Kerstin Hensel: Zu Christine Lavants Gedicht „Kreuzzertretung“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Christine Lavants Gedicht „Kreuzzertretung“ aus Christine Lavant: Die Bettlerschale. –

 

 

 

 

CHRISTINE LAVANT

Kreuzzertretung

Kreuzzertretung! – Eine Hündin heult
sieben Laute, ohne zu vergeben,
abgestiegen in die Hundehölle
wird ihr Schatten noch den Wurf verwerfen.

Oben bleibt der Vorhang ohne Riß,
nichts zerreißt um einer Hündin willen,
und der Herr – er ließ sich stellvertreten –
sitzt versponnen bei den ganz Vertrauten.

Auch die Toten durften nicht herauf!
Vater, Mutter, – keines war am Hügel,
und die Sonne hat sich bloß verfinstert
in zwei aufgebrochnen Augensternen.

Von der Erde bebte kaum ein Staub,
nur ein wenig sank die Stelle tiefer,
wo der Balg, dem man das Kreuz zertreten,
sich noch einmal nach dem Himmel bäumte.

Der Kadaver – da ihn niemand barg –
kraft der Schande ist er auferstanden,
um sich selbst in das Gewölb zu schleppen,
wo Gottvater wie ein Werwolf haust.

 

Die Höllenhündin

Will man glauben, daß dieses Gedicht in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts geschrieben wurde? Die Verse, deren Trochäen wie Ohrfeigen wirken, teilen etwas mit, das scheinbar nicht der Gegenwart angehört, sondern sich irgendwann zwischen dreizehntem und neunzehntem Jahrhundert abspielt. Sind sie der kruden Phantasie einer kranken, verzweifelten Dichterin entsprungen? Oder war die Realität ihres Lebensortes, des kärntnerischen Lavant-Tals, eine derart bedrückende, daß es sie zu dieser groben und großartigen Blasphemie führte?
Christine Lavant (1915 bis 1973) starb mehr, als sie lebte. Unvorstellbare Armut und Lebenstristesse haben sie zu einer Tiefgläubigen gemacht. Die eingeprügelte Demut, wie es die von ihr geliebten Mystiker des Mittelalters predigten, hat sie zum radikalen Verzicht auf Wollen und Wünschen, auf eigene Pläne und Ziele, auf Freunde und Verwandte gebracht und in den absoluten Gehorsam getrieben. In der Abgeschiedenheit des weltfremden Kaffs hält sie innigste Zwiesprache mit Gott, wie es weiland Meister Eckhart im Kloster getan hat.
Das Gedicht handelt von der Abwesenheit Gottes. „Kreuzzertretung!“ weist in drei Richtungen: das Zertreten des Zeichens des Martyriums (des Todessymbols), der Bruch mit dem Glauben und das Brechen des Kreuzes (des Willens). Der Leser erfährt sowohl Kraft als auch Machtlosigkeit des lyrischen Subjektes. Dieses wird nicht als Mensch sondern als „Hündin“ gezeigt. Der Hund, im Christentum Symbol der Treue, aber auch – in der mystischen Symbolik – das niedrigste aller Tiere, die Kehrseite des Göttlichen, ist Lavant selbst. In „Sieben Lauten“ heult die Hündin magisch ihre Nichtigkeit: Sie steigt ab in die Hölle, denn nur der (Kreuzes-)Tod des MENSCHEN, nicht der des Viehs, ist Voraussetzung für die Geburt Gottes. Aus der Unterwürfigen ist ein Höllenhund geworden. Sein Gift in der Unterwelt ist das Gift des Phantastischen, Irrationalen.
Die irdische Einsamkeit wird in den Orkus verlagert. Die Hündin bellt den Vorwurf: Der Herr (bei Lavant immer auch als „liebender Mann“ zu lesen) rührt keinen Finger für sie. Während bei Jesu Himmelsaufstieg ein rauschendes Naturereignis inszeniert wurde, „bebt“ bei Lavants Höllenrutsch „kaum ein Staub“. Selbst den schon Toten (Vater und Mutter), denen sie im Jenseits wiederzubegegnen hofft, wird der Auftritt verweigert. Mit einer Mischung aus Einsicht und Wut, Gott nicht erreichen zu können, wehrt sich die schon totgetretene Hündin „noch einmal“, indem sie den Weg nach oben nicht aufgibt. Es ist der Weg zur Unsterblichkeit, der durch die Welten des Bewußtseins und des Unterbewußtseins, also durch Oben und Unten führt.
Jesus trennte sich am Kreuz von seinem Körper, indem er seine Schmerzen überwand und so die Herrschaft des Geistes über die Materie demonstrierte. Die Lavant spricht vom Gegenteil, von sich, dem „Kadaver“ und der „Schande“. Diese Schande sah sie in ihrem Leben, das sie als „einen einzigen Makel“ beschrieb. Ihr Gotteshaß war Sünde wider den Geist, also der einzigen Sünde, die nicht vergeben wird. Die auf Erden gemarterte Kreatur kann den Himmel nur noch als Ekel empfinden. Trotzdem treibt es sie nach dem Scheinort des Glücks. Gott wird sein unheilvolles Wirken als Wolfsmensch fortführen. Der Hund, dem Wolf verwandt, hat ihn von seinem Thron gestoßen und sich selbst erhöht. Eine trotzige, gesetzeswidrige Auferstehung. Christine Lavant tat die hexische Arbeit einer Gottesanbeterin. Für ihre Katastrophe macht sie Gott verantwortlich.

Kerstin Henselaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Einundzwanzigster Band, Insel Verlag, 1998

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