im Gegensatz zu den Vermögenden, den Reichen – die Not der unteren Stände illustrieren, haben sie hier – ohne solche Differenzierung – ein allgemeines und pauschales Urteil über ,große Städte‘ zu stützen. Die angesprochenen Personen und Personengruppen – „Menschen“, „Kinder“, „Jungfraun“ – erhalten keine klassenmäßige Kontur, sondern agieren als Exemplar für die existenzielle Lage der Großstädter schlechthin. Hier fallen Charakteristika wie: ,Leben in Lüge und Täuschung‘, ,Abkoppelung von der freien Natur als eigentlicher Lebenskraft‘, ,Verkümmerung der Lebensenergie‘, ,innerer Tod‘. Bezeichnenderweise verändert sich dieses Urteil kaum, auch wenn der Autor die Optik wechselt und die ,großen Städte‘ von ihrer scheinbar glänzenden Seite her anschaut, wie ein dritter, abschließender Text zur Großstadt-Thematik im Stunden-Buch zeigt:

Die Städte aber wollen nur das Ihre
und reißen alles mit in ihren Lauf.
Wie hohles Holz zerbrechen sie die Tiere
und brauchen viele Völker brennend auf.

Und ihre Menschen dienen in Kulturen
und fallen tief aus Gleichgewicht und Maß,
und nennen Fortschritt ihre Schneckenspuren
und fahren rascher, wo sie langsam fuhren,
und fühlen sich und funkeln wie die Huren
und lärmen lauter mit Metall und Glas.

Es ist, als ob ein Trug sie täglich äffte,
sie können gar nicht mehr sie selber sein;
das Geld wächst an, hat alle ihre Kräfte
und ist wie Ostwind groß, und sie sind klein
und ausgeholt und warten, daß der Wein
und alles Gift der Tier- und Menschensäfte
sie reize zu vergänglichem Geschäfte
.5

Soziales Elend und leerer Fortschrittsdünkel, ärmliche Kellerwohnung und neuer technischer Prunkbau – unter „lärmen lauter mit Metall und Glas“ ist die moderne ,Glasarchitektur‘ zu verstehen, für die Rilke gerade in der Pariser Passagen- und Weltausstellungs-Architektur eindrucksvollste Beispiele vor Augen hatte – geraten auf diese Weise unter den Nenner einer ihr Ziel verfehlenden Schöpfung. Diese Perversion gewinnt im Bild der Winde Gottes – eines ,werdenden‘ in Analogie zu Nietzsches ,unbekanntem Gott‘ –, die in den Gassen der Städte verwirrt und gegen ihre eigentliche Richtung gedreht werden, ihren lyrisch-poetisch adäquaten Ausdruck; eine heillose Desorientierung der Städtebewohner, die in Hektik und Gereiztheit abreagiert wird, ist die Folge. Andere Vorstellungen – wie die, daß die Menschen der ,großen Städte‘ aus dem Lot geraten sind – stützen diese Sehweise. Mit ihr tritt Rilke an die Seite Hugo von Hofmannsthals, der sich bereits in den neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts mit ähnlichem Vorbehalt über die ,große Stadt‘ geäußert hatte, bzw. nähert sich Stefan George an, der 1907 unter den „Zeitgedichten“ seiner Gedichtsammlung Der siebente Ring die Beschwörung einer „toten Stadt“ geben wird: endlose Straßen – „drin mit gleicher gier / die menge tages feilscht und abends tollt“:6 Einzelne Textmomente rufen Erinnerungen an Baudelaires „Tableaux Parisiens“ in den Fleurs du Mal wach und heben den Dichter in den Bannkreis der europäischen, von Frankreich aus beeinflußten Moderne…
Die große Deutungsgeste und ihre kritischen Implikate sind eng an die aus dem ,Gebet‘ abgeleitete Lyrikform gebunden, wie sie sich aus der Grundkonzeption des Stundenbuchs ergibt. Sie legt das lyrische Ich auf die Anrede Gottes fest – wie immer dieser im Angebot der Formulierungen („Du bist der Alte“, „der große Unscheinbare“, „der Schmied“, „der Mündige, der Meister“, „ein Unbekannter, Hergereister“ oder, wie zitiert, ein „Werdender“) changiert – und läßt ihm in seinen Präsentationen nur den Ton des Rühmens oder der Anklage offen. Die Bindung der Großstadtthematik an diese bestimmte Stillage ist aber auf das Stunden-Buch beschränkt – und folglich durch Rilke nicht wieder aufgenommen worden. Das heißt aber nicht, daß damit das Sujet überhaupt aus seinem Blickfeld geraten wäre. Auch in seinen späteren Gedichtbänden stößt man immer wieder auf Großstadt-Reflexe, häufig im Zusammenhang einer eskalierten Zivilisationsfeindschaft und Kritik des technisch-industriellen Prozesses. Konzentriert auf Erscheinungen wie „Die Irren“, „Die Bettler“, „Fremde Familie“, „Eine von den Alten“, „Der Blinde“ etc. tritt die Klage über das verfehlte Leben der Großstädter in den Neuen Gedichten, insgesamt abgeschlossen 1907/08, in Erscheinung. Bei einigen dieser Texte ist ausdrücklich Paris als Entstehungs- und Bezugsort genannt. In „Morgue“ gibt der Name einer Pariser Lokalität – des Leichenschauhauses und speziell des großen Saales, in dem man die anonymen Leichen aufbahrt, Unfallopfer, Selbstmörder etc. – den Titel ab, und gerade dieser Text bietet dem Autor alle Möglichkeit, seiner Ansicht vom nicht-gelebten Leben in den großen Städten – realiter ein anhaltendes Sterben – mit neuen poetischen Mitteln noch einmal äußerst suggestiven Ausdruck zu leihen:

Da liegen sie bereit, als ob es gälte,
nachträglich eine Handlung zu erfinden,
die miteinander und mit dieser Kälte
sie zu versöhnen weiß und zu verbinden;

denn das ist alles noch wie ohne Schluß.
Was für ein Name hätte in den Taschen
sich finden sollen? An dem Überdruß
um ihren Mund hat man herumgewaschen:

er ging nicht ab; er wurde nur ganz rein.
Die Bärte stehen, noch ein wenig härter,
doch ordentlicher im Geschmack der Wärter,

nur um die Gaffenden nicht anzuwidern.
Die Augen haben hinter ihren Lidern
sich umgewandt und schauen jetzt hinein
.7

Noch provokativer hat bekanntlich Gottfried Benn – in Morgue, seinem ersten Lyrikband von 1912 – dieses Motiv aufgegriffen. Im direkten Vergleich der Texte sind neben den Übereinstimmungen markante Unterschiede festzuhalten: während Rilkes Tote – endlich – einem Schlummer anheimgegeben sind, in dem sie in sich gekehrt werden und zu sich selbst kommen, seziert Benn die aufgebahrten Leichen, bricht sie auf, stößt auf Spuren fremden Lebens – ein Nest junger Ratten in einer „Laube unter dem Zwerchfell“ eines jungen Mädchens-, assoziiert Phantasien von Sexualität und Geburt; deshalb die ironischen Einzelgedichttitel im kleinen Morgue-Zyklus, der den Band einleitet und ihm den Namen gibt, wie „Kleine Aster“, „Schöne Jugend“, „Kreislauf“ und „Negerbraut“. Bei aller Parallelität im Zugang zur Großstadt-Problematik über dieses auffällige Motiv treten beide Dichter in diesem Punkt scharf auseinander. Mit der gewandelten Stilform – vom Jugendstil zum Expressionismus – modifiziert sich auch deren weltanschauliches Substrat.

Karl Riha, in Karl Riha: Deutsche Großstadtlyrik, Artemis Verlag, 1983

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