Kiev Stingl: sink skin

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Kiev Stingl: sink skin

Stingl/Lüpertz-sink skin

+

Angeklagte
sind seltene
erscheinungen.
rar gebeugt
strahlen sie
ihr schwarzes
leuchten, das
blendet zum zorn
die unschuld,
deren verbundene
augen das
make up des
ursprungs sind,
wo die klage
noch abprallte
von der chöre
raum, um sich
im unsichtbaren
zu tode zu flüstern

 

 

 

Den einen ist er Inbegriff des Bürgerschrecks,

den andern willkommen als Repräsentant jener selten gewordenen Spezies des Bohemien, der, keiner gesellschaftlichen Macht verpflichtet, nur den Eingebungen seiner (Un)Moral folgend, „in schlenderischer Ruh“, durch die realen Alptrauminstallationen unserer Tage flaniert. Villon, Baudelaire, Rimbaud, Apollinaire: kein Vergleich, der ihm von eilfertigen Feuilletonisten, auf ihrer Suche nach den Farben der Wirklichkeit, nicht schon angetan worden ist. Stingl weiß, daß er sich nicht aus seiner Haut herausschreiben kann, daß man sich in der Verzweiflung über die Ohnmacht gegen die Dummheit der Hoffnung auf ein anderes Blau, zu arrangieren hat. Und so sprechen seine neuen Gedichte die Worte der Wehmut, zittern vor Zorn und tragen den Stolz des Unbeugsamen in sich. Stingl spielt genüßlich mit den hohen Worten. Seine Ironie (= ein roi -sic!-) rettet die Texte vor dem Absturz in den „Puder der Gelehrsamkeit“. Die Schatten an der Wand sind eingebrannte Seelen. Stingl hat sie, „el haschisch“ in die Augen geträufelt, geschaut und siehe: „nie waren aromatische geometrien / von gefangenschaft im gewölbe meines lichtseins / als in diesem in die dichten nebel / reinen wünschens gebetteten körper.“

Herbert Debes, Druckhaus Galrev, Ankündigung, 1995

 

Zugegeben:

Liebhaber harmloser Verse dürfen die folgenden Zeilen der Kommentierung getrost überlesen, denn für sie sind die lyrischen Werke von Kiev Stingl keine geistige Nahrung. Risikobereite Leserinnen und Leser sollten sich allerdings darauf einlassen und dessen Sink Skin Gedichte kennenlernen. Die Lektüre könnte Aufschluß darüber geben, welche Richtung die deutschsprachige Dichtung im nächsten Jahrhundert einschlägt: „…der / schatten adolf hitlers ist die / sonne der bundesrepublik / vulkanisch kaal wähnt böse / mich dieses ydyll / ich lösch / mich aus zu blanker exis / tenz – jeder teuflische zus / ammenstoß ist vulgär + brüll / ich, ist museum als bruch / bude, zertrümmerte fresse / als mahnmal, nacht als ein / zimmerhölle, in der lieblings / gespenster in selbsterregung / branden zu knechtloser fotz / …“. Zertrümmert hier jemand ohne Rücksicht auf sprachliche Verluste mit dem Preßlufthammer die Wörter? Oder verlangt nicht geradezu dieses rasende Jahrzehnt der globalen Vernetzung weltweiter Inhaltslosigkeit die sprachliche Antwort eines Kiev Stingl, der aus dem Raum-Zeit-Gefüge ausbricht und den staunenden Lesern nichts schuldig bleibt, sie mitreißt in den Sog seiner Wortmaschinerie.

„… + jede heilige kommunikation / ist brutal + sage ich, und bin / geworfen in die verfluchtheit / einer maliziösen laune, einer / heidnischen besessenheit, ei /nes großangelegten lässigen / geschiebes, dem ich entstieg / in karierten hosen, als ein / stöhnen durch die city ging. / ähnlich dem vatikanischen / gemurmel von greisen, denen / das abbild gottes erscheint, / indem es sich blitzschnell / wandelt in einen picasso bei / m mösenquälen, einen kiefer / beim andachten cheruskis / cher totschlägerstaffeln. (…).

Bereits vor fast zwanzig Jahren, 1978, war in einem ‚Kultbuch‘ der damaligen Literaturszene, dem LYRIK-KATALOG Bundesrepublik“ (von Jan Hans, Uwe Herm und Ralf Thenior im Goldmann Verlag herausgegebenen, viermal nachgedruckt und zwanzigtausendmal verkauft) ein lyrisches Selbstporträt Stingls abgedruckt:

„Stingl hat’n Muwie / drauf, Stingl ölt / sich  / die Fresse. // Stingl tankt für / 3,50 Super & na // gelt südwärts. Stingl / sucht sich ‚ne / Kiste & is wech / wie Las Vögel Das. // Stingl ist ein / Nobody auf Durch- / reise (…)“. Der Verlag distanzierte sich damals in einer „Erklärung“ am Ende des Buches vom Inhalt… .

Zwischenzeitlich erschienen Bücher und Tonträger des in Aussig an der Elbe (Böhmen) geborenen und jung gebliebenen ‚alten Wilden‘ mit Titeln wie „flacker in der pfote“ (1979), „die besoffne schlägerei“ (1984), „keiner maria cowboy“ (1993), „hart wie mozart“, LP (1979) oder „ich wünsch den deutschen alles gute“, LP (1981).

Soviel steht fest: Stingl ist sich treu geblieben und seiner Zeit (noch immer) voraus. Verglichen mit Kiev Stingl wirkt beispielsweise der Kölner Poet Thomas Kling, der sich selbst gerne als avantgardistischer Dichter inszeniert, wie ein aufstrebendes Mitglied im Tölzer Knabenchor.

Anton G. Leitner

Kiev Stingl aus Berlin bringt mit Sink Skin

jetzt seinen vierten Gedichtband heraus. Früher trat Stingl auch als Rock-Sänger auf, und er machte Platten wie „Ich wünsche den Deutschen alles Gute“ oder „Hart wie Mozart“. Sein vorletzter Gedichtband hieß „Keiner Maria Cowboy“. Schon im Titel deutete sich die Absicht an, Hoch- und Populärkultur zu vermischen oder genauer gesagt: letzte provokativ in die erstere einzuschleusen. Das Abgeschmackte und das Gloriose, das Erhabene und das Lächerliche kommen bei diesem Dichter im selben Atemzug. Stingl versteht es, sein Publikum in Verwunderung zu versetzen, und ob dem Publikum der Vortrag und das Vorgetragene nun gefällt oder nicht, eines ist sicher: es hat dergleichen noch nicht vernommen.

jüngst ging ich
durch berlin in un
ruhig schlaf, er
losch, entstand und
mehrt mit bös
em tritt des unsi
chtbaren strick,
in dessen schlinge
mein schädel für
mich allein den tod
der häuser baut.
und in den zimmern
stein auf stein z
ur mauer aufgetür
mt die körper, ab
geschickt zur höl
le, die vor sich
hingrinst und ung
eduldig wachsend
mit der keule kai
ns auf ihren fies
en schlußgong lau
ert. dort, im ge
rippe, feiert sic
h der bedauernswe
rte, auf den alle
finger zeigen.
eben noch in der
schmach sinkt de
r wirrkopf geil a
ufn teppich und
zerrt seine silho
uette aus schwarz
en und grauen sto
ffen in die alber
ne abendsonne. Ü
ber dieser andacht
feld gellt der ki
rch geläut: bimmel
bimmel bammelt am
himmel, der ein s
trohfeuer anzündet
in den köpfen der
kinder, die sich
in den großen kuh
ställen der mili
onendörfer versam
meln, um eine kon
servendose anzube
ten oder einen sc
hwarzen hammer od
er den mörder ihr
er milde und güte.
der wilde lobt sich
in phrophezeihung:
+ ich wüte + und aus
der müllt + üte zieht
fluchend die l’ost generation ihr sc
hattengesicht +
die nacht fickt d
as licht, blut, d
arling, vergißmein
nicht + brüllst du
so laut, daß der
diebstahl vollend
et ist. jeder kl
ut von jedem ort
und zeit und von
der heiß und kalt
gedanken spaltet
und vereint. + fick
mich + sagst du.
und ich sage
+ das geht
nicht. ich erfinde
gerade den
tod +

Auch in dem Titel „Sink Skin“ ist ein Programm zu finden; ob man ‚sink‘ das englische Wort für ‚Ausguß‘ hört (Stingl vermengt nicht nur gern die Sprachebenen, sondern auch die Sprachen) oder ob man dabei an ‚sinken‘ und ‚versinken“ gleich untergehen denkt, beide Assoziationen sind aussagekräftig. Immer wieder geht es in den Gedichten um Vergehen und Erlöschen, um Tod und Ende. Identifikation findet bei Stingl mit dem Abseitigen statt, niemals mit einem vernünftig-aufgeklärten Mittelwert.

Der ‚skin‘ ist die Projektionsfigur für alles Böse. Diesen Außenseiter wählt Stingl zu seinem Helden, was zu gewagten Zeilen führt wie: „der schatten adolf hitlers ist die sonne der bundesreublik. Vulkanisch kaal wähnt böse mich dieses idyll“.

Allerdings ist Stingl viel zu sehr ein Mann der Kunstgeste, als daß er auf irgendeiner ideologischen Position beharren würde. Das wäre für ihn nur museal und ‚Museum‘ bedeutet: ‚bruchbude‘. Bewußtsein in der Gegenwart zersplittert in disparate Momente; was den lyrischen Ausdruck angeht, so ist dieser das Resultat ‚einer heidnischen Besessenheit, eines großangelegten lässigen Geschiebes, der Verfluchtheit einer maliziösen Laune‘. Fazit: ‚Ein Phantom amüsiert sich. Das letzte schöne Faultier der Republik (womit der Dichter sich selbst meint) entlarvt die Aufklärung. Deutschland wird Ode‘.

Vieles bei Kiev Stingl scheint zunächst undurchsichtig. Dennoch geht von seinen prächtig gewundenen Wortgirlanden etwas Eindrucksvolles aus. Vor allem wenn Stingl selbst vorträgt, eröffnen sich blitzartig Bedeutungen, die sofort von anderen, weniger einsichtigen Aussagen abgelöst werden, so daß zeitweise nur eine verbale Geste übrigzubleiben scheint.

Wie erklärt sich Kiev Stingl selbst dieses Oszillieren zwischen einem verführerisch Geheimnisvollen und kurzen Momenten der Klarheit? Für ihn sei alles ganz ganz transparent, meint er entwaffnend; das Dunkle sei sozusagen die Folge übergroßer Helligkeit, eine Art Blendeffekt, wie wenn man mit bloßem Auge in die Sonne schaue: „Mit Transparenz meine ich das plötzliche Sehen dieses Augenblicks, von dem schon die Surrealisten geschwärmt haben, eine Art von Verzückung, d.h. dieser Strahl von Licht, der in einem atmosphärischen Tableau mündet aus Sprache … Dieses Licht ist so stark und so hell, daß es als Dunkelheit erstmal auftritt, wenn es zum ersten mal gehört wird. Ich glaube, daß der Weg zum Klaren immer nur des Nachts stattfinden kann, denn am Tag ist die Deutlichkeit doch oft so profan, daß wir Gefahr laufen in einem Sehnen nach Kitsch zu erstarren, wenn man zum Beispiel an der Cote d’Azur im Teagarden des Negresco sitzt und Tee trinkt und über das Meer schaut, kann man sich nur noch retten dadurch, daß man in dem Augenblick an einen deutschen Wald denkt“.

Stingl gehört sicher nicht zu den HABITUES des Negresco, die Barschaft dürfte kaum zu mehr als einem Tee ausreichen; aber er hat diesen Hang zur Größe oder zur großen Geste; diese Spielart des Dandytums unterscheidet ihn. Wie stellt Stingl sich übrigens zu seinen lyrischen Kollegen? „Meine Zeitgenossen sind Stefan George und Ovid … Das Zeitgenössische im Jetzt hat sich eigentlich nur einmal vollzogen in den 60er Jahren und in bezug auf Film, auf Godard, auf Antonioni. Ansonsten ist meine Zeitgenossenschaft immer im Abgewendeten gewesen“. „Ich glaube, daß Faszinosum, das Männer befallen kann, wenn sie die Verruchtheit von Frauen schätzen lernen, jenseits der naiven Wunschbilder, die man als Mann von einer Frau haben mag, daß die Gestalt, die einem dann entgegentritt, das ist so ein poetischer Augenblick und das versuche ich in meinen Gedichten, ähnlich wie in meinen Songs, oder wenn ich malen würde, in meinen Bildern, festzuhalten, dieser Augenblick eines von der Atmosphäre schier zu einer Implosion gebrachten Befindlichkeit“.

Wenn wir – wie unlängst Undine Gruenter in ihrem Journal „Der Autor als Souffler“ – unterscheiden in Autoren, die sich offenbaren und die sich verstecken, so gehört Stingl eher zu den letzteren. Sein Spaß an der Camouflage ist beträchtlich.

Seine Kunstanstrengung zielt auf Kontexte, die so noch nicht gedacht worden sind. Insofern kann man ihn zu den Experimentellen zählen. Allerdings ist Stingl kein Formalist. Nie dürfte man behaupten, daß die Sprache bei ihm zur ‚eigentlichen Heimat‘ würde. Und Geläufigkeit zu eliminieren ist für ihn kein Entzweck.

Bei aller Künstlichkeit sucht Stingl Existenzielles zu fixieren. Im Grunde geht es ihm um selbstausdruck oder, wie er schreibt: „Selbstwillen“. Stingl macht wenig Fehler in der Form; er ist Held und Opfer seiner eigenen Mythomanie und seine „Lyste“. Im Prinzip gehört er trotz eines gewissen Ruhms zu den Autoren, die noch nicht entdeckt und würdig rezipiert worden sind. Daß dem so ist, hat zum Teil mit gewissen provokativen Eigenarten dieses Autors zu tun. Zwar ist unser Literaturbetrieb durchaus bereit „antibürgerliche Attitüde“ und Erotomanie bei verstorbenen Dichtern (und möglichst noch aus fernen Ländern) zu preisen – wie kürzlich auf diesem Sender im Fall Pessoas; kommt aber ein Exzentriker bei uns mit diesen Verwegenheiten, so verbannt man ihn doch lieber ins Ghettto der Niveaulosigkeit. „Mein Weg“ resümiert Stingl also, „ist der unsichtbare.“ Die künstlerische Tat sei „ein großer Yoke“, wichtiger sei so und so das Leben selber. Deshalb, so Stingl, sei sein Ouevre auch relativ schmal geblieben, „auf dem Leib jüngster Frauen immer wieder ausgerutscht“.

Daniel Dubbe, Büchermarkt, 24.7.1996

 

Bernd Gürtler: Kiev Stingl – Eigenwilliger Solitär

 

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Fakten und Vermutungen zum Autor + FacebookIMDb + Kalliope +
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Nachrufe auf Kiev Stingl: junge Welt ✝︎ laut ✝︎ nd 1 + 2 ✝︎ SZ

 

 

Kiev Stingl 1985 mit dem Text Der Ozean in dem Film „Rosemary’s Hochzeit“ von Karol Schneeweiss.

 

Kiev Stingl Spiel den Brief 1982 live.

 

Kiev Stingl 1982 mit Freundinnen Dein hartes Gesicht (Super-8-Filmmaterial), Filmschnitt von FNAG.

 

Kiev Stingl im Interview über Underground, Ernst Jünger und Rauschzustände.

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