Klaus Michael & Thomas Wohlfahrt (Hrsg.): Vogel oder Käfig sein

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Klaus Michael & Thomas Wohlfahrt (Hrsg.): Vogel oder Käfig sein

Michael & Wohlfahrt (Hrsg.)/Schulze-Vogel oder Käfig sein

II

das war der anfang meines lebens und nun
folgt der zweite teil. vielleicht
beginne auch ich das karussell zu lieben

wie constance die starb in eine
straßenbahn laufend im endlich erreichten
freiberg im breisgau beim holen

von frischen brötchen. manche
menschen legen großen wert auf
frische brötchen. die dichter

haben das nie gemacht. immer haben
sie staunend auf den brötchenberg
auf ihrem frühstückstisch geblickt.

fahren jetzt die bullen im lada vorbei
fragen sie sich ob ich da bin und schaut
einer nach oben zu meinen fenstern?

ich bin sicher: irgendwo hat ein computer
die verbindung hergestellt zwischen
mir und meinem freund micha k. mit dem

ich in berlin-pankow in eine klasse
ging in einer eliteschule und
ich muß ihr gerecht werden so wie

er gerecht werden muß seinem
großvater nach dem in dieser
stadt eine straße benannt ist.

und wir brauchen uns nicht auf
die alten generäle zu verlassen
wir können selbst etwas machen

verbunden durch den computer. ideale
und elektronik sind unabdingbare
voraussetzungen unseres lebens. wo ist

er? in moskau peking beirut washington?
hat er noch seinen alten namen und
die brille oder trägt er kontaktlinsen?

mit einer moralischen tat schwingt
man sich in den computer
in das elektronische netztwerk

aus dem man nie wieder verschwinden
kann – jeder der etwas gegen computer hat
begreift den geheimdienst nicht.

radio: filmfestspiele in westberlin
ein regisseur aus ostberlin versucht
die phantastische unterscheidung

von weltanschauung und politik. in
weltanschaulichen fragen könne man
sich streiten in politischen nicht

dieses kunststück scheint er
vorgeführt zu haben in seinem film
einer trage des andern last.

rauchen bis das herz schmerzt. das
leben geht weiter. wir müssen uns selbst
helfen das leben geht immer weiter…

aber es ist gut einen starken baum im
wald zu haben wie die förster wissen
schrieb der in dieser stadt katholisch

erzogene andreas vincent der im forst
arbeitet weil er sonst gestorben wäre
den strick hatte er schon für den suizid

kommt vor. wenn der druck zu groß ist
noch einmal die vorletzte zigarette,
aber ich habe noch tabak und papier

ich kann zigaretten drehen
bis morgen früh.          die geschichte
wird von den massen gemacht

in denen ich schwinge weil ich
gelernt habe auf die kleinsten
regungen der straße zu achten

im radio meldungen von der olympiade
stimmen von ski-champion im dialekt
joe cokker singt. ich trinke wein.

Heidemarie Härtl, Auszug aus: Die Strasse, 1986

 

 

 

Vorwort

Nach dem Ausschluß einer ganzen Autorengeneration aus dem offiziellen Literaturbetrieb, waren es vor allem grafisch-literarische Kleinzeitschriften, Hefteditionen und Künstlerbücher, aus denen sich 1979–1989 eine unabhängige Literatur- und Kunstszene in Dresden, Halle, Leipzig und Berlin entwickelte. Mit über dreißig Zeitschriften und in die Hunderte gehenden Künstlerbüchern setzten Autoren, Maler und Grafiker dem erstarrten Literatur- und Kunstgeschehen der achtziger Jahre eine lebendige Alternative entgegen.
Der vorliegende Band ist eine erste Zusammenschau einer Literatur- und Kunstentwicklung, die bis Ende der siebziger Jahre zurückreicht und in der Symbiose von Malerei, Grafik und Text faszinierende Formen künstlerischer Kommunikation entwickelte. Bei der Zusammenstellung des Bandes kam es uns darauf an, eine Innensicht dieser Literatur zu präsentieren. Konzept des Buches ist es, miteinander korrespondierende Texte in ihren ursprünglichen Zusammenhängen wiederzugeben. Da sich der poetische Aufbruch individuell und zeitlich auf recht verschiedenartige Weise vollzog, folgen die Kapitel weniger einer chronologischen, als einer systematischen Ordnung. Vereinigt der erste Teil Stimmen zur Situation, gehen die Texte des zweiten Teiles analytisch mit diesen Befunden um. Der dritte Teil soll einen Einblick in die verschiedenen poetischen Neuansätze und in deren geheimes Zentrum, die Arbeit am Material der Sprache, geben. Die abschließende Dokumentation gibt Aufschluß über das Selbstverständnis der Autoren und Zeitschriftenmacher, über ihre internen Debatten und Diskussionen. Auf die jüngsten Auseinandersetzungen um die Rolle der Staatssicherheit konnte an dieser Stelle nicht mehr eingegangen werde, da sich das vorliegende Buch bereits in der Herstellung befand. Hier werden eigene Darstellungen folgen. Fest steht: Nicht alles wurde von den Sicherheitskräften kontrolliert und gelenkt, verhindert oder korrumpiert, dazu war die Produktion zu klein, zu verstreut, zu vielfältig und zu kreativ.
Nicht alle Zeitschriften erklärten sich mit einem Statement oder Editorial… Natürlich konnten nicht alle existierenden Zeitschriften und Heft-Editionen mit ihren Texten ausführlich vertreten sein; vernachlässigt wurden die Zeitschriften MIKADO und ARIADNEFABRIK, da hier bereits eigene Publikationen vorliegen.

Klaus Michael und Thomas Wohlfahrt, Nachwort, Oktober 1991

 

Nach dem Ausschluß einer ganzen Autorengeneration

aus der Literaturlandschaft der DDR, waren es vor allem kleine literarisch-grafische Zeitschriften und Unikatproduktionen, in denen sich seit dem Anfang der achtziger Jahre eine neue Sprache in der Literatur und Kunst entwickelte. Mit Grafiken, Fotos und Zeichnungen ausgestattet, wurden die Zeitschriften zu Kristallisationspunkten einer unabhängigen und außerhalb der staatlichen Kontrolle stehenden Kultur, die Dichter, Essayisten, Maler, Fotografen, Grafiker und Musiker vereinte. Mit Auflagen zwischen 15 und 50 Exemplaren und unter der Hand verbreitet, blieb ihr Wirkungskreis allerdings begrenzt. Viele dieser Zeitschriften sind bis heute unbekannt geblieben. Die Anthologie gibt einen umfassenden Überblick über die wichtigsten Produktionen und versammelt Texte, Fotos und Grafiken der in den letzten zehn Jahren in Berlin, Halle, Leipzig und Dresden herausgegebenen Zeitschriften: A3, ANSCHLAG, BRAEGEN, CALIGO, ENTWERTER-ODER, GALEERE, GLASNOT, LIANE, POE-SIE-ALL-BUM, SCHADEN, UND, USW, VERWENDUNG UND ZWEITE PERSON.

Druckhaus Galrev, Ankündigung, 1991

 

Nach dem „schaden“ die „verwendung“

– Eine Anthologie mit Kunst und Literatur aus unabhängigen Zeitschriften der DDR (1979–1989). −

Nahezu ein Jahrzehnt drängte der konservative Kulturapparat der DDR eine ganze Autoren- und Künstlergeneration an den Rand der Gesellschaft, versuchte, ihr den Weg zur Öffentlichkeit zu versperren. Es waren nicht einige erfolgreiche Anwerbungsversuche, mit denen die Machthaber Einfluss hatten, sondern ihre repressive Ignoranz – damit erreichten sie freilich das, was sie nicht wollten: dass sich Individualisten solidarisierten, zusammenarbeiteten, eingebunden in ähnliche Erfahrungen. Das, was in den 80er Jahren in der DDR entstanden ist, war nur in einer repressiven Gesellschaft möglich, in der wattierten Konsumwelt zerfällt es sofort zu jüngster Literaturgeschichte.

Namen, Programme
Die SED-Funktionäre zwangen Malern, Autoren, Musikern und Performern die Erfahrung auf, diskriminierte Aussenseiter zu sein, und sie erzeugten damit auch das Umfeld, das den Unbequemen half, sich unter widrigen Umständen zu behaupten. Da es für die meisten jüngeren Schriftsteller kein Forum gab, schufen sie sich selbst Publikationsorgane: zahlreiche kleine Zeitschriften entstanden in winzigen Auflagen. So konnte man die Zensurbestimmungen unterlaufen, und da es den Malern nicht grundlegend anders erging, war es naheliegend, eine Verbindung von Text und Bild weiterzuentwickeln, gemeinsame Projekte anzugehen. Es entstanden Hefte mit Unikatcharakter, die einerseits Kommunikation untereinander ermöglichen sollten, die bald aber, insbesondere im Westen, begehrte Sammelobjekte wurden und zum Lebensunterhalt beitragen konnten. In Ostdeutschland entstand ein Netzwerk, eine unverwechselbare Subkultur, aus der wichtige Künstler und Autoren hervorgingen, die die Verbindung aufrechthielten: Auch A.R. Penck lieferte Beiträge, schickte Unikat-Umschläge.
Klaus Michael und Thomas Wohlfahrt stellen nun mit Vogel oder Käfig sein Kunst und Literatur aus den unabhängigen Zeitschriften vor, deren Namen oft auch Programm waren: „schaden“, „verwendung“, „anschlag“, „ariadnefabrik“, „Mikado“, „Bizarre Städte“, „Entwerter-Oder“. Diese „ergänzungskultur“ (Christoph Tannert) gehört kurioserweise bereits jetzt zu den am besten dokumentierten Literaturströmungen der letzten Jahrzehnte – drei wichtige Anthologien stellen die Autoren vor, die Zeitschriften „Mikado“ und „ariadnefabrik“ sind durch Buchpublikationen präsent, etwa ein Dutzend Schriftsteller sind durch Einzelveröffentlichungen bei grossen Verlagen mehr oder weniger bekannt geworden.

Netzwerk, Cliquen
Vogel oder Käfig sein ist eine weitere wichtige Sammlung zum Selbstverständnis derer, „die leben und schreiben – dort der diskurs der macht“ (Michael Thulin). Zum einen wird hier klar, dass es nicht nur eine interessante Clique war, die sich ein Forum schuf, sondern dass in verschiedenen Städten und in nur sehr loser Verbindung an diesem Netzwerk gearbeitet wurde. An dieser Subkultur waren nicht nur die anarchischen Experimentierer beteiligt, sondern auch Autoren wie Durs Grünbein, Barbara Köhler, Bernd Igel, Gabi Kachold, Frank-Wolf Matthies, und freilich Uwe Kolbe: „Die Sprache interessiert mich nicht“.
Die Anthologie macht deutlich, dass es in der DDR ein viel stärkeres Bedürfnis als im Westen gab, miteinander zu arbeiten: Es entstanden Gemeinschaftstexte wie „Zoro in Skorne“ (Bert Papenfuss-Gorek, Jan Faktor, Stefan Döring), in dem es heisst, „man ist unkontrollierbar in Gedichten kann man radikal empfinden üben“, „Innerdeutscher Dialog“ (Barbara Köhler, Fritz Hendrick Melle), „Zwiespältiges Mutual. Innerview der Begegner Michoacan & Mandragorek“ (Mitch Cohen, Papenfuss-Gorek), oder „DOLOROSA ÜBERHAUPT“ (Sascha Anderson, Papenfuss-Gorek, Stefan Döring). Autoren suchten den Kontakt zu Künstlern wie Helge Leiberg, Thomas Florschuetz, Hans J. Schulze, Angela Hampel, Christine Schlegel, W.A. Scheffler, C.M.P. Schleime und vielen anderen, Mappen und Malerbücher entstanden, gelegentlich zeigt sich eine Tendenz zu „Cross art“: A.R. Penck und C.M.P. Schleime als Lyriker, Bert Papenfuss-Gorek als Grafiker (so beim Siebdruckbuch „einem verreckten kater die scheisse aus den därmen dreschen“), oder wenn Lyriker mit Bands auftraten.

Attacke, Entgegnungen
Im ersten Teil des Buches dominieren poetische Texte und Reproduktionen grafischer Arbeiten, aber auch Andreas Koziols Anmerkungen zum Endreim, Gert Neumanns „Brief in das Gefängnis“ oder Gino Hahnemanns Auseinandersetzung mit Homosexualität sind enthalten. Der zweite Teil, die Dokumentation, ist gegliedert in die Kapitel „Texte zur Literatur“, „Auseinandersetzung mit dem Kulturbetrieb“, „Zeitschriften“ und „Debatten“. Hier kann man Volker Brauns Attacke („Technisch die Wiederholung des geistlosen Handbetriebs der Avantgarde, niedrige Verarbeitungsstufe“) nebst Entgegnungen nachlesen, ein Strategiepapier des Büros für Urheberrechte, Rainer Schedlinskis „An das Literaturinstitut der Akademie der Wissenschaften“ oder Jan Faktors Position zur Prenzlauer-Berg-Szene, sowie zahlreiche Statements der Zeitschriftenmacher zu ihrem Selbstverständnis. Plakat- und Zeitschriftencover-Reproduktionen sowie Autorenfotos tragen dazu bei, dass die Anthologie sinnliche Ausstrahlung hat. Die Stasi-Debatte konnte nicht berücksichtigt werden, eine Darstellung hierzu wird angekündigt.

Dieter M. Gräf, Basler Zeitung, 17.10.1992

„Das nennt man dann Untergrund“

Im Prinzip ist es eher peinlich, spätabends in der Kneipe zu lesen, anstatt zu trinken, sich zu unterhalten oder mit zurückhaltendem Blick neue Kontakte zu knüpfen. Plötzlich saß ich jedoch da und las und vergaß – was eher selten geschieht – selbst das Bier, das auf dem Tisch stand. Ein Weilchen zumindest. Das Buch, das die Kneipe in den Hintergrund rücken ließ, heißt Vogel oder Käfig sein und enthält auf ungefähr vierhundert Seiten „Kunst und Literatur aus unabhängigen Zeitschriften der DDR“.
„Unabhängig – haha“, werden einige gehässig einwenden. Hatte die Staatssicherheit nicht irgendwie auch die von Rainer Schedlinski herausgegebene ariadenefabrik finanziert, indem sie Ausgaben für jeweils dreihundert Mark aufkaufte? Oder sind nicht einige der Autoren und Organisatoren der vermeintlich unabhängigen DDR-Kunst- und Dichterszene fiese Stasi-Spitzel gewesen? Der Drucktermin lag zu früh – nämlich noch Ende Oktober 91 –, um auf die Vorwürfe einzugehen, so die Herausgeber in ihrer Einleitung. Es werden eigene Darstellungen folgen, hört man beim Galrev-Verlag, und „Fest steht: Nicht alles wurde von den Sicherheitskräften kontrolliert und gelenkt, verhindert oder korrumpiert.“
Die Alternative, die der Titel stellt, trifft so vermutlich nicht zu; angemessener wäre es vielleicht gewesen, den Kafka-Aphorismus zu nehmen: Also nicht „Vogel oder Käfig sein“, sondern „Ein Käfig ging einen Vogel suchen“. Auf die Darstellungen der Galrev-Kollegen darf man jedenfalls gespannt sein, zumal die sogenannte Stasi-Infiltration sich nicht nur auf Berlin beschränkte. In Cottbus zum Beispiel besuchten „tagtäglich“ Freunde den dortigen Szenekaiser und Maler Hans Scheuerecker, um ihm zu sagen: „Ich war dabei“, erzählte mir neulich ein Galerist und ehemaliger IM, der selbst und freiwillig momentan versucht, seine Stasi- und Kunstgeschichte zu verarbeiten.
Zurück zum Buch: Die versammelten Gedichte, Aufsätze, Prosaskizzen und Grafiken im Buch sind zwischen 1979 und 1989 in Zeitschriften erschienen, die man kaum Zeitschriften nennen mag, lag doch ihr Verbreitungsgrad meist noch deutlich unter der beliebiger Schülerzeitungen. Von schaden, usw., Mikado oder der Kaiser ist nackt, von Liane, Anschlag, und, Entwerter oder wurden zwischen fünfzehn und einhundert Exemplaren gedruckt.
Notgedrungen waren die Zeitschriften nicht so sehr Gegenöffentlichkeit als eine Möglichkeit der Verständigung verschiedener Künstler und Dichter zwischen Berlin, Dresden und Karl-Marx-Stadt. Da es sich größtenteils um Unikate handelte – den Blaupausen der Texte waren häufig Originalgrafiken beigelegt –, wurden sie ziemlich schnell zu begehrten Sammlerobjekten, etablierten sich als „Kunst“: Das Kupferstichkabinett Dresden, die Sächsische Landesbibliothek und später auch die Stasi und die Leipziger Deutsche Bücherei begannen schon ziemlich früh, die Zeitschriften und Malerbücher anzukaufen.
Die Verbindung, die Kunst, Grafik und Dichtung in den Zeitschriften eingingen, ergab sich fast zwangsläufig. Die nicht genehmigte Vervielfältigung von Texten stand ja seit 1979 unter Strafe. Neben der Kirche, die intern auch ohne staatliche Absegnung Texte drucken konnte, war es allein den im Künstlerverband eingetragenen bildenden Künstlern gestattet, Grafiken bis zu einer Auflage von dreihundert Stück herzustellen. Ob Text dabei war, interessierte den Gesetzgeber nicht.
Vom Zusammenspiel zwischen Bild und Text, der seltsamen Mischung aus Fanzine und wertvollem Originalgrafikband kann das Galrev-Buch, so sorgfältig es auch gestaltet sein mag, kaum mehr als eine Ahnung vermitteln: Das Format ist zu klein, der Unikatcharakter läßt sich kaum (bezahlbar) wiedergeben. So hat die Reproduktion der Grafiken und Bild-Text-Verbindungen eher dokumentarischen Charakter.
Im Vordergrund steht die Schrift. Die seltsamerweise exakt hundert Autor/Innen (das I müßte man kleiner setzen, da es sich vor allem um Männer handelt) sind mehr oder weniger bekannt: Sascha Anderson, Christoph Tannert, Rainer Schedlinski, Detlef Opitz, Bert Papenfuß-Gorek, Frank-Wolf Matthies, Matthias Baader Holst, Gert Neumann, Gabi Kachold, Stefan Döring, Frank (F)Lanzendörfer, Jan Faktor, Elke Erb, C.M.P. Schleime, Peter Böthig, Mitch Cohen, A.R. Penck und andere. Es sind nicht so sehr literarische Meisterwerke, die das Buch spannend machen – da gibt es Gelungenes und weniger Gelungenes –, vielmehr ist es eine seltene Frische, die sich sowohl in großartigen Texten mitteilt, als auch in solchen, die eigentlich langweilig, egozentrisch, epigonenhaft daherkommen.
Den meisten Arbeiten merkt man die Notwendigkeit an, aus der sie entstanden sind – mag es teilweise auch nur eine therapeutische gewesen sein, mag die Notwendigkeit auch nur für diesen Autoren gegolten haben. Und weil die Texte geschrieben werden mußten, vielleicht auch, weil sie auf ihren Fehlern bestehen, vielleicht sogar, weil kaum einer auf Computer geschrieben ist (und so einen anderen Weg nimmt als der Computertext, der zwar sauber, aber oft auch gesichtsloser wird) können sie etwas herüberretten von den achtziger Jahren ihrer Autoren.
Die Texte tragen das Gepräge der Tage, in denen sie entstanden waren. Man spürt noch etwas von der vergangenen Sexnacht über die der Autor schreibt, man spürt noch den Wind dort draußen vor dem Fenster, die Depression, die sich in der Theorie auflöste; die Freude am Dichtersein und das Klappern der Schreibmaschine in irgendwelchen Hinterhöfen zwischen Halberstadt, Berlin oder Magdeburg.
Auffällig sind die vorherrschenden Strategien der Entsubjektivierung: Oft bleiben nur die Dinge, die miteinander oder mit dem Text sprechen, oft bleibt nur der Text, der von Ich und Welt entlastet, sich in sich selbst spiegelt. Häufig versteckt sich der Autor hinter einem sehnsüchtigen oder anmaßenden „wir“. In den Texten der DDR-AutorInnen wirken die Adaptionen französischer Philosophie allerdings etwas angenehmer als im Westbetrieb. Während den postmodernen Leerformeln im Westen meist etwas beliebig Kokettes anhaftet, gab es in der DDR wahrscheinlich genug reale Gründe, sich in die Subjektlosigkeit zu verziehen.
Und es finden sich ein paar wirklich großartige Texte: Ein langer Essay von Jan Faktor über die unabhängige DDR-Literatur und –Szene der achtziger Jahre, der nicht nur informativ, sondern vor allem durch wunderbare Abschweifungen beeindruckt; oder ein Gedicht von Stefan Döring (man wird immer töter), das Sascha Anderson bei einem seiner Punckrockauftritte Mitte der achtziger Jahre – im Rückblick ziemlich bewegend – rezitiert hatte:

… es wird immer töter

töter die liebe,
töter der glaube
töter die hoffnung

will man dennoch leber bleiben

leber töterer Liebe
leber töteren glaubens
leber töterer hoffnung

wird man selbst dabei töter

töterer leber töterer liebe
töterer leber töteren glaubens
töterer leber töterer hoffnung

gibt es denn keine liebe
liebe töteren lebers töteren glaubens

gibt es denn keinen glauben
glauben töteren lebers töterer hoffnung

gibt es denn keine hoffnung
hoffnung töteren lebers töterer liebe

nein!

es bleibt nur noch
töter zu werden
oder töter zu sein

töter der liebe
töter des glaubens
töter der hoffnung

Im Dokumentationsteil des Buches gibt es Schwarzweißfotos aufregender Lesungen und ein paar grundsätzliche Aufsätze und Diskussionen über das, was „Szene“ war oder ist. „die szene ist die weib ist die schoß“, weiß Gabriele Kachold; die Redaktion der Zeitschriften sei ausschließlich von Männern dominiert, bemerkt Cornelia Sachse, die Szene sei kalt und „nur auf eine unangenehme Weise neugierig geladen, letztendlich aber stumpf und teilnahmslos“, schreiben Jan Faktor und Annette Simon 1987 in der ariadnefabrik.
Texte, die das Szeneprinzip grundsätzlich in Frage stellen, gibt es allerdings weniger. So wird aus dem Archiv addiert: ein szenebegleitender Freund meint, in erster Linie wäre es um Spaß gegangen und darum, daß dort immer „so viele schicke Frauen mit engen schwarzen Röcken“ rumgerannt wären; ein anderer (Kuttner) erzählt, daß man in die Szene gegangen wäre, weil dort „immer was los“ gewesen sei; Peter Wawerzinek entlarvt den sogenannten „Untergrund“ als Etikettenschwindel – „eine einladung für einen netten abend, das ist untergrund“.
Irgendwie stimmte ihm selbst der ehemalige „Untergrundkönig“ Sascha Anderson vor einem dreiviertel Jahr noch bei: Im Gegensatz zur Sowjetunion, Polen oder selbst Amerika, können man in der DDR kaum von Untergrund sprechen. „In der SU gab es den politischen, in Amerika vielleicht den ökonomisch-existenziellen Druck, der wirklich einen Untergrund geschaffen hat. Und den gab’s in der DDR eindeutig nicht. Woher soll denn der Untergrund kommen? … Hier ist es vielleicht so: Jeder will raus aus seinen Kreisen. Und ‘ne beliebte Art eines hochwohlgeborenen Kindes – egal in welcher Gesellschaft – ist es, erst mal abzusteigen, Runter an die Basis. Die Bonzenkinder werden also Künstler, Arbeiter oder Terroristen oder je nach dem. Das ist ganz klar. Sie müssen runter vom Etablierten, vom Saturierten und allem, was da dranhängt. Und da ist der einfachste Weg abwärts. Das nennt man dann Untergrund. Also: Entweder man bringt seinen Vater um, oder man steigt ab. Anders geht das nie. Ich kenn‘ jedenfalls kaum Künstler, die aus der Arbeiterklasse kommen. Warum auch?“
In einer Zeit, in der „Untergrund“ als Marktartikel von Philipp-Morris und IBM gesponsort wird, ist das immer noch die klarste, mir bekannte Definition für Untergrund. Das Buch versammelt in diesem Sinn Kunst von Leuten, die, größtenteils übers Elternhaus, für Machtpositionen vorgesehen waren, dann aber den vorgegebenen Weg gesellschaftlicher Etablierung in ihrem System ausgeschlagen haben, um – mehr oder weniger selbstbestimmt – ihr eigenes Ding zu machen.
Vogel oder Käfig sein ist eine gute Erinnerung an eine Zeit, die ich nicht kenne. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, war ich extrem gut gelaunt, wollte erst mal durch die Kneipen ziehen und neue Leute kennenlernen. Am nächsten Tag, nahm ich mir vor, würde ich mir noch tausend andere Bücher kaufen. Das ist wahrscheinlich das Beste, was man über ein Buch sagen kann.

Detlef Kuhlbrodt, die tageszeitung, 8.4.1992

Wer immer

in den letzten Wochen und Monaten das Wort Literatur sagte und sich dabei auf die jüngere und unabhängig genannte Literatur der DDR bezog, der sagte auch das Wort Stasi. Wer immer in den letzten Wochen und Monaten darauf aufmerksam zu machen versuchte, daß diese Kausalität in ihrer Grobschlächtigkeit die tatsächlichen Realitäten verfälschte, hatte damit zu rechnen, abgewunken zu werden. Er durfte es sich schon als Erfolg verbuchen, wenn er nicht unterbrochen wurde mit der Bemerkung, daß diese Literatur zwar sehr ins Gerede gekommen, aber weitestgehend unbekannt geblieben war. Bleibt das fragwürdige Verdienst des deutschen Feuilletons zu konstatieren, das in dem Bemühen, ein sattes Stückchen des großen Stasi-Kuchens abzukriegen, zumindest dafür sorgte, den bildungsbürgerlichen Lesedrang für die Sekundärliteratur aufzubewahren.
Wer auch immer (oder noch immer) geneigt sein mag, jenen sekundären ,Rahmen‘ zu verlassen und einmal sich selbst ein Bild zu machen von dem, was hinter dem doppelten Mythos (dem des Elitären und dem der Stasi-Connection) an jüngerer Literatur besteht und bestand, dem sei eine neue Publikation des Ostberliner Druckhaus GALREV empfohlen. Der Titel des Bandes: Vogel oder Käfig sein – Kunst und Literatur aus unabhängigen Zeitschriften der DDR 1979–1989 verspricht eine umfangreiche Vorstellung dessen, was nun tatsächlich in den letzten 10 Jahren vor Ende der DDR von der jüngeren Künstler- und Literatengeneration geschaffen wurde. Bei dieser relativ großen Vollständigkeit, in gewisser Weise repräsentativ jedoch kann man es durchaus bezeichnen, was die Herausgeber Michael und Wohlfahrt auf mehr als 400 Seiten zusammen trugen. Egal welchen Wert man nach Lektüre des Bandes den literarischen und künstlerischen Zeugnissen beimessen mag – das Wort Vielfalt läßt sich positiv wie negativ besetzen –, muß man doch den Herausgebern zugute halten, ein längst überfälliges Dokument auf den Büchertisch gebracht zu haben, das geeignet sein sollte, die quantitative Diskussion des Feuilletons (‚Wieviel Spitzel per 100‘) in eine qualitative überzuleiten, der soldatisch geführten Moraldebatte eine ästhetische folgen zu lassen.
Nebst einem umfangreichen Textteil, an dem knapp 50 Autoren beteiligt sind und in dem der ‚herkömmlich-sture‘ Prosatext ebenso vertreten ist wie das schwer zugängliche, gelegentlich womöglich spleenige oder abgestandene Sprachexperiment, bleibt dem zweiten Teil des Buches eine Dokumentation der künstlerischen Entwicklungen im besagten Zeitraum vorbehalten. Es finden sich hier einige vornehmlich ästhetischen Fragen und dem künstlerischen Selbstverständnis gewidmete Debatten, literaturwissenschaftliche Erörterungen und zeitgeschichtliche Auseinandersetzungen, wie auch eine sehr akribisch erarbeitete Darstellung jener berühmtberüchtigten illegalen und halblegalen Zeitschriftenkultur der 80er Jahre. Auch eine Reihe von Bilddokumenten belegen den dokumentarischen Anspruch. Besonders hinzuweisen lohnt sich auf eine mit sehr viel Kenntnis und Sachverstand erarbeitete Bibliographie nicht nur jener Zeitschriften sondern auch unzähliger Künstlerbücher, wenngleich hier der Konflikt der Herausgeber zu beobachten ist, sich durch ihre Ambitionen zu lavieren; so peinlich einige Überbetonungen wirken mögen, so ärgerlich im Sinne des Dokumentierens könnten Vernachlässigungen erscheinen. Aber womöglich ist das ein kleinlicher Einwurf. – Biographische Anmerkungen zu den fast 100 beteiligten Künstlern und Literaten schließen den Band ab.
Bei dieser Anzahl von Beteiligten dürfte es im Gegensatz zu dem Eindruck, den das Feuilleton der letzten Monate verbreitete, schwer sein, wenn nicht unmöglich, eine ‚umfassende‘ Besprechung des ungewöhnlichen und angesichts der Debatte auch mutigen Bandes zu bewerkstelligen. Der im Vorwort erfolgte Hinweis, man habe aus Zeitgründen nicht mehr auf die Debatte, d.h. die Rolle der Staatssicherheit eingehen können, mag vielleicht der überflüssigste Satz des Buches sein, denn natürlich gehört zunächst erstmal das primäre Dokument auf den Tisch.

Detlef Opitz, Mitteldeutscher Rundfunk, 31.3.1992

Duftmarken

Der literarisch begabte Sohn eines DDR-Generals wird mit fünfzehn Pazifist, fliegt mit sechzehn von der Schule, verweigert mit achtzehn den Waffendienst, „wird von der Stasi observiert, verhaftet, zusammengeschlagen. Und von den Westbullen ebenso“ – und kann nach all dem nicht glauben, daß seine Dichtung integrierbar war: „Was ich mache (…) steht in der häretischen Tradition. Die kann man vielleicht erst sehr viel später literarisch integrieren, politisch wird man die nie integrieren können.“ Politisch nie! So beschwor Ende Januar Bert Papenfuß-Gorek die Zukunft in dem Augenblick, als ihn die Stasi-Vergangenheit Andersons einholte.
Aus Papenfuß spricht das illusionäre Selbstbewußtsein des Prenzlauer Bergs. Man denkt groß von der Sprache, wenn sie nur als Kunst auftritt, und schlicht von der Politik, der man nicht zutraut, für überschüssige Intelligenz ein Areal einzurichten, wo Kunst für Künstler kultiviert werden darf.
Mit polizeilichen Verboten hatte nur in Dresden „UND“ zu kämpfen, als einzige der unabhängigen Literaturzeitschriften, wie Peter Böthig, ein Kenner der Materie, schreibt. Aber welche Courage gehörte dazu, in einer Diktatur, die jeden öffentlichen Text kontrollierte, einfach anzufangen auf eigene Faust zu publizieren. Papenfuß ist überzeugt, seine Texte sind subversiv – denn keiner zertrümmerte Sprache so gut wie er. Doch die Frage, ob es denn stimmt, daß ohne Andersons und Schedlinskis Verbindungen nichts vom Prenzlberg veröffentlicht worden wäre, kann Papenfuß nicht verneinen: „Sascha war dafür ein Sammelpunkt und Lutz Rathenow der andere. Beide haben sich dafür angeboten.“
Welchen Anteil hatten Sprachspiele an der Zersetzung der politischen Situation in der DDR? Und welche künstlerische Qualität haben die Texte Sascha Andersons, Zentrum der Kommunikation damals und Maßstab für die Kunstproduktion dort?
Wonach fragt die vorliegende Anthologie? Der Titel, „Vogel oder Käfig sein“, macht neugierig. Vor allem aber die Aussicht, es werde ein Überblick über die Produktion unabhängiger Kunst in der DDR publiziert: „Kunst und Literatur aus unabhängigen Zeitschriften in der DDR 1979-1989“, so heißt der Untertitel. Es sei zwar nur eine „erste Zusammenschau“, heißt es etwas unsicher im Vorwort, aber die Erwartung wird dann doch gestachelt: die „Innenansicht dieser Literatur“ solle präsentiert werden. Also die Stasi-Connection, die „Ästhetik des Verrats“ (Rathenow), mutmaßt der Leser? Und „fest steht“, so versichern dann auch die Herausgeber Klaus Michael und Thomas Wohlfahrt, „nicht alles wurde von den Sicherheitskräften kontrolliert und gelenkt, verhindert oder korrumpiert“. Nicht alles? Also immerhin doch vieles! Was wissen die Autoren? Das „geheime Zentrum“ der poetischen Neuansätze, so verraten sie schließlich (sie schreiben wirklich „geheim“), sei „die Arbeit am Material der Sprache“.
Welch eine Entdeckung! Gab es etwas, das die Akteure des Prenzlauer Bergs breiter getreten hatten als die Absicht, Arbeit am Material der Sprache zu leisten?
Wie die Gliederung des Buchs zeigt, ist die Ignoranz gegenüber der Geschichte konzeptionell. Wichtige Daten für die DDR-Zeitgenossenschaft der achtziger Jahre, wie zum Beispiel die Verhängung des Kriegsrechts in Polen oder der Machtantritt Gorbatschows, spielen in „Vogel oder Käfig sein“ keine Rolle. Und schon gar nicht das Jahr 1989, der Anfang vom Ende des Kommunismus in Europa. Die Tendenz zur Entpolitisierung des Prenzlauer Bergs wird nicht befragt, sie wird wiederholt. Unter keinen Umständen soll irgendeine Entwicklung gezeigt werden. Es geht um Kunst als zeitlose Größe. Entsprechend sollen die Kapitel nicht einer Chronologie folgen, sondern „einer systematischen Ordnung. Vereinigt der erste Teil Stimmen zur Situation, gehen die Texte des zweiten Teiles analytisch mit diesen Befunden um.“ Literarische Texte werden also eingeteilt in solche, die Stimmungsbilder liefern, und in andere, die „mit den Befunden“, wie es weich abgefedert heißt, „analytisch umgehen“. Dieser Jargon signalisiert Empathie mit dem Konsens des Prenzlauer Bergs. Was Jan Faktor 1988 „die neue Kritiklosigkeit“ nannte, setzen die Autoren hier fort. Man setzte Duftmarken, um sich wiederzuerkennen. Es ging um Kommunikation, um Lebenshilfe. Die Kunst war wichtig als Gestus.
Die unscharfe Unterscheidung literarischer Texte nach Situations- oder Analysebild ist Krampf. Gänzlich scheitern muß das Prinzip bei der Auswahl des Bildmaterials, wo Darstellung und Deutung beim besten Willen nicht trennbar sind. Aber da die Zeichnungen und Graphiken, in Hochglanz präsentiert, derart bescheiden sind, kommt’s nicht weiter drauf an. Auch die Auswahl des Textmaterials, so muß man den Eindruck gewinnen, ist unter Absehen von Qualitätsmerkmalen getroffen. Das betrifft zum Beispiel den ganzen Teil II, also gut und gerne 70 Seiten (mit Ausnahme von Michael Thulins „Krippenspielmaschine“, einer der besten Texte im Buch). „Spott sei dank“ liegt das nicht nur an dem „lauwetter geballter mitte“, an der „geschwätzigen langeweile“, an dem „modernistischen Kitsch“ des Prenzlauer Bergs. In meinen drei handsignierten Sammelobjekten (Grafik/Lyrik, Die Tage sind gezählt, Dresden 1983; Rückzug: Marsch. Poesiealbum April 1984; Edition Mariannenpresse 1985) finde ich frühe Zeichnungen von Leiberg, die schön, und Gedichte von Anderson, die lesbar sind. Ein Gedicht beginnt zum Beispiel mit den Versen: „MEINE TAGE SIND GEZÄHLT / ICH HABE MEIN WORT GEBROCHEN / ARMDICKE GEDANKEN BILDEN FÄUSTE.“
Eindrucksvoll in Vogel oder Käfig sein ist das Foto von Florschuetz auf Seiten 107 und dessen Deutung durch Sascha Anderson: „das wesen dieser fotografie ist, alles in allem, zum beispiel die möglichkeit der hand, mit dem mund zu sprechen, und der, wie gesagt, handelt.“ Der Mund handelt. So lapidar kann man reden. Anderson kommt hier dem nahe, was Jan Faktor einklagt, wenn er die Prenzlauer ermahnt, beim Schreiben „wenigstens ab und zu mal ein klares Wort auszusprechen“. Sie hätten den Kampf um die Schaffung einer autonomen Literatur verloren, so seine Bilanz: die großen Themen fehlten, Weltoffenheit und Kritik. Jan Faktor war dabei, ließ sich aber den unbestechlichen Blick nicht trüben, den Blick des Fremden aus der CSSR. Nützlich sind der dokumentarische Teil mit wichtigen Aufsätzen von Tannert, Hesse und Schedlinski zum Beispiel, die Bibliographie der Zeitschriften und die Kurzbiographien.
„Das vorliegende Buch befand sich schon in der Herstellung“, sagen die Herausgeber; sie hätten auf die jüngsten Auseinandersetzungen um die Rolle der Staatssicherheit nicht mehr eingehen können; und sie datieren ihr Vorwort auf den Oktober 1991. Ausgeliefert wurde das Buch aber erst im März 1992. Wäre in diesem langen Produktionszeitraum nicht Spielraum gewesen für einen Kommentar, der aktuell Stellung bezieht oder wenigstens zwei, drei Fragen aufwirft? Die Herausgeber wissen, daß sie sich hier gedrückt haben, und versprechen für den Herbst weitere „Darstellungen“ (Arbeitstitel „Zersetzung“).
Was unterlassen wurde, wird also nachgeholt: Verortung des Prenzlauer Bergs in den „Landschaften der Lüge“. Ohne solche Analyse bleiben alle Aussagen über das Herzstück der „unabhängigen“ Literatur und Kunst, über den Autonomieanspruch, Makulatur.

Horst Domdey, der Freitag, 8.5.1992

Wer zu spät kommt…

„Wer zu spät kommt,“ – Sie wissen, wie es weitergeht – „den bestraft das Leben“. Michail Gorbatschows Ausspruch ist mittlerweile zum geflügelten Wort geworden, das sich auf alles mögliche anwenden läßt; so auch auf wichtige Bücher. Und ein wichtiges Buch ist die vorliegende Anthologie „Vogel oder Käfig sein“ aus dem Druckhaus Galrev zweifelsohne; nicht nur, aber vor allem seit es jene erbitterte Debatte um Autonomie, Anspruch und Qualität der Literatur vom Prenzlauer Berg gab.
Doch das Buch kommt spät, vielleicht zu spät; wenn nicht gleich das Leben, so doch eine große Zahl von aufgebrachten Kritikern hat gestraft und – nicht selten aus Unwissenheit – eine ganze Autorengeneration in Mißkredit gebracht. Wie so oft in den letzten Monaten muß daher im Zusammenhang mit der literarischen Prenzlauer-Berg-Szene der Konjunktiv bemüht werden: hätte man doch…! Hätte doch das Druckhaus Galrev, den schon für das Frühjahr, dann für den Herbst 1991 angekündigten Band zu Zeiten der heftigsten Auseinandersetzungen zügig veröffentlicht, um wie vieles differenzierter, mindestens aber fundierter hätten die Debatten durch diese umfassende Zusammenschau ausfallen können. Wenn nämlich, fernab von persönlichen Animositäten und Eitelkeiten, von moralischen Ansprüchen und generationsspezifischen Mißverständnissen, der Blick auf das Wesentliche dieser Szene gerichtet worden wäre: auf ihre Literatur! In Vogel oder Käfig sein nämlich ist sie versammelt, umfangreich wie kaum je zuvor. Doch obwohl das Manuskript schon monatelang fertig im Druckhaus Galrev vorlag, hat man die Chance zur zeitigen Veröffentlichung bedauerlicherweise ausgelassen.
Nun denn, die Anthologie zur – wie es im Untertitel heißt – „Kunst und Literatur aus den unabhängigen Zeitschriften in der DDR“ erschien erst in diesem Frühjahr als das Kind schon in den Brunnen gefallen war. Die monatelange Diskussion um den Einfluß der Stasi auf die unabhängige Literatur der 80er Jahre hatte eine kaum zu erwartende Intensität und Publizität erreicht. Die Unabhängigkeit, die auch der Buchdeckel von „Vogel oder Käfig sein“ beschwört, war lauthals infrage gestellt worden. Und so durfte man gespannt sein auf diese erste Anthologie nach dem großen Streit und – zumindest in einem Vorwort oder Kommentar – eine Bewertung der zusammengestellten Literatur und der gegen sie erhobenen Vorwürfe erwarten. Doch weit gefehlt! Das spärliche Vorwort tut weitgehend so, als wäre gar nichts gewesen und flüchtet sich in einen Trick: es ist auf den Oktober 1991 datiert – also just auf jenen Monat, in dem die ersten Vorwürfe gegen Sascha Anderson öffentlich wurden. Es scheint also einleuchtend, daß keine Bewertung möglich war. Das Vorwort selber aber zeigt, daß auch nach dem Oktober 1991 noch daran geschrieben wurde, eine dringend notwendige Überarbeitung also möglich gewesen wäre – Es heißt dort: „Auf die jüngsten Auseinandersetzungen um die Rolle der Staatssicherheit konnte an dieser Stelle nicht mehr eingegangen werden, da sich das vorliegende Buch bereits in der Herstellung befand. Hier werden eigene Darstellungen folgen. Fest steht: Nicht alles wurde von den Sicherheitskräften kontrolliert und gelenkt, verhindert oder korrumpiert, dazu waren die Produktionen zu klein, zu verstreut, zu vielfältig und zu kreativ.“ Soweit das Zitat und soweit auch der einzige Hinweis im ganzen 450-seitigen Buch auf die zuletzt geführten Auseinandersetzungen.
Dabei hätte es einer Änderung der Textzusammenstellung überhaupt nicht bedurft – worauf der Hinweis, daß das Buch sich bereits in der Herstellung befunden habe, ja wohl abzielt. Nein, diese Sammlung von Arbeiten aus zehn Jahren unabhängiger Literaturproduktion in der DDR ist an sich sehr lobenswert. Denn neben bereits bekanntem wird hier erstmals auch bislang schwer zugängliches Material als Einstieg für ein breiteres Publikum, aber auch als Grundlage für eine fundierte wissenschaftliche Arbeit öffentlich gemacht. Ob die Lektüre heute jedoch noch so unvoreingenommen stattfinden kann wie vor einiger Zeit, ist fraglich. Da wäre es Aufgabe eines gelungenen Vorworts gewesen, diesen Freiraum der reinen Lektüre von Literatur gegen Ressentiments und Vorurteile zurückzuerobern und zu verteidigen. Sich in diesem Punkt jeglichen Kommentars zu enthalten, grenzt an Ignoranz und provoziert, was gar nicht nötig gewesen wäre, daß nämlich hinter vorgehaltener Hand, Autoren, die glauben oder wissen, daß ihnen Unrecht angetan worden ist, über eine Verschwörung spekulieren. Das Druckhaus Galrev schütze seine IM’s, stelle sich nicht der Diskussion und der innerste Kreis mache weiter, als sei gar nichts geschehen. Leonhard Lorek zog daraus die Konsequenz, den Abdruck seiner Texte zu verweigern. Andere Autoren, Jan Faktor etwa, wollten ihre Stimme gerade nicht im Kanon fehlen lassen, wundern sich aber über die Auswahl des Materials. Selbstkritisches ist Randerscheinung. Es gärt in der Szene und diese Anthologie ist Öl im Feuer ihrer Kritiker.
Beim Versuch, die Dinge positiv zu wenden, könnte man den Herausgebern Klaus Michael und Thomas Wohlfahrt immerhin zugute halten, daß sie keine kurzlebige Streitschrift in den schwelenden Konflikt einzuspeisen beabsichtigten, sondern ein – wie es der Verlagsprospekt vollmundig ankündigt – „Standartwerk zur Geschichte der staats-unabhängigen Kunst des letzten Jahrzehnts der DDR. Und in der Tat, was von 1979 bis 1989 lediglich in den diversen kleinen Zeitschriften mit einer Auflage zwischen 10 und 100 Exemplaren veröffentlicht werden konnte, sammelt „Vogel oder Käfig sein“ nun zu einem beachtlichen Lesebuch. Doch wieder muß eingeschränkt werden. Mit dem Hinweis auf dazu bereits vorliegende Publikationen wurden die zwei vielleicht wichtigsten Zeitschriften außer acht gelassen; Mikado und ariadenfarbik. Sieht so ein Standartwerk aus, daß die Geschichte einer der bedeutendsten literarischen Szenen dokumentieren will?
Was bei allen Ungereimtheiten rund um die Literatur bleibt, ist die Literatur. Die nämlich, die Gerhard Wolf einmal eine „widersetzliche Literatur“ nannte, eine, die sich sowohl den sprachlichen als auch gesellschaftlichen Konventionen verweigert. Sicherlich gerät das hier und da zum Selbstzweck, viel häufiger aber ist das Ausdruck eines morbiden Lebensgefühls, dann nämlich, wenn aus zertrümmerter Sprache Neues wächst, sich Splitter zu neuen Inhalten ordnen, die freilich immernoch keine Botschaft sin.d Wie sollte sie auch lauten?
Der größte Teil der in jüngster Zeit gegen diese Lyrik vorgebrachten Vorwürfe erweisen sich bei der gründlichen Lektüre schnell als haltlos. Diese Literatur ist nicht gleich „hermetisch“, nur weil sie sich nicht nach dem ersten Lesen wie ein Schlager singen läßt. Sie ist auch nicht deshalb „unpolitisch“, nur weil sie auf politische Plattitüden à la Biermann verzichtet. Sie hat Substanz und Vogel oder Käfig sein ist das Buch, dies zu entdecken.

Jürgen Deppe, Deutschland Sender Kultur, 17.6.1992

Weihrauch über Prenzlberg

Derzeit noch immer damit beschäftigt, den Schaden zu begrenzen, den die Stasi-Rohrkrepierer im Druckhaus Galrev verursachten, tritt Klaus Michael, gemeinsam mit Thomas Wohlfahrt, als Herausgeber des Bandes Vogel oder Käfig sein hervor. Die Edition bietet „Kunst und Literatur aus unabhängigen Zeitschriften in der DDR 1979–1989“. Kunst in der DDR ist gemeint, die neben der DDR-Kunst existierte. Ein Kunst voller Einfälle, die einfallsreich ihre Resonanz in Wohnungs-Galerien, Wohnungs-Lesungen, durch Auftritte unterm Dach der Kirche, selbstverlegte Kunstbücher und polygraphisch mangelhafte Zeitschriften organisierte, die ihre DDR-Herkunft so wenig verrieten wie die Kunst.
Über 30 Zeitschriften, so die Herausgeber, tauchten in den achtziger Jahren auf und hatten eine kürzere oder längere Lebensdauer. Die Erinnerungs-Edition will keine riskante Exhumierung vornehmen. Selbstverständlich wichen die Herausgeber nicht von der Berliner Linie ab, die diagonal durch den „Prenzlauer Berg“ geht. Die Nachdrucke der Anthologie festigen nachdrücklich die Stellvertreterrolle des Prenzlauer Bergs. Aufatmend ist daher zu registrieren, daß die dominierenden Zeitschriften Mikado und ariadnefabrik bewußt „vernachlässigt wurden“. Der Verzicht bewahrte andere Regionen wie Leipzig, Dresden, Halle davor, zu Bittstellern zu werden, die nur einen Fuß in die Tür bekommen. Daß sie dennoch im Vorraum stehenbleiben, hat damit zu tun, daß die Publikation eine völlige Öffnung der Provinz Prenzlauer Berg nicht wagte. Der selbst heraufbeschworenen Gefahr, wieder nur eine Bibel für die Gemeinde zu verlegen, entzieht sich die Edition durch den zweiten Teil. Die „Dokumentation“ klammert direkte und indirekte Kapitel der „Auseinandersetzung mit dem Kulturbetrieb“ nicht aus. Sie entwickelt sich mehr und mehr zu einem übersichtlichen und nützlichen Lexikon und ist das endgültig im biblio-biographischen Teil. Der ist eine Schaffens- und Personengeschichte in Stichworten zur Literatur und Kunst in der DDR, die in jedem DDR-Kunst- und Literatur-Lexikon fehlt. Die nichtoffiziellen Zeitschriften „waren nie reine Literaturprodukte. Ihre Besonderheit bestand in der intensiven Korrespondenz zwischen Malern, Grafikern, Fotografen, Filmemachern und Musikern, die ein breites Spektrum nonkonformistischer künstlerischer Ausdrucksweisen dokumentierte“ (Klaus Michael). Um nicht hinter dem zurückzubleiben, was die Qualität der Zeitschriften stabilisierte, ist Vogel oder Käfig sein eine schön gemachte Sammlung mit sorgfältigen Reproduktionen und seltenen Fotos. Etwas Weihrauch soll sein und den Neugierigen unter die Nase steigen.

Bernd Heimberger, DIE ANDERE, Heft 21, 1992

Wirklichkeit ohne Wahrheit ist unerträglich

− Offiziell aus dem Kunstbetrieb ausgeschlossen – DDR-Autoren 1979 bis 1989. −

Vielsagender Blick in die DDR-Vergangenheit: Derzeit geächtete Künstler beschreiben die Innenansicht ihrer Szene während der Jahre 1979 bis 1989. Dem erstarrten System alternativ entgegenarbeitende Dichter, Schriftsteller, Maler und Grafiker präsentieren sich in einer ersten, gesammelten Dokumentation. Beschreibend und analysierend versuchen die Autoren, dem äußeren und inneren Druck der Bevormundung standzuhalten, ihren Gedanken und Gefühlen durch kritische Gegenwehr Luft zu machen, immer auf der Suche nach Neuansätzen.
Aus Hunderten von Büchern, Zeitschriften und Hefteditionen wurden ihre Beiträge zusammengetragen. Sie entstammen der unabhängigen Literatur- und Kunstszene in Dresden, Halle, Leipzig und Berlin. Namen wie Rainer Schedlinski („die macht eine monströse speditionsleistung potemkischer dörfer…“), Sascha Anderson („… und oben schwimmen in überfluteten labyrinthen kadaver…“), Stefan Döring („wer weiß nicht wann er ist noch was ihm wird je gescheiter er sich anstellt…“), Andreas Koziol („… wir tauchen mitunter des friedens wegen in unfallquellen nach höheren gewalten…“) und C.M.P. Schleime („es gibt immer frauen die schneewittchen in einen glassarg legen…“) sind längst geläufig.
Die Not der Jahre hinter dem Eisernen Vorhang, die Kraft, sich mit ihr auseinanderzusetzen und die existentielle Frage „Vogel oder Käfig sein“ findet in diesem Buch erschütternden Ausdruck.
„… reisende in richtung schöne weile … laufen bis elansdorf vor und fallen dort um ab hinterhalt … anschluß verpatzt…“ heißt es in Frank Weiße’s zynischen S-Bahn-Bändelgesprächen.
Die Sackgassen und das Köpfeeinrennen gegen Mauern sind unwiderruflich festgeschrieben. Hohn auf die Menschheit! Schlimmste Aggressionen brechen durch in Worten. (Frank-Wolf Matthies: „… scheiße aus eimern gegen das Fenster…“). Die zornprovozierenden Zustände jener Jahre werden für spätere Generationen unrühmliche Marksteine sein, wohlgeeignet, darüber zu stolpern.
Sehr aufschlußreich ist Michael Thulins Vortrag über „Das Unikat-Syndrom“ und die Gefahr, daß sich „Dokumente einer zuende gehenden Epoche verflüchtigen in … Bibliotheken und in den Schränken der Sammler…“ ein Vergessen „dieser Generationserfahrung“ wäre kaum denkbar. Das Buch ist mit Grafiken und Fotos von Zeitzeugen der Jahrgänge zwischen 1930 und 1966 bebildert.

Christa Fenzl, Main-Echo, 8.2.1993

Vogel oder Käfig sein

Das Verlagshaus Galrev verkauft Bücher und Getränke. Letztere im Café Kiryl (plus Literaturverein), gleich nebenan in der Lychener Straße im Prenzl’berg. Warum ich das erwähne? Zur Umreißung von Literaturverhältnissen.
Der Zusammenhang zwischen künstlerischer Produktion und dem Café als Ort der Sozialisation (á la Boheme) ist ein althergebrachter. Der Weg der literarischen Wirkung führt über den Schoppen Wein. Kreativität und Getränk gehören zusammen in der „Szene“. Szene: Menschen tun ihrem Bedürfnis nach Abgrenzung Genüge, indem sie sich in ein dafür geeignet scheinendes Territorium zurückziehen, sich einander durch einen ähnlich nachlässigen äußeren Stil kenntlich machen und produktiv oder rezeptiv, in jedem Falle aber durch Teilnahme am Gastronomiebetrieb, an der Schaffung eines literarisch-kulturellen Zentrums mitwirken. Diese Beschreibung nun ist eine eher formale, tun wir uns nach einer substantiellen um.
Zu diesem Zwecke liegt ein ganzer Band von Literatur, Graphik, Photographie vor; die unabhängige Kunst, wie man so sagt, der 80er Jahre in der DDR. Aus der Edition Galrev. Da haben wir die Hinterhaus-Avantgarde, die Künstler/innen aus den „Zimmern unter dem Dach“ (Danke, Gerhard Schöne!), die, um nicht mehr nur ihre Gedichte auf die freien Ränder von Zentralorganen zu kritzeln, eigene Zeitungen machen wollten. Und was die volkseigenen Verlage nicht publizierten, konnte in den Druck kommen bei Zeitschriften, wie ariadnefabrik, Mikado, schaden etc.
Diverses Divergierendes steht hier beieinander zwischen den selben zwei Buchdeckeln; die Gemeinsamkeit besteht vor allem in der Ablehnung des Establishments. Von einer literarischen Gruppierung kann die Rede wohl nicht sein; die Sehnsucht nach Öffentlichkeit schuf diese Gemeinsamkeit. Am Ende gibt’s bittere Klagen und „Vage Zagenvragen“. Cornelia Sachse spricht für die Frauen: „achtung hier ist szene / hier wirst du entwürdigt wie noch nie“. Und Rainer Schedlinski: „‚szene‘- … eine lose ansammlung einzelner leute, die nur wenig miteinander gemein haben, die sich nicht sonderlich nahestehen und die auch beileibe nicht alle unter einer decke stecken“.
Nicht alles, was in dieser „Ansammlung“ zusammengetragen wurde, ist gut, interessant, bemerkenswert. Aber es gibt Bilder, Metaphern, die lassen sich nicht einfach ins Regal zurückstellen, die leben im Alltag erst richtig auf. Rezensieren Sie selbst, liebe Leser/innen! Vielleicht bei einem der achtundvierzig Whiskys im Café Kiryl.

Emilia Dube, Humboldt-Universitätszeitung, 13.5.1993

Der Horizont der Lychener Straße

… Lange vorher  vollmundig als erste(!) vollständige (!) Darstellung des künstlerisch-literarischen Untergrundes in der DDR angekündigt, lag zum Jahreswechsel 1991/92 der Band Vogel oder Käfig sein – Kunst und Literatur aus unabhängigen Zeitschriften in der DDR 1979–1989 vor. Im Druckhaus Galrev herausgegeben von Klaus Michael und Thomas Wohlfahrt, stellt er eher eine Innensicht von Beteiligten dar. Galrev als nunmehr ordnungsgemäß geführter Verlagsbetrieb ist nach 1989 aus der Szene selbst entstanden, jener „Berliner Szene“, die Rainer Schedlinski in ariadnefabrik, einer Zeitschrift, 1987 so beschreibt: … lose ansammlung einzelner leute, die nur wenig gemein haben … manche westberliner, die mal was von der ‚szene am prenzlauer berg‘ gehört oder gelesen haben, kommen auch immer mit ihren fotoapparaten und sind dann enttäuscht, wenn sie nicht finden, was ihnen vorschwebte…“
Von dieser Art Selbstironie enthält das Buch vielleicht eine Spur zu wenig; hingegen wird versucht, die Aura zu rekonstruieren. Die in drei Abschnitten (Situationsbeschreibungen, Analysen, poetische Neuansätze) wiedergegebenen Texte aus der Szene (denken Sie sich einfach Gänsefüßchen oder Gänschenbewunderung zu diesem Wort hinzu, wenn Sie mögen) vermitteln aber nur eingeschränkt eben jene Aura. Am nunmehr konventionellen Satz der einstmals als außergewöhnlich angesehenen Sätze wird deutlich, daß Besonderes nicht zuletzt in besonderer Umgebung bestanden haben mag: das Typoskript trug die Spuren seines Produzenten. Herausgeber Klaus Michael (Thulin) verweist in einem gescheiten Aufsatz zum „Unikat-Syndrom“, 1990 als Vortrag gehalten, auf diese Tatsache – und deren Gewinn.
Der Leser heute wird sich fragen: Was war gefährlich an diesen Texten? Wieso mußten sie im Selbstverlag erscheinen? Die neuen Fragen sind die Fragen von gestern. Denn nicht Texte waren gefährlich, sondern allein ihr Ungenehmigt-Sein.
Das „geheime Zentrum, die Arbeit am Material der Sprache“ (Vorwort) war denn auch eher geeignet, politische Bedeutungslosigkeit zu installieren. Die Machtkämpfe in der Szene, die Buchstabengefechte, wären in jedem anderen Land als Künstler-Kaspertheater freundlich toleriert worden, nicht ganz zu Unrecht vielleicht.
Die zahlreichen beigegebenen Fotos stellen junge Leute dar, wie sie sich mit Kunst vergnügen: Trompeten und Wandmalen, Erste-Geige-Spielen und Zur-Schau-Stellen. Im normalen Leben ist so was Selbstfindung. In der DDR war es Widerstandskampf.
Ich bin mir unschlüssig, ob ich den letzten Satz eigentlich ironisch verstanden habe möchte.
Was den Band besonders interessant macht: Dokumentationen. Manchmal sind es nur Abbildungen, wie die Einladungskarte von Cornelia Schleime zur Lesereihe „Zersammlung“ in der Lychener Straße, letzter Hinterhof. Zuweilen, wenn auch nur selten, wird Auseinandersetzung dokumentiert, z.B. eine SINN- und FORM-Debatte, die außerhalb jener Zeitschrift geführt wurde. Ideologischer Kampf per Jugendzeitungsartikel und „Strategiepapier des Büros für Urheberrechte“. Ein Stück aus dem Tollhaus wurde alleweil gegeben: „Die Angst des Staatswesens vor der Lyrik“.
Der Band macht aber auch überdeutlich: wenn Künstler sich gar heftig von den Freuden und Leiden der Welt abwenden und sich ständig gegenseitig Texte vorlesen, werden sie irgendwann nur noch ihre Texte für großartige Welt halten. Politischer Alltag und Alltagswitz werden dann als banal, Späße und Genüsse nichtdichtender Leute als affirmativ empfunden. Poetische Provinzen der Künstler verkommen so zu papiernen Provinzen. Die eigene Straße reicht dann nicht bis zum Horizont, sondern der Horizont schiebt sich an die eigene Straße heran.

Beckmesserei & Vergleiche
… Das GALREV-Buch hat mit seiner schlichten Farb-Beilage eher den Punkt konkreter Sinnlichkeit getroffen. Leider aber sind hier formale Fehler um so gravierender, gerade wegen des hohen Anspruchs, „erste Zusammenschau“ (Vorwort) zu sein.
Eine Auswahl der GALREV-Ungereimtheiten: die Bibliographie im Anhang ist läppisch, selbst „Auswahlbibliographie“ träfe die Sache kaum; einige Mappen und Bücher scheinen willkürlich herausgegriffen zu sein, mal genauer, mal oberflächlich beschrieben. Wissenschaftlichen Ansprüchen hält wenig stand. Das Namensverzeichnis ist zufällig. Der in Leipzig zu einer Ausstellung der schon erwähnten Galerie EIGEN+ART (März 1990) präsentierte Katalog Zellinnendruck wurde mit allen Fehlern übernommen. Der Blick ist arg verengt; dem Buch haftet eine unbewegliche, typisch Berliner Provinzialität an. Wieso ist aus dem Umfeld der Karl-Marx-Städter Galerie oben lediglich Steffen Volmer mit seinen Büchern vertreten, nicht aber der wohl produktivste Malerdichter Wolfgang Henne aus Leipzig? Warum ist die Hallenser Eigenverlagsszene um Jörg Kowalski und Ulrich Tarlatt gänzlich unerwähnt geblieben, die in Wirkung und Qualität die anderen Zentren weit übertrifft?
Im Untertitel ist der Zeitraum 1979 bis 1989 angegeben: die Präsentation führt aber oft darüber hinaus, obwohl die Bedingungen im Eigenverlag sich nach dem Oktober 1989 völlig änderten: so erhalten mache Publikationen nachträglich ihren Untergrundwert. Nebenbei: Scharlatanerie scheint sich in diesem Bereich ohnehin breitzumachen, ist es doch relativ einfach, im nachhinein Produkte als „illegal“ zu offerieren, gar eigens herzustellen und damit Kunstmarktwirtschaftler zu beeindrucken.
Kleinere Lapsus bei GALREV sind unüberschaubar, wie ihre Materie: die Haufe-Presse gibt es nicht, allerdings die Haufen-Presse, Sascha Andersons „Poe Sie All Bum“ erschien erstmals 79/80; Jot (Johannes) Jansens Bücher sind unvollständig angegeben; wieso einfache Maschinen-Manuskripte von Eberhard Häfner als „Künstlerbücher“ firmieren, ist unersichtlich, wo andererseits kirchliche Zeitschriften unerwähnt bleiben; Kaltnadelradierungen werden „Zeichnungen“ genannt; Zeitschriften von 1991 als DDR-Erzeugnisse im Bild gezeigt; Abbildungen sind seitenverkehrt; die falschen Zahlenangaben und Namensschreibweisen sind Legion und werden nun gewiß durch alle Nachfolge-Editionen geschleppt werden…
Da der Unterhaltungswert von Vogel oder Käfig sein wirklich groß ist, würde ich meine Beckmesserei hier lassen; zu fürchten aber ist der Ewigkeitswert aller aufgeschriebenen Fehler…

Matthias Biskupek, Aus: Wilde Künstlerbücher…..Milde Kunstkäufer…..Wüste Stazidichter     Deutsche Verschriftungen, Neue Deutsche Literatur, Heft 7, 1992

bebe go ehed

− Rückblick auf die alternative Literaturszene der DDR. −

Mit unserem nassen gefieder
gleichen wir lange schützten
Und letztlich doch vor dem aus-
sterben nicht mehr gefeiten reihern.
Thomas Böhme

Das gelegentlich zu lesende Urteil, die DDR habe keine (ernstzunehmende) eigene Kultur hervorgebracht, basiert auf Unkenntnis und Böswilligkeit; keine angenehme Mischung. Soeben erscheinen einige hochinteressante wie liebevoll ausgestattete Bücher, die dieses Dictum korrigieren helfen, was die Literatur betrifft. Die in der Edition Galrev vorgelegte Anthologie Vogel oder Käfig sein ist eine gelungene Ergänzung des 1990 bei Text + Kritik publizierten Sonderbandes Die andere Sprache. Neue DDR-Literatur der 80er Jahre (Zeit Nr. 30/1990), und drei besonders schön gestaltete Bände der Autoren Jan Faktor, Flanzendörfer und Bert Papenfuß-Gorek in der von Gerhard Wolf betreuten Janus press bieten die Chance, in größerem Zusammenhang nachzulesen, was die alternative Literaturszene in der DDR hervorgebracht hat. Das ist bestürzend, in der Qualität beeindruckend und manchmal im Versuch, eine untergegangene Moderne neu zu erfinden, lächerlich. Hübsch der Reihe nach.

I.
Unter fast allen Texten der rund hundert Autoren, die die hervorragend dokumentierte Anthologie versammelt, liegt eine totale Identität von Existenz und Schrei(b)versuch; es ist weder sentimental noch dramatisch, wenn man – „geradeheraus in die Fressen der Politikanten“ – von existentieller Not spricht, die hier formuliert wurde: „Ich höre besser vorm Schluß auf. Ich melde mich hiermit ab. Ich erkläre mich ausverstanden, Tod frei! Text Ende. Anfang.“ Was da in Dutzenden von Privatdrucken, Graphikmappen, kurzlebigen Zeitschriften und Handpressen-Postern (heute von Akademien und Bibliotheken begehrte Sammelobjekte) sich artikulierte, war zuerst einmal überhaupt kein Spiel: Es war bezahlt mit Not, Schulden, Angst und Verfolgung – bis etwas zum Selbstmord des fünfundzwanzigjährigen Frank Lanzendörfer, der sich Flanzendörfer nannte und über den das Nachwort zu berichten weiß: „Jedenfalls scheint es nicht übertrieben zu behaupten, daß die Stasi einen Anteil an seinem Freitod hatte, das gehetzte (tier) heißt einer seiner letzten Zyklen. Und nach seinem Tod lief Stasimann ‚Gröger‘ herum und erkundigte sich, zum Beispiel bei Jansen, ob es in der Szene Gerüchte gäbe, Flanzendörfer habe sich wegen der Stasi umgebracht.
Die Gedichte, Szenen, oft Prosa-Fetzen dieser durchweg jungen, mittellosen und oft illegal kampierenden Autoren, entstanden in Kneipen, Hinterhöfen oder den ungeheizten Zimmern von Abbruchhäusern, sind authentisch in ihrer Radikalität:

ich habe das Gift
getrunken, ich trank,
eingebunden in meine zeit
Bernd Igel

Grotesk, mit welcher – gelegentlich aus der Rechtschreibung kippenden – Genauigkeit die „lektorierende“ Zensurbehörde das wahrnahm; in einem sechsseitigen „Strategiepapier“ des Büros für Urheberrechte (wo heute natürlich niemand mehr als Literaturverhinderer gedient haben möchte) heißt es über das Manuskript der später bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Anthologie Berührung ist nur eine Randerscheinung: „Das Manuskript enthält Texte, in denen die Positionen des ‚Außenseiters‘ bzw. des ‚Aussteigers‘ aus unserer sozialistischen Gesellschaft zur Schau gestellt werden. Es wird ein Lebensgefühl artikuliert, in dem resignative und nihelistische Züge vorherrschen, Elegisches und Bitteres, Gefühle des Eingesperrtseins, kommen zum Ausdruck, Selbstmord und Tod sind bevorzugte Motive. Das Manuskript kommt aus diesem wie auch aus Gründen der Autorenzusammensetzung für eine Veröffentlichung in einem Verlag der DDR nicht in Frage.“
Die Herren und Damen Zensoren konnten immerhin lesen: Mit Hilfe eines Computers ließen sich wohl rasch die Wort- und Begriffshäufungen von Nacht, schwarz, elend, Stein, hart, Tod, Sturm, Angst zertreten und so weiter summieren – das Dunkelvokabular einer Literatur des Bedrohtseins: „verwirrung / einbildung / entfremdung / dünnschiß // folgt: // angst / zwang / depression / depeche mode / new wave / punk“ (Flanzendörfer)
Es ist ein Gebot des Anstands, sich die Atemnot junger Leute vorzustellen, die oft ohne festen Wohnsitz, exmatrikuliert, einkommenslos und nirgendwo Mitglied, ohne jeglichen Schutz einer perfiden Staatsmacht ausgeliefert waren, die selbst einem bereits renommierten Schriftsteller wie Christoph Hein Furcht einjagte: „Ich habe übrigens auch, anders als einige Protagonisten der DDR-Schriftstellergeneration nach mir, nie das Gefühl gehabt, man könne mit der Stasi spielen. Ich hatte kein ironisches Verhältnis zur Staats-Macht. Als protestantischer Pfarrerssohn wußte ich, wie schnell man an die Wirklichkeit stößt. Die Stasi-Instrumente waren nicht nur zum vorzeigen da, sondern wurden auch benutzt.“ Es war ja keine „Ich-stelle-mir-vor“-Redefigur und auch kein fingierter Brief, wenn Gert Neumann einem Freund schrieb: „zurück bleibt nur ein Ekel; wenn man die gesamte Figur, die die ‚Organe‘ in Deiner Angelegenheit in die Gegenwart geschrieben haben, betrachtet. Ihr Sinn bringt nur Zerstörung und erzeugt Haß.“ Dieser Freund saß im Gefängnis. Wir haben es also mit einem vollständig anderen „Herstellungsprozeß“ von Literatur zu tun, als es der in München, Paris oder New York ist. Man kann gewiß auch in Graz unglücklich sein: In Dresden oder am Prenzlauer Berg saß man in der Falle, die nicht nur auf den Namen „unglückliches Bewußtsein“ zu taufen war.
Die Herausgeber der Zeitschrift Mikado, Uwe Kolbe, Lothar Trolle und Bernd Wagner, haben die Situation beschrieben: „Das immer tiefere Versinken einer Gesellschaft in Agonie kann im einzelnen die Illusion fördern, er müsse mit seiner Arbeit alles das ersetzen, was die Gesellschaft nicht leistet. Ein hoffnungsloses, in Wahnsinn oder Journalismus treibendes Unternehmen. Und doch, scheint es, muß erst ein ähnlicher Punkt von lange gestauter Energie, Wut und Langeweile erreicht werden, bevor eine Schranke wirklich durchbrochen und sich auf Neuland gewagt wird. Es bedurfte etlicher Winter der Depression, einer Bibliothek voller ungedruckter Texte und schließlich des Zurückgewiesenwerdens einer gesamten Schriftstellergeneration, bevor der Blick überhaupt in eine solche Richtung gehen konnte.“

II.
Die Bedingungen des Schreibens also sind klar (und durch die hier erörterten Bücher genauestens dokumentiert). Das Geschriebene selber gibt Rätsel auf, gelegentlich Bedenken. Falls das Bild nicht frivol ist: Die Kunstläufe dieser Autoren erinnern an Rollschuh-Demonstranten, die scheinbar mühelos und spielerisch einer schwer bewaffneten Staatsmacht davongleiten; sie können die Wasserwerfer oder gepanzerten Mannschaftswagen verhöhnen – aber sie hängen durch unsichtbare Drähte mit ihnen zusammen. Wer ist der Dramaturg der Handlung? Da widerspricht sich etwa Jan Faktor, wenn er einerseits daklariert: „Das Einmischen in die inneren Angelegenheiten des Geschehens ist ein Zeichen von Unreife, Dummheit oder Senilität.“ Und wenn er andererseits in seinem glänzend argumentierenden Ariadnefabrik-Essay „Was ist neu an der jungen Literatur der achtziger Jahre?“ 1988 sogar proklamiert, „zwischen den den Sozialismus aufbauenden Dichtern von damals und denen von heute“ gäbe es eigentlich keine scharfe Trennung:

Um gesellschaftliche Relevanz, um die Breitenwirkung ging es damals wie heute. In beiden Fällen, und auch ‚dazwischen‘, und auch sonst immer, ging es, mußte es gehen, um nur jedesmal ein bißchen anders gelagerte Balance-Akte zwischen dem Bedürfnis nach Autonomie gegenüber dem Staat (der Gesellschaft) und dem Wunsch nach Zugehörigkeit zu ihm (zu ihr). Daß man für sich schreibt, ist nicht nur ein hilfloses Klischee, sondern mehr schon eine Lüge.

Wir sind hier vielleicht an dem entscheidenden Punkt der Erörterung: daß es nämlich auch bei der staatsfernen Literatur um ein DDR-Spezifikum ging. Sie erwehrte sich – aber sie war eben darin Teil von dem, dessen sie sich erwehrte. Ich lasse mir nicht einreden, daß die Zeilen von Flanzendörfer etwa unbezogen auf Realität zu lesen sind:

trostlos eingewohnt &
land vermessen ausgewandert
von irgend nach wo aufn weg

Die Choreographie „weg von etwas“ bezeichnet nicht nur die Fluchtbewegung, sondern auch, was man flieht. Wie das Aufbrechen ästhetischer Verabredungen eben diese Verabredungen nicht nur voraussetzt, sondern auch benennt.

III.
Ein Kanon sollte zerbrochen werden, der nicht nur ästhetische Vereinbarungen fixiert, sondern zugleich politisch-moralische einbezog. Da diese Verlautbarungen sich einer bestimmten Sprache bedienten, versuchten viele der unter der Chiffre „Prenzlauer Berg“ begriffenen Autoren, den Kommunikations-Charakter von Sprache aufzukündigen. Das ist ein Vorgang nicht nur innerhalb der Literatur. Wolfgang Thierse, der zwar stellvertretender SPD-Vorsitzender, aber auch Germanist ist, hat zu diesem Thema kürzlich auf der Jahrestagung des Deutschen Instituts für Sprache in Mannheim einen bedenkenswerten Vortrag gehalten:

Sprachlich verankerte Differenzen zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen ergeben sich nicht aus unterschiedlichen Sprachkenntnissen, sondern aus unterschiedlichen Kenntnissen über den Gebrauch der Sprache (…) Hinter jedem Wort stecken Geschichten. Ihnen muß man nachspüren, denn der Wortschatz einer Sprachgemeinschaft ist immer gleichzeitig Museum und Werkstatt ihrer Geschichte. Das eigentlich Interessante am DDR-Wortschatz ist das, was er uns anzeigt über die geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen seiner Entstehung als einer Ausprägung geregelten Sprachgebrauchs mitsamt dem darin enthaltenen Konfliktpotential.

Diese Dialektik von Sprachregelung, Sprachverweigerung und Sprachzertrümmerung prägt zahlreiche Texte dieser Autoren; gelegentlich versuchen sie, Sprache als Zeichen und Möglichkeit, Dinge zu bezeichnen, aufzulösen:

Die Wörter des reinen Denkens so zu führen, daß sie deren Syntax nicht verfallen und in ihr zum bereits erklärten Stoff gerinnen (…) bedeutet eine Sehnsucht für uns, die wir aus dem Verfall der Gegenwartssprache abzuleiten meinen (…) Die Aufnahme der dem Ereignis zugehörenden Wörterzeichen gilt bei uns als Makel. (Gert Neumann)

Der Vorgang in einem Staat, in dem selbst für Kochrezepte regierungsamtliche Sprachregelungen ausgegeben wurden und das Presseamt des Ministerrats eine Ukas an die Zeitungen gab. „nicht vom ‚Staatszirkus der DDR‘ sprechen, den Namen umschreiben“, ist verständlich. Das Resultat ist es – wie das kurze Textbeispiel von A.R. Penck zeigt – nicht mehr:

Tschoisoisullisois neptun kilt
Will kill ana rotten nasmosch bebe go ehed.
Verzweiflung brandet marmar tartar satur ri.
Interiectum consequuto ars armada genereled.
Amasch buplap meerenge pa nama jilou baluba.

Diese Avantgarde au seiner Konserve, deren Verfallsdatum längst überschritten ist, hat etwas Rührendes; der ästhetische Trotz mit dem man sich dem Brecht/Benjamin-Rezept vom „Gebrauchswert” des Gedichts verweigert, und die Energie des falschen Zeilenfalls: ein Kampf der Arrieregarde. Nun ist aber auch einzugestehen, daß unsereins leicht lächeln hat über die allenthalben versteckten „Anna Blume“-Kassiber, die abgegraste Asphodelenwiese oder die Kunsthochschul-Neckischkeit von Graphik-Gedichten, die in kühnen Bogen an Gertrude Stein vorbeikurven: „ein vorbeifahrendes auto ist ein vorbeifahrendes auto, das vorbeifährt“; es wäre eine eigene Untersuchung wert, den gesellschaftlichen Notstand zu eruieren, der diese Gegenrituale etwa denen der Wiener Gruppe vergleichbar macht. Oder gegenüberzustellen, welche Choreographien des vom Dogmatikpapst Lukács verdammten Expressionismus bewußt übernommen wurden. Da ist beispielsweise das Menetekel Großstadt, geliebt-gehaßt wie weiland bei Heym, Benn, Becher, der Frank-Wolf Matthies 1982 eine Wut-Epiphanie singt:

———————————ich starre
über die dächer: wind und perversion: und
weiß wirklich nicht worauf die antennen
hier warten: / im kühlschrank schales bier /
mein schwanz verschwitzt hat dich nicht gefunden /
in diesem zwielicht wohnt das erhängen:
ja ich weiß wirklich nicht: worauf wir noch
warten: jetzt kann mein messer gut magische
zeichen in deinen warmen leib schneiden
dazu lippen: um einen Mund voll von
———————————gesang

Das hat bei Flanzendörfer, etwa zum selben Datum, eine fast melodie-gleiche Entsprechung:

fahle farben tage
stürzen treppen leiber mundgeruch
auf strassen menschen meute
weiter immer weiter
winden winde winter um
graben gräber erde ab
stehen still die gräser

Allein das Wortmaterial – kalt, starr, stumpf, ertrinken, verglühen, schwammig, Schlammloch – deklariert solche Konterbande als Ruf-Gedichte Verbannter, Eingesperrter. Damit sind – jenseits der Frage nach dem genuinen literarischen Wert – alle diese Texte faszinierende Dokumente; schon die Titel der Künstlerbücher – Schattenverschlüsse, Zwinger – oder Zeitschriften – Herzattacke, schaden, ariadnefabrik – waren Signale. Das Aufregende daran ist, daß noch das schreiendste Pamphlet der Wut eines Kindes auf den Vater gleicht: Ein Stück des Attackierten war man selbst. Bert Papenfuß-Gorek nennt ein Gedicht zwar höhnisch „leben in sozialistischer geborgenheit“; aber in der Mitte stehen die Zeilen:

todentrückt
& mit gezügeltem herzen
gehen wir suchen, was wir nicht finden werden

Fritz J. Raddatz, Die Zeit, 8.5.1992

Bert Papenfuß-Goreks, Stefan Dörings und Jan Faktors

Zoro in Skorne

Bert Papenfuß-Gorek, Stefan Döring und Jan Faktor gehören zu den Protagonisten der inoffiziellen Literaturszene und waren wohl drei ihrer schillerndsten Figuren. Papenfuß wurde 1956 geboren, Jan Faktor 1951 und Stefan Döring 1954. Ihre Lebensläufe sind zunächst durchaus heterogen, Papenfuß-Gorek etwa wird ausgebildet zum Elektronikfacharbeiter sowie zum Ton- und Beleuchtungstechniker; Jan Faktor stammt aus Prag und arbeitete dort als Systemadministrator. Sie leben seit Ende der siebziger Jahre in Berlin, als Künstler und Schriftsteller jenseits offizieller ,Anerkennung‘. Wie schon bei Neumann und vielen anderen jungen Autoren stellen sie sich gerade mit ihrer künstlerischen Arbeit „gegen die Verpflichtungen zu einer Biographie durch die Diktatur“ (EU, S. 19). Offizielle Publikationen blieben ihnen weitgehend verwehrt, der Zugang zum Schriftstellerverband der DDR, der offiziellen Eintrittskarte zur literarischen Öffentlichkeit, ebenso.
Im Inoffiziellen jedoch hatten sich Publikationsmöglichkeiten seit den späten siebziger Jahren als Sammelbecken höchst unterschiedlicher Literatur und als Betätigungsfeld ganz verschiedener Autoren etabliert. Gerade nach der Biermann-Ausbürgerung war offenbar, dass junge Autoren ausgeschlossen wurden, wenn ihr Schaffen nicht in die engen Vorstellungen der Kulturpolitik passte.1 Künstler und Literaten reagierten mit der Zusammenstellung zunächst von Graphikmappen, später mit der Herausgabe vielfältigster Zeitschriften.2 Der Verbreitungsradius der Graphikmappen war dabei zumeist auf den Kreis der Beteiligten beschränkt, der sich mit den Literaturzeitschriften zwar stets vergrößerte, aber Grenzen eines inoffiziellen Arrangements nie überschritt, zu denen wohl vor allem räumliche Nähe und private Netzwerke gehörten.3 Es entstanden in den größeren Städten sukzessive bunte Szenen, geprägt nicht nur durch literarische Publikationen, sondern durch Lesungen, Happenings, Konzerte etc.
Die Publikationen kannten keine inhaltlichen oder formalen Grenzen und erforderten auch keine Gemeinsamkeit. Von Ausnahmen abgesehen, funktionierten Graphikmappen und spätere Literaturzeitschriften ohne redaktionelle Prinzipien. Gedruckt wurde, was in entsprechender Auflage von den Autoren zur Verfügung gestellt wurde. Das unhierarchische Neben- und Durcheinander unterschiedlichster Texte prägte die Zeitschriften. Die Offenheit war angesichts der Erfahrungen in der DDR programmatische Grundlage. Die Geschlossenheit der Gruppen und die Begrenztheit der Publikationen waren dennoch kontextbedingt zur Absolutheit tendierende, aber dabei arbiträr bleibende, die nicht intentional „,Andersschreibende‘ ausgrenzte“,4 wie beispielsweise Berendse mutmaßt.
Das prägte die Produktion und bestimmte ihre Entwicklung. Bezeichnend ist, dass Grenzziehungen in und zwischen den Künsten keine Rolle spielten. Jan Faktor schrieb „Manifeste der Trivialpoesie“, die beileibe keine Manifeste einer trivialen Poesie, sondern Ausdruck eines nihilistisch-existentiellen Literaturschaffens waren und darum programmatisch die Grenze zwischen hoher und niederer Kunst einreißen.5 Die Grenzüberschreitungen zwischen den Künsten und die Multi-Künstler prägten das Bild. Dass angesichts der eingeschränkten Möglichkeiten gerade Performances, Happenings, Lesungen und Vorträge, die sich gern mit Musik kombinierten, wichtiger wurden, lässt sich noch an den Texten ablesen. Der experimentelle Gestus betonte zum einen immer eine Zugänglichkeit. Der Medienmix offenbarte zugleich sowohl eine Tendenz zur Amalgamierung von Künsten wie der von Kunst und Leben, dem auch die Graphikmappen in der Kombination von Graphik und Text und mit der „Nähe des Werks zum Künstler“6 zuarbeiteten.
Diversität, Dilettantenkultur, Multimedialität zeigen dabei den absoluten Wert der Produktion, der alle weiteren Dimensionen nachrangig erscheinen lässt, so dass selbst Unwert und Nichtexistenz von Werken etwa bei Wolle überspitzt als die Szene prägende Merkmale beschrieben werden:

Es wimmelte von Lyrikern, die noch nie ein Gedicht veröffentlicht hatten […]. Ihrem Ruhm in der Szene tat dies keinen Abbruch – im Gegenteil. Es war ein Ausweis von Qualität, nirgends gedruckt zu sein […]. Die unveröffentlichten – und selbst die ungeschriebenen – Bücher besaßen deshalb einen hohen geistigen Wert. […] Hier durfte jeder Dichter, Maler oder Philosoph sein. Die gescheiterten waren die bewunderten Helden und die Arrivierten die armseligen Versager.7

Ein Manifest der inoffiziellen Szene
Zoro in Skorne wurde 1985 in der inoffiziell erscheinenden Zeitschrift SCHADEN publiziert. Der Text blickt auf das seit Ende der siebziger Jahre sich ausweitende literarische Schaffen der inoffiziellen Literaturszenen zurück. Zoro in Skorne verteidigt dabei nun das literarische Leben und die Literatur, deren Sinn- und Richtungsfrage von einigen Protagonisten gerade Mitte der achtziger Jahre be- und hinterfragt wurde. Dass mit der Konsolidierung der Literaturdistribution die Szene selbst als problematische reflektiert wurde, kann nicht verwundern.8 Die Publikationsmöglichkeiten wuchsen sich aus; von dem Prinzip der Graphikmappen – dass, wer seinen Text in entsprechender Auflage einsandte, in der gebundenen Zeitschrift vertreten war – entfernte sich die Arbeit zunehmend. Für den SCHADEN beschreibt Böthig, dass die Flut eingesandter Texte dazu nötigte, eine redaktionelle Auswahl zu treffen.9 Die Professionalisierung der Zeitschriften und die angestoßenen (und in der Auswahl nötigen) Auseinandersetzungen bewirkten Versuche, die Literatur essayistisch und programmatisch (nicht zuletzt in den neuen Editorials) zusammenzubringen und abzudichten. Wie auch immer die Szenen entstanden waren, nun wurde zum einen ihre Geschlossenheit nach außen theoretisch und programmatisch zu fassen gesucht. Zum anderen gaben sich die Zeitschriften nicht mehr als Auffangbecken für Autoren ohne Publizität, sondern wollten nun ein „podium“10 sein und interne Kommunikation anstoßen. Doch der Zusammenhalt der Szene bewerkstelligte sich nur schwer im Austausch von Literatur und Literaten.11
Für die inoffizielle Literaturszene blieb wie für DDR-Literatur insgesamt die Qualität der literarischen Gegenöffentlichkeit notwendig diffus. Schäkel gesteht bezüglich der inoffiziellen Zeitschriften zu, dass der „Gehalt“12 zweitrangig angesichts der bloßen Existenz inoffizieller Publikationsorgane gewesen ist. Das Scheitern der Versuche, die literarischen Zeitschriften zu einem „podium“ zu machen, war bereits in der Struktur der inoffiziellen Szene angelegt, die Selbstentäußerung und Selbstbehauptung gerade im Verzicht auf Öffentlichkeit verwirklicht sah und die literarische Kommunikation in dieser Hinsicht zwar notgedrungen, aber auch absichtsvoll restringierte.

Der programmatische Anspruch schon von Zoro in Skorne ist dann ein nur gebrochener. In den (pseudo-mathematischen) Gleichungen und Schemata (vgl. ZS, S. 16 und 18) kommuniziert sich zwar der Versuch, die Literatur auf eine Formel zu bringen. Dabei wird jedoch eher das Absurde verteidigt oder doch mindestens Konfusion und Irritation gesucht:

Kampf = Rationalität / Analyse / Isolation Essay
Krampf = ,Kreativität‘ / Zersetzung / (Ver-)Suche
Prosa
Tanz = Emotionalität / Synthese / Integration
Lyrik

(ZS, S. 16)

Im Text werden Genre- und Gattungsfragen nicht weiter aufgerufen; es wird auch weniger eine Richtungs- oder Stilfrage diskutiert, sondern das so diverse Schaffen der Szene wenn nicht zu begründen, dann doch zu verteidigen versucht. Diversität und Heterogenität des künstlerischen Schaffens werden betont. Der Text wäre in dem Maße repräsentativ zu nennen, wie er Ansprüche auf formale und thematische Engführung ins Leere laufen lässt. Ohnehin ist der Modus einer lustvollen Destruktion und Enttäuschung von Erwartungen unüberhörbar. Der Text beginnt so:

Ich höre besser vorm Schluß auf. Ich melde mich hiermit ab.
Ich erkläre mich ausverstanden, Tod frei!
Text Ende.
Anfang (ZS, S. 14)

An dadaistische Manifeste erinnernd, spielt auch dieser Text von Beginn an mit Assoziationen einer Literaturüberwindung oder Anti-Literatur. Das „Text Ende“ nimmt die Sinnsuspension vorweg, die schier jede literarische Form betrifft. Allein im Vokabular hat Zoro in Skorne eine deutliche Tendenz. Eine literarische Praxis – der Begriff für sie ist hier die „Ausführung“ (ZS, S. 15) – wird betont und begrifflich und praktisch in eine „tumultane Zügellosigkeit“ (ZS, S. 16) übersetzt. Wenn Literatur auch hier als Praxis, eher als Instrument denn Medium erscheint, relativieren sich ganz konkret zunächst die programmatischen Ansprüche. Der Aufwertung der „unmittelbare[n] Äußerung“ (ZS, S. 18) entspricht die Verteidigung aller „möglichen -versionen“ (ZS, S. 15).

„[J]edes Gedicht ist unfähig“: Sinnsuspension und Grenzverletzungsrhetorik
Selbstbewusst wird der Logik der Repräsentation widersprochen, schon mit dem Vokabular eines „Schalxtum“ oder einer „Unkontrollierbarkeit“ (ZS, S. 14f.).
Mit dem Anti-Gestus wird wohl vor allem die arrivierte DDR-Literatur angesprochen, etwa, wenn es heißt: „Panmelancholisches Gemetafere erschlappft die Gemüter“.13 Tragische Hypertrophierungen als „Gutwahrtragisches“ (ZS, S. 24) werden hier kurz aber prägnant wie schon bei Neumann als Selbstilluminationen aufgedeckt. Sie sind bei den älteren Autoren eine äußerst fragile Brücke zwischen schon sichtbar nihilistisch grundierten Texten und einem noch funktionalen Literaturbild. Die umfassende Entfremdungserfahrung geht dort kaum mehr in tragischer Konflikthaftigkeit auf, sondern nähert sich insofern einer absurden Literatur an, als dass sie bereits weniger Konflikte, denn ein von Picard der absurden Literatur zugewiesenes „Bewußtsein der metaphysischen Leere“14 offenbart. Zoro in Skorne entblättert diese tragischen Strukturen und entblößt ihren nihilistischen Kern.
Literatur gilt hier nun als hilf- und wirkungslos:

Aber verändern kann man alles, überhaupt man Allerlei können, auch, was man noch nicht kann, kann man lernen, aber es wird niemand helfen, noch bewirken, solange Wollen alles abblockt, macht Wollen Kampf zum Krampf, anstatt zu Tanz (um’s Dasein, wohinein Selbstverwirklichung zuckt), wie Kunst von Können, Wunsch von Wollen & Wünschen modische (analog zu Künstlern), aber schon stinkende Falsche Ververbalisierung von Wollen, sind unwilligen Enttäuschern, also gestandenen Enttäuschten, keine Wünsche mehr gewachsen, wider Willen angekränkelnden Genesenden (jedes Gedicht ist unfähig) die gleiche Freiheit Aller unverwechselbar unegal, alle Heilslehren […]. (ZS, S. 19)

Hier kündigt sich gleichzeitig eine absurde Literatur an. Die jungen Autoren variieren mit ihrem Sprachspiel und Absurdität eine Unsagbarkeit, die durchaus schon bei Wolf anklingt, mit provokatorischem Tabubruch und Sinnsuspensionen eine Unerhörtheit. Diese Unerhörtheit prägte nicht nur Wolfs Kassandra-Figur, sondern wird auch gedanklicher Bezugspunkt ihrer poetologischen Diskussion. Die Fehler- und Mangelhaftigkeit poetischer Sprache wird hier nun vollends Grundpfeiler von Programmatik und Praxis. Positiv gewendet heißt das: Die Sprache ist unmittelbar schöpferisch und spielerisch. Das Spiel hat noch hier als „Triebkraft“ (ZS, S. 22) existentiellen Ernst. Privatsprachenvorstellungen werden nun praktisch so weit radikalisiert, dass die Idee wieder hinfällig ist. Das Sprachspiel soll zwar als „Gefühlsreaktion“ und „direkte Bewegung des Unbewußten“ (ZS, S. 18) noch potenziert als individualisiertes verstanden werden, aber dieser „Egoismus“ (ZS, S. 19) weiß um seine Unverstehbarkeit.

Die unterschiedlichen Abschnitte der drei Autoren, die in Form und Aussage differieren, werden mehr aneinandergereiht denn zusammengefügt. Sie haben als je neuer „Anfang“ das gleiche Recht. Auch das ist dem Fokus auf die „Ausführung“ geschuldet:

Was ich meine ist, dass die Ausführung die Mitte ist, genauso wie ich in diesem Text mittendrin bin, den Anfang verlassen habe, und dass sie als Mittel begriffen wird. Sie will auf einen Schluss hinaus, als Mitte, und muss einen Zweck verfolgen, als Mittel. Wenn ich an Mittelalter denke, fällt mir nichts ein. Gut und schön, ich mach weiter […]. Mit anderen Worten ist die Ausführung Gefangener und Knecht. Dies kann man als den unerträglichen Zustand des grössten Teils der Poesie bezeichnen, dass in ihr Unfreiheit und Arbeitszwang herrschen. Die Schritte, die dagegen unternommen werden müssen, sind: Die Ausführung befreien, sie der Langeweile überlassen und sie töten. (ZS, S. 15)

Der Text gibt sich als stets neuer „Anfang“ und Aufbruch, als ein perpetuum mobile ohne Finalität.
Die Vernachlässigung jeder anderen Dimension literarischer Kommunikation jenseits der „Ausführung“ wird wie bei Neumann mit der denkbar radikalsten Konsequenz benannt:

Ein möglicher Tod der Ausführung wäre das Schweigen, das am wenigsten vernommen wird. (ZS, S. 16)

Anders als bei Neumann wird die begriffliche Konsequenz eines Schweigens nicht mehr pathetisch oder elegisch reflektiert, sondern ihr wird eine „tumultane Zügellosigkeit“ zur Seite gestellt. Zoro in Skorne formuliert ein programmatisches „ich mach weiter“ (ZS, S. 15), ohne die Adäquanz von Schweigen und absurdem Redefluss aufzuheben: Da sie „nicht schweigen können, nicht nur zu etwas nicht schweigen, das schon eher, sondern überhaupt, und das ist das Wichtigere“ (ZS, S. 17). Die Betonung performativer Dimensionen lässt die Absenz von Botschaft und Sinn nur drastischer erscheinen.
Sprache wird zum Spielmaterial, denn ohnehin gibt es stets die „Lücke zw. Sprache/Gefühl, Sprache/Wirklichkeit“ (ZS, S. 20); der Text wird partiell selbst zum sprachspielerischen:

nicht nur spiral-aufwärts, sondern spiral-auswärts & -raus zu tanzen, darüberhinaus ebenso imstand ist, die vernünftigen Entsprechungen der vitalen Pulsare (A-E-I-O-U) nicht nur zu verständigen, sondern auch selbstzuartikulieren, sowie jenes anarchistische Flimmern (Ä-Ö-Ü) zu entsenken, dessen Frequenz (man) unserer Astralfrequenz resonant ist, dann dümmlich-nämlich, & wo denn sonst als beim Wort genommen, können wir weiterhin, den Satrapen der Strapazen zum trotz, unsere Wertspäße aus unserer Kunst strotzen, den Ausklügelungs- & Ofenheiz-Faktor (o) so weit zu verringern bzw. versenken, um durchausdurcheinander von Spaß durchdrungen entkrampfkampfzutanzen & somit höchstselbst (=empört) allerlei Eierstöcke auszubrüten (Kr-Zz…). (ZS, S. 22)

In seiner Antisemantik versinnbildlicht das Sprachspiel das prägende Kommunikationsparadox, das programmatisch am deutlichsten formuliert wird, wo die literarische Rede auf ein Schweigen abonniert wird. Die Adäquanz von Schweigen und Rede wird im Sprachspiel weder aufgehoben noch euphemistisch gedeutet. Die „Sehnsucht nach Dauer und nach dem Teil sein von anderen“ (ZS, S. 23) wird als anstrengend deklariert. Die „Schrunst“ ist selbstgenügsame Praxis. Das individuelle und ungewöhnliche „Experiment“ (ZS, S. 23f.), kaum aber Kommunikabilität, wird gesucht.
Alexander von Bormann weist die „Wortversessenheit“ und „Wörtlichkeit“ der Lyrik, der offiziell publizierten Autoren, zuallererst als ein „Versagen von Bildlichkeit“15 aus. Das Wort verweigert jeden funktionalen, selbst noch lyrik- resp. allgemein literatureigenen Gehorsam. Das Sprachspiel bestimmt sich dann durch den Zusammenfall von betonter Performanz und dem Unvermögen, etwas (konsistent und zusammenhängend) zu sagen. Sprachspiel, Künstlichkeit, Eklektizismus und die „Poetik des Fehlers“16 erscheinen dabei als andere Modi einer Unsagbarkeit.
Die „poetische Sprache“, so von Bormann resümierend zur Lyrik der jungen Autoren, kann als „Widerstand“ firmieren, da sie „das Potential einer Lyriksprache“ nutzt, „die auf Wörtlichkeit und differenter Rede besteht“, „um An-Sprüche erkenntlich zu halten“.17 Diese Literatur, die an mannigfaltige Traditionen gemahnt und sie herbeizitiert und zugleich von ihrer Unmöglichkeit handelt, schwebt – wie schon in Hermlins Bildern – als Bedrohung über einer Realität, der die Beschränkung literarischer Praxis angelastet wird.18 Von Bormann spricht von einem „ohnmächtigen Protest“.19

Pseudologie als Selbstbehauptung
Dieser Ungehorsam und das vorgeführte „Versagen“ der Sprache werden programmatisch im Bekenntnis etwa zum „Fehler“ oder zur „Lügenliebe“ zusammengefasst:

Mit dem Tod der Ausführung muss also nicht unbedingt das Schweigen gemeint sein, es genügt schon, in der Wahrheitsliebe die Lügenliebe zu entdecken. Durchaus glückliche Folgen wären u.a. der Wegfall von Scham, die Möglichkeit, Fehler zu machen, die Abschaffung des poetischen Staates im Autor und dass man in den Anfängen stecken bleiben kann. […] Verantwortung ist antworten, wo nicht gefragt wurde. (Ich kann gar nicht verstehen, wie einer zum Sprecher seiner Epoche werden kann.) Die Ausführung stirbt an dem Punkt, der als kontrollierte Verantwortungslosigkeit bezeichnet werden kann. (ZS, S. 20f.)

Der Lügenliebe wird Wahrhaftigkeit zugestanden:

Lüge driftet zu Wahrheit. (ZS, S. 18)

Die Herleitung beruft sich noch hier auf ein Unbewusstes:

Ich und wie sie nicht alle heissen lügen wie gedruckt, wenn sie den Mund auftun […] Unmittelbare Äußerung = unartikuliert (ohne Beifügung) = ohne Inanspruchnahme von vorhandenen Mitteln = Gefühlsreaktion = direkte Bewegung des Unbewußten = Urlaute = Ausweichen oder Angriff = ist wahr, produziert nicht Wahrheit. (ZS, S. 18)

Wie schon zuvor treffen sich Regression und Selbstbehauptung. Ein Zeitschriftentitel wie Der Kaiser ist nackt demonstriert das Einverständnis mit einer (bei Hermlin noch romantisch ausgelegten) Kinderrolle – als die einzig verbleibende Möglichkeit, um überhaupt noch ein Ich behaupten zu können.20 Das Sprachspiel setzt es praktisch um. Zoro in Skorne verabschiedet sich damit nachdrücklich und ausweislich von einem zeichenhaften oder expressiv Bedeutung tragenden oder mystisch inspirierten Sprach- und Literaturbegriff. Die Lügenliebe – wie ebenso die Zusammenstellung von programmatisch verteidigtem Schweigen und fortwährendem Redefluss – macht ein Kommunikationsparadox zum konstitutiven: Es zeigt vor allem die Spannungen resp. Abgründe, die sichtbar werden, wo eine Verweigerungs- zur Selbstbehauptungsgeste werden soll.
Das Sprachspiel sucht nicht immer eine andere – tiefere – Bedeutung. Es kalauert zuweilen; ein Sprachwitz und eine ihm zugrundeliegende kritische Sensibilität ist ihm nicht abzuschlagen. Aber nicht immer, nicht einmal vorwiegend ist die sprachliche Verfremdung eine sinnfällige oder zwingend polyvalente. Durchexerzierte Unmöglichkeiten und stete Neuaufbrüche verstärken sich gegenseitig und ergeben die „Zügellosigkeit“ und „Unkontrollierbarkeit“.
In dieser auch das Sprachspiel bestimmenden Diskrepanz, nicht zuletzt in einer angedeuteten Endlosschleife, ist Zoro in Skorne absurde resp. Nonsensliteratur. Bei Iser wird die Wirkung einer solchen Literatur nachvollziehbar damit begründet, dass „für den Zuschauer unakzeptierbare Strategie“ bleibt, dass „Wörter nichts zu sagen haben, ja, daß es nichts zu sagen gibt“:21
„Frustrierung“ ist für Iser daher „ein zentraler Kommunikationsmodus“.22 Das Ausstellen von Sinnsuspension bleibt als „Aussparung“ und damit als „Deutungszwang virulent“.23 Die Regelhaftigkeit der Verfremdung – auch und gerade in der Lyrik Papenfuß-Goreks macht eine von Iser so benannte „Gegensinnigkeit“24 zur Erfahrung des Rezipienten. In diesem „Charakter einer kaum auflösbaren Paradoxie“25 bleibt sie „weder referentiell subsumierbar, noch letztlich darstellbar“, sondern wird „als Realität erfahrbar“26 gemacht. Auch Zoro in Skorne überführt den Text im steten Ausschlagen von Erwartungshaltungen einer Komik, die, wenn sie funktioniert wie die des absurden Theaters, „die Gegensinnigkeit […] in eine Erfahrung des Zuschauers“27 zu verwandeln in der Lage ist. Derart gelingt laut Iser der Literatur, den Mangel an Sinn als ontologische Qualität, ihn als „conditio humana“ auszuweisen und „Evidenzen eines verschütteten Lebens“28 zu liefern.
Die Literatur selbst liefert nur in dieser existentialistischen Färbung die u.a. von Mann betonten „Beiträge zum Identitätsaufbau“.29 Das Verschwinden von Sinn und Bedeutung lässt sich zwar kaum als emanzipative Autonomisierung verstehen, aber doch als hintersinnige Provokation. Intentional kann sie vor allem ein Nicht-Einverständnis kommunizieren. Die Literatur ist artistisches Rückzugsgefecht, Fluchtbewegung in eine gewisserweise absichtsvoll frustrierende Hermetik. Gesteht man einer solchen literarischen Selbstverortung symbolischen Wert zu, bleibt eine die pure Performanz betonende, von Melle so benannte „redewut“30 zu deuten, die sich ob des individuell-existentiellen Anliegens31 und in der Hochschätzung „alle[r] möglichen / -versionen“ jeder formalen und inhaltlichen Festlegung und Verständigung entzieht. Diese Literatur wird vergleichbar mit dem Dadaismus, den Sloterdijk als „Haßkultur“ herausstellt, in der mit großer Souveränität „Kunst als Sinngebungstechnik“ ausgeschaltet wird.32 Damit kann sie nur Reflexion eines unglücklichen Bewusstseins und Parodie von Freiheit sein. Eine „spezifische DDR-Bezüglichkeit“ äußert sich im Sprachspiel dann nur, bedenkt man wie Meyer-Gosau seine „Herkunft […] aus einer Welt der Wort-Orthodoxie und des Auslegungswesens, der fixierten Sprachregelungen und Losungen von oben herab“.33 Als „pathologisches (,schmutziges‘) Pendant“ pervertierter Offizial-Rhetorik erscheint auch Renate Lachmann die literarische „Verstümmelung“.34 Gerade wenn Meyer-Gosau schreibt, dass die Literatur einen „übermächtig erlebten […] Gegner“35 widerspiegelt, wird sie subtil zur Trotzreaktion stilisiert. Vor allem hier liegt das Skandalon der Literatur.

Die Kommunikation von Widersinn oder Die Kalamitäten einer zirkulären Öffentlichkeit
Die letzten Passagen von Zoro in Skorne sind deutlich melancholisch und skeptisch gestimmt: „Glück“ gilt als das „Traurigste“; die „freiwillige Isolation“ und die „Gleichgültigkeit und Kälte des Gegenübers“ werden festgehalten; und:

Das Wort Freiheit fällt mir meistens beim Pinkeln ein. (ZS, S. 24)

Sie sagen, dass auch das radikalste literarische Experiment „Freiheit“ nicht zeitigt:

Es ist nur ein blödsinniger Zwang, daß hier noch Filme gedreht werden und die Theater spielen. Das Zeitalter der Wortspiele wird bald vorbei sein.
Cohn-Bendit: eigentlich geht’s ums Vögeln. Was Himmel ist, sieht man am besten durchs Klofenster. Wichtig ist die Klarheit des Was und Wozu, über die Zwecke, und über die Nichtexistenz klarer Antworten. Unbehagen in der Kunst. Was wichtig und gut ist, passiert schon von selbst. Übereinstimmung stellt sich selber her. Alles in richtigen Augenblicken. Und eigentlich ist schon alles klar, bevor es losgeht. Und auch Sex wird letztendlich durch Worte gestört.36

Hier äußert sich bereits eine umfassende Skepsis gegenüber Literatur, die auch den eigenen Status eines Stachels ohne Fleisch wahrnimmt:

[M]an ist unkontrollierbar in Gedichten kann man radikal empfinden üben, aber auch das hilft niemand weiter, näher- / zukommen den wenjenigen, die ebenfalls unkontrolliert sind. (ZS, S. 21f.)

Wirksamkeit wird nur noch als „heilende Krankheit“ (ZS, S. 15) – mit der Assoziation von Ansteckung –, als infektuöser Kontiguitätsprozess gedacht. Literatur ist dann regellose Aneinanderreihung des Disparaten, unendlicher Redefluss in ebenso unbeschränkter Stimmenvielfalt. Wie bei Neumann wird in der Performanz eine poetische Praxis betont, die höchstens noch auf Entgrenzung abzielt. Bezogen auf Rezeption verfolgen alle Texte eine Idee von ,Demokratisierung‘, die der Inkommensurabilität, dem Verzicht auf Repräsentanz eine Würde des Lesers (vgl. EU, S. 243) zuweist. Literatur will „anderen Mut machen zu ihren Erfahrungen“.37 So sinnfällig das ist – eine Literatur für Leser war sie programmatisch nicht mehr. Im Selbstverständnis sind die Autoren dem Denken von Ersatz- und Gegenöffentlichkeit denkbar fern. Die erfahrbar gemachte Gegensinnigkeit mag auf die Störung manipulativer Öffentlichkeiten angelegt gewesen sein.38 Eine Ventilfunktion von Literatur haben die Autoren jedoch nicht im Sinn; es wird vielmehr gegen sie argumentiert. Denn wo die Literatur nur auf die zirkuläre Öffentlichkeit39 einer Subkultur trifft, scheint auch die Frustrierung unangemessen und unerwünscht, tönt sich die „freiwillige Isolation“ nun doch melancholisch. Zoro in Skorne reflektiert damit auch – ermöglicht durch die bescheidene, aber intime Öffentlichkeit, die sich die Literaten im inoffiziellen Arrangement erarbeiteten dass eine solche poetische Verweigerung in der geschlossenen Szene ins Leere läuft.
Dass „schon alles klar ist, bevor es losgeht“ und sich „Übereinstimmung“ selbst herstellt, verweist darauf, dass die zirkuläre Öffentlichkeit der inoffiziellen Szene die poetische Ausrichtung schier untergrub. Wenn Zoro in Skorne um jene von Anderson sinnfällig benannte „nichterfahrung“40 kreist, die sie als Beunruhigung weitertragen wollte, konnte das Szene-Arrangement dem Text nicht zuträglich sein. Papenfuß-Gorek verleiht dem im 1986 publizierten Text „depressionen auf der hatz“ deutlicher Ausdruck:

etliche aszendente karrieren
auch meine nimmt überschwank
vergeuden wir einander umsonst
die übereinkünfte ausgeblichen
überheblich & wie blei schwer
mit nescafe hoch, bier runter
koalitionskopulationskoinzidenz
reservier ich etwaigen ketten-
reaktionen wider die stagnation
bier auf milch, kotzt der knilch
die wohlbehausten erkrankten
haben es gut, sie wollen genesen
mit jeder zigarette wird der tag
länger, bedeutsamer, ekelhafter
gut dinge will lange weile haben
milde&sänfte von mir weichen
jugend, spitz & spratzigkeit
gramfülligen verpflichtungen
subalternen selbstverwirkzwanges
das heer der macken verwahrwest
verdurstete ein wüster leich
zimperlinge übelnahmen die macht
wich knöcherner trostlosigkeit
herausfordernde weichlichkeit
41

In der Szene gab es die inverse Variante der Beobachtung ebenso. Von anderer Warte aus wurde mit Kritik an den Texten und dem Leerlauf der Produktion im Grunde nichts anderes beschrieben, als dass die Poetologien in der zirkulären Öffentlichkeit ihr Anliegen verloren. 1987 sprach Faktor despektierlich nur noch von „Kunstgewerbe“.42 Beides beleuchtet nur aus zwei verschiedenen Blickwinkeln, dass das inoffizielle Arrangement die Texte erreicht hatte, ohne dass sie je klandestin oder kritisch ausgerichtet waren.
Politisch war die Literatur nur höchst mittelbar: Der Ausdruck wird als nur-individueller behandelt. Über die Frage, was Literatur kann und soll, macht man sich nun lustig. Vermittlung ist etwas für notorische Weltverbesserer, denen man Realitätsverweigerung attestiert.
Verstehbar ist das einerseits als Polemik gegen ein Literaturverständnis, das utopische Kompetenz noch kommuniziert. Andererseits verkehrt sich ein bekanntes Verhältnis von Realismus und Realität, von Literatur und Leben nur nachhaltiger. Schon bei Wolf wird angesichts einer apokalyptischen Welt Realismus denklogisch unmöglich: Für eine verschwindende Welt gibt es keine Worte; gerade Realismus gilt als fataler Illusionismus.
Die Ansprüche an das zu Sagende scheinen sich dabei so sehr zu relativieren wie hypostasieren zu wollen. Die literarische Rede wird stets in dem Maße wahr, wie sie nur unverstanden, virtuell, abwesend oder schließlich zugespitzt in Zoro in Skorne falsch ist. Auf diese Weise wird der gebrochene Illusionismus der Künste implizit als Anklage gegen eine Welt gewandt. Die „Wahrhaftigkeit“ des „Wörtlein“, der „Worte“ (VF, S. 14), einer „Sprachhandlung“ (EU, S. 27) liegt zunehmend jenseits einer Vermittelbarkeit. Die begrifflich mit einem „Schweigen“ gleichgesetzte Literatur bleibt ohne Ausrichtung, an sich unbestimmt und ohne Perspektive einer Auflösung und in diesem Sinn unübertroffen radikal.
Der individualisierte Ausdruck konnte dann bestenfalls prototytpisch auf die Freiheit der Person verweisen. Auch der Rezeption soll gewisserweise symbolisch nichts vorgeschrieben werden.

Dass die Literatur weniger zur engagierten Machtdestruktion sondern zur existentiellen Illusionierung taugte,43 ließ sie nicht einfach vom Geschichtsprozess überrollen,44 sondern hatte schon in der staatssicherheitlichen Observation seine Kehrseite. Für die Literatur des Prenzlauer Bergs wird das größere, bei Faktor schon früh zugestandene Skandalon die Duldung (und nicht die Eingriffe) bleiben.
Das inoffizielle Arrangement, das die Texte in ihrem Charakter des gewisserweise absolut Informellen umsetzen, war Selbstschutz; aber es war eben auch umfassender Versuch, den „Verpflichtungen zu einer Biographie durch die Diktatur“ (EU, S. 19) zu entkommen. Für die inoffizielle Szene deutete dann die Aufdeckung ihrer staatssicherheitlichen Verstrickung jedoch auf ein weitaus ambivalenteres Verhältnis zur Herrschaft hin. Das System setzte seine Herrschaft mit den zunehmend subtilen, d.h. wenig sichtbaren Formen der Kontrolle um. Die Sicherheitsorgane wussten diese Unabhängigkeitsbestrebungen der Szene, so beschreibt es Klein, „zu würdigen und auszunutzen“.45 Biermann konnte sie deswegen überspitzt als „Schrebergarten der Stasi“ und ihre Autoren als „Gartenzwerge mit Bleistift und Pinsel“46 bezeichnen. Man muss zumindest den Zusammenhang zwischen ausbleibender Eskalation und literarischem Leben in einer Subkultur begreifen, so perfide die verdeckte Arbeit der Staatssicherheit auch war und so wenig sie zum moralischen Vorwurf an die Autoren taugt.47 Der literarische Untergrund unterlag mindestens einer „repressive[n] Toleranz“.48
Die Duldung dieser bunten Szenen, die umfassend staatssicherheitlich observiert wurden, mag einerseits bereits als Ausweis einer Handlungsunfähigkeit des Systems verstanden werden. Aber sie blieb zunächst auch machtstabilisierende Strategie: Individuelle Handlungsräume, der individuell beeinflussbare Nahbereich tastete das Arkanum der SED-Herrschaft49 nicht an.

Weniger zugespitzt und jenseits der Stasi-Verstrickungen offenbart schon Zoro in Skorne ein „Unbehagen in der Kunst“ (ZS, S. 25). Das reflektiert nicht nur, dass die Poetologien ins Leere liefen, sondern auch, dass sie mit dem existentiellen Anliegen letztlich nicht harmonierten.
Wohlmeinende Interpreten lesen dennoch in der Literatur globaler Sinndestruktion eine verborgene oder versteckte Ausrichtung heraus.50 Die semantische Verfremdung wurde unmittelbar politisch interpretiert: als polemische Abstoßung zumeist von DDR-Literatur, als Kritik an Restriktivität und Provinzialismus des literarischen Feldes. Zugleich ist diese Literatur als symbolischer Versuch sukzessiver Grenz- und Kanonerweiterung verstanden worden.
In der retrospektiven Betrachtung zeigt man sich – wie Faktor – jedoch durchaus schockiert von der Emphatisierung leerer Worte, die nun als bereitwilliges Arrangement mit der Macht gedeutet wird. Faktor beschreibt nur überspitzt, dass man sich „der Macht anvertraute“.51 Schon mit dem „Unbehagen in der Kunst“ wird die Unmöglichkeit ausgesprochen, machtpolitischen Kalkülen wirksam zu entgehen.
Am Ende wird die Diskrepanz zwischen einer existentiellen und literarischen Autonomie als bleibende verhandelt. Bloße Illusion wollten die Texte nicht sein, gerade weil sie existentiell in die Pflicht genommen werden. Der Schwerpunkt in der poetologischen Selbstverortung und in der literarischen Praxis verlagert sich gerade deswegen radikal auf eine performative Dimension, die zugleich offensiver in einer an den Dadaismus erinnernden Antisemantik die Diskrepanz zu Bezeichnung und Vermittlung sucht. In der reflexiven Selbstvergewisserung werden alle Dimensionen künstlerischer Letztgültigkeit ausgemustert. Diversität und Dilettantenkultur begründen sich in Zoro in Skorne mehrdimensional. Dieser literarische Antikonformismus ist mit der „Selbstverwirklichung“ (ZS, S. 19) jedoch überfordert, weil was solcherart „autonom“ und grenzenlos erscheint, nur illusionistisch über die tatsächlichen Verhältnisse hinwegzutrösten vermochte. Und vielleicht wusste es Sascha Anderson am besten, dass dadurch „diktatur und pluralismus, ineinander verkrampft, tragödische Zwillinge“52 waren.

Die Literatur ist bewusst politisch abstinent. Die poetischen Minusverfahren reflektieren zwar nolens volens den von Meyer-Gosau benannten „übermächtig erlebten […] Gegner“ äußerst abgründig, aber kaum mit ausgesprochener und explizierter Kritik. Die Szenen blieben ebenso unmittelbar politisch einflusslos wie sie sich bis zum Ende der DDR – dadurch – stetig auswuchsen und vergrößerten. Das Auswachsen der Szenen dann, das quasi erkauft war um den Preis ausbleibender Politisierung, hatte nicht zu unterschätzende Effekte. Es wäre im Anschluss an Klein von einer intentional sich abschottenden, ghettoisierten Gegenöffentlichkeit zu sprechen.53 Ein genuiner Ersatz von Öffentlichkeit war sie nicht. So tollkühn die Unterfangen waren, war die Restriktion der Öffentlichkeit, wie Klein ausführt, im Sinne des kultivierten Primats der geistigen Unabhängigkeit notwendigerweise mit angelegt.54 Das ist so sehr gemeinsame Schnittmenge mit den Protestgruppen und einer breiten Bevölkerung, wie es eine Abschottung begründete, Befremdung heraufbeschwor, wenn nicht gar intentional herbeiführte.55
Diese ghettoisierte Gegenöffentlichkeit vermochte aber die Grenzen der staatlichen Kontroll- und Disziplinierungskapazitäten vorzuführen und auszunutzen. Das System konnte (wollte) diese subversiven Potenzen nicht neutralisieren. Die Herrschaft und Kontrolle der Öffentlichkeit war damit empfindlich eingeschränkt.56 Jedes informelle Arrangement bedeutet, so hat es Kocka beschrieben, dass „Funktionsdefizite der offiziellen Struktur“57 sichtbar gemacht wurden; nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Politische Bedeutsamkeit ergibt sich dann mittelbar: „Die mangelnde Responsibilität der SED-Politik führte diese direkt in den Untergang“,58 hielt etwa Pollack fest. Nimmt man wie auch Sabrow an, dass die mangelnde Responsibilität des Systems ein Grund dafür war, dass sich die Erosion von Legitimation und Ordnung ungestört fortsetzen konnte,59 liegt eine zeithistorische Aussagekraft eher in der Radikalität einer etwa die Pseudologie feiernden – d.h. einer in Programmatik und Praxis unpolitischen – Literatur.

Susanne Liermann: Der Vermehrung des Schweigens. Selbstbilder später DDR-Literatur. Plöttner Verlag, 2012

Sascha Andersons letzter Freund

– Bert Papenfuß-Gorek, Dichter vom Prenzlauer Berg, zu Sascha Anderson, Rainer Schedlinski und der „Ortsbestimmung“ von Literatur zwischen zwischen Häresie und Staatssicherheit. –

Ute Scheub / Bascha Mika: Hat sich Ihr Verhältnis zu Sascha Anderson und Rainer Schedlinski geändert, seit deren Tätigkeit als Informelle Mitarbeiter der Stasi ruchbar wurde?

Bert Papenfuß-Gorek: Ich kenne Sascha seit 1977, und seit dieser Zeit gab es das Gerücht, daß er für die Stasi arbeitet. Wenn ich auf all die Verdächtigungen, die ich im Laufe der Zeit gehört habe, Rücksicht genommen hätte, dann hätte ich kaum ein Vertrauensverhältnis zu irgendwem aufbauen können. Mit Sascha ist ganz organisch eine Freundschaft entstanden, aus der später eine Zusammenarbeit wurde. Für mich hat sich dieser damalige Stasiverdacht in keiner Weise erhärtet. Naja, Freundschaft funktioniert so ähnlich wie Liebe, und man liebt immer die Katze im Sack. Wenn ich eine Liebesbeziehung zu einer Frau habe und später erfahre, daß sie mich betrogen hat, dann liebe ich sie deswegen nicht weniger. Und dann ist es ja überhaupt eine Strategie, nicht nur der Stasi, sondern aller Geheimdienste, aus ihren Leuten nicht nur die reinen Täter zu machen. Die Leute müssen spüren, daß sie auch Opfer sind. Oft ist es nicht klar klassifizierbar, ob jemand Täter oder Opfer ist. Mir fällt dazu das Wort „Tolerangst“ ein. Ich komme aus Norddeutschland, gewinne nicht sehr leicht Freundschaft und bin es nicht gewöhnt, mit Freundschaften rumzuaasen, auch wenn sie sich im Lauf des Lebens verkomplizieren.

Scheub / Mika: Sie sprechen vom „Fremdgehen“. Aber bei Anderson dauerte die „Affäre“ mit der Stasi fünfzehn Jahre, – das ist doch schon eine gefestigte Ehe.

Papenfuß: Meiner Meinung nach reden wir immer noch über Hypothesen. Es gibt nur Indizien über Saschas IM-Tätigkeit. Bei Schedlinski liegt der Fall anders, der hat gestanden. Sascha laviert immer noch. Und solange mir nicht klar ist, was er wirklich getan hat, rede ich nicht von Beweisen. Den Stasiakten traue ich nicht. Geheimdienste existieren, um Fakten zu fälschen und Menschen zu manipulieren. Ich frage auch: Wem nützt diese ganze Anti-Stasi-Kampagne im Moment? Der CDU, die nun Deutschland und ganz Europa bis zum Ural regiert.

Scheub / Mika: Eine exorbitante Übertreibung.

Papenfuß: Das bewirkt doch nichts. Haben die Leute je aus der Aufarbeitung der Geschichte gelernt? Das ist eine unfreiwillige Wahlkampagne für die CDU.

Scheub / Mika: Sie lenken gnadenlos vom Thema ab. Die CDU war die erste, die die Öffnung der Stasiakten verhindern wollte. Sollen die ganzen Stasi-Mitarbeiter also lustig weiterleben, als ob nichts gewesen wäre.

Papenfuß: Das meine ich nicht. Aber so, wie es im Moment gemacht wird, sollen 17 Millionen DDR-Bürger sagen: Wir waren dabei.

Scheub / Mika: Genau das Gegenteil passiert, seit die Gauck-Behörde ihre Tore geöffnet hat. Jetzt endlich können Täter und Opfer wieder getrennt genannt werden. Aber zurück zu der Metapher mit der Liebesaffäre: Da hat sich nicht nur jemand in ein anderes Bett gelegt, sondern auch Sie und andere versucht, mit Dreck zu bewerfen, zu zermürben und zu „zersetzen“.

Papenfuß: Auf diese Frage will ich nicht antworten.

Scheub / Mika: Warum nicht?

Papenfuß: Das ist mir zu intim. Und außerdem stinken mir diese Metaphern von „Dreck“. Das höre ich jetzt überall: Wir müssen jetzt reinen Tisch machen, das stinkt doch alles. Die Leute projizieren doch nur ihren eigenen Selbsthaß auf die Stasigeschichte. Mit diesem Selbsthaß habe ich nichts zu tun, tut mir leid, interessiert mich nicht.

Scheub / Mika: Und wenn nun auch Ihnen bewiesen würde, daß Sascha Anderson vielen Leuten geschadet hat, was ist dann mit der Freundschaft?

Papenfuß: Ich glaube, ich würde versuchen, mich nicht zu distanzieren, sondern einen Teil Verantwortung zu übernehmen.

Scheub / Mika: Wären Sie nicht stinkwütend?

Papenfuß: Tut mir leid, dieses Gefühl lasse ich nicht hochkommen. Denn dann wäre ich in schlechter Gesellschaft. Von Wolf Biermann bis sonstwo, dafür habe ich keine Zeit.

Scheub / Mika: Was muß passieren, damit Sie glauben, daß Anderson spitzelte?

Papenfuß: Das Beste wäre, wenn Sascha mir was erzählen würde. Ich habe bisher noch keine Stasiakten gesehen. Wir, einige Leute aus seinem Freundeskreis, haben das jetzt gemeinsam beantragt. Aber ich weiß nicht, ob ich Stasiakten glauben kann.

Scheub / Mika: Es liegen Berichte unter den IM-Decknamen Andersons vor, aus denen hervorgeht, daß er zu der Verhaftung Roland Jahns und Rüdiger Rosenthals beigetragen hat.

Papenfuß: Das sind für mich Indizien, die zu Fakten aufgebauscht werden. Ich habe das jetzt alles aus den Medien, die existieren, um zu lügen, oder umgekehrt. Ich brauch jetzt noch ein Bier, und zwar vom Hahn.

Scheub / Mika: Sie tun, als gäbe es keine Opfer.

Papenfuß: Das ist doch normal, in jedem Staat der Welt. Wenn du was von einer bestimmten sozialen Relevanz veranstaltest, gibt’s eins auf die Mütz’. Auch für nur scheinbare Relevanz. Und manche Leute fanden es so toll, daß sie von der Stasi verfolgt wurden.

Scheub / Mika: Sie reden wie ein Täter.

Papenfuß: Das kann ich auch gut tun. Ich habe eine der saubersten Westen, die man im Prenzlauer Berg haben kann. Deswegen kann ich fast jede Position einnehmen.

Scheub / Mika: Sie beantworten die Frage nicht: Warum reden Sie wie ein Täter?

Papenfuß: Und warum reden Sie wie ein Vernehmer? Seit 15 Jahren muß ich mir Gedanken machen, wie ich meine Miete bezahle. Ich wurde von der Stasi observiert, verhaftet, zusammengeschlagen. Und von den Westbullen ebenso. Ich könnte einige Geschichten erzählen, aber das ist mir in der jetzigen Situation zu albern.

Scheub / Mika: Das ist kein Konkurrenzwettbewerb um das schönste Opfer. Müssen wir uns wirklich darum streiten, daß die Stasi ein widerwärtiger Verein war?

Papenfuß: Natürlich war sie das. Aber ich frage mich: Wem nutzt es, das jetzt zu sagen?

Scheub / Mika: Den Leuten, die sich ihre Vergangenheit wieder aneignen wollen. Oder verdrängen wollen. Warum verteidigen Sie Anderson bis zum letzten Blutstropfen? Das kommt mir vor wie ein Western, wo zwei Freunde jahrelang gemeinsam durch die Wüste reiten. Einer entpuppt sich dann als Verräter. Diese Männergeschichte könnte so enden, daß der andre ihn zwar im Showdown niederknallt, ihm aber noch zuflüstert: Du warst mein einziger Freund.

Papenfuß: Meine Defensive hat nichts mit einer Männerfreundschaft zu tun.

Scheub / Mika: Sind Sie sein letzter Freund?

Papenfuß: Sieht so aus. Allein das ist Grund genug. Ich mache immer die Sachen, die andere nicht machen.

Scheub / Mika: Und was halten Sie von dem Vorwurf, auf dem Prenzlberg sei nur Stasiliteratur geschrieben worden?

Papenfuß: Völliger Quatsch, das ist vielschichtiger. Saschas Texte sind ein bißchen eskapistisch, ideenflüchtig. Stefan Döring ist prinzipiell zurückhaltend und enorm skeptisch. Ich teile diese Skepsis auch, bin aber gleichzeitig viel engagierter. Ich falle immer wieder auf Engagement rein, das entsteht in jeder Situation neu. Meine Texte sind im Vergleich zu Saschas und Stefans enorm politisch. Was war nochmal die Frage?

Scheub / Mika: Ob das Stasiliteratur war. Auch angesichts der Aussage Schedlinskis, daß die Stasi die Untergrundzeitschrift schaden pro Heft mit 300 Mark bezahlt hat.

Papenfuß: Das Geld war wahrscheinlich eine Belohnung, daß sie ihn druckfrisch bekommen hat.

Scheub / Mika: Schedlinski sagte: Ich wollte bei der Stasi vermitteln.

Papenfuß: Gewäsch.

Scheub / Mika: Hat die Stasi den schaden mitfinanziert, um damit Schaden begrenzen zu können? Um Euch an der langen Leine zu halten?

Papenfuß: Unser Leben im Prenzlauer Berg war ein Versuch der Selbstbestimmung. Ich habe nicht das Gefühl, das es gesteuert wurde. Aber es war kriminalisierbar. Jeder, Sascha oder Schedlinski oder ich, konnte eingeknastet werden, wegen „Asozialität“ und tausend Sachen. Aber das wurde dann irgendwann nicht mehr praktiziert. Die Gesetze hatten keine soziale Relevanz mehr. Sie wären vielleicht noch angewandt worden, wenn unsere Aktivitäten eine radikalere Richtung genommen hätten. Die einzigen, die damals militant gegen die Staatsmacht vorgegangen sind, das waren die Punks. Gegen die wurden die Gesetze noch angewandt. .

Scheub / Mika: Was halten Sie von Rathenows Ausdruck „Ästhetik des Verrats“?

Papenfuß: Klingt plausibel. Ich glaube an nix. Negativ ausgedrückt, könnte man das schon so bezeichnen.

Scheub / Mika: Er bezieht das auf die Prenzlberg-Dichtung.

Papenfuß: Ich beziehe das auf mich. Meine Grundhaltung ist, sich auf nichts einzulassen und niemandem übermäßig zu trauen. Ich glaube an keine Ideologie. Man könnte Beispiele meines extremen politischen und sozialen Engagements bringen, aber auch Beispiele für das Gegenteil.

Scheub / Mika: Rathenow redet von einem „hinreichend verkümmerten Wahrnehmungsvermögen gegenüber politischen Realitäten“ im Prenzlberg, die es der Stasi ermlöglicht hätten, auf die üblichen Wächter zu verzichten.

Papenfuß: Ja, das ist richtig. Ich stehe früh auf und muß mir Gedanken darüber machen, woher ich die nächsten fünf Mark bekomme. Ich bin stundenlang im Berg rumgelaufen und habe versucht, Geld für Kondome aufzutreiben. Das ist allein schon ein materieller Grund für verkümmertes Wahrnehmungsvermögen.

Scheub / Mika: Auf dem freiesten Platz der DDR existierte damals das dichteste Spitzelnetz. Das zeigt allein die Anzahl der konspirativen Wohnungen.

Papenfuß: Zwangsläufig muß es in dem Raum, in dem die Opposition ghettoisiert ist, auch die größte Überwachung geben.

Scheub / Mika: Das heißt, es gibt kein Entrinnen. Sie waren zwangsläufig ein Staatsdichter.

Papenfuß: Ich kranke immer noch an der Illusion, daß meine Texte für keine wie auch immer geartete Staatsideologie brauchbar sind. Sie waren benutzbar für die Medien. Die konnten sagen, da gibt es eine literarische oder kulturpolitische Opposition. Was ich mache, und da kann ich auch für ein paar andere Leute sprechen, steht in der häretischen Tradition. Die kann man vielleicht erst sehr viel später literarisch integrieren, politisch wird man die nie integrieren können.

Scheub / Mika: Der Markt integriert alles.

Papenfuß: Ich kann über den Markt nicht klagen. Ich hab bisher noch kein Geld verdient und habe heute dasselbe Problem wie vor 15 Jahren: Wie bezahle ich meine Miete?

Scheub / Mika: Haben Sie immer mit dem Hintergedanken gedichtet, bloß nicht so zu schreiben, daß Sie ideologisch vereinnahmt werden können?

Papenfuß: 1977 hab ich die ersten Texte veröffentlicht, die ersten Lesungen gemacht und wurde sofort verboten. Dann hat sich ein anderes Kommunikationssystem entwickelt. Ich habe weder von diesem Staat noch von dem untergegangenen je ein Stipendium oder einen Preis erhalten, außer vielleicht meinen Untergrund-Untergangspreis, den F.C.-Weiskopf-Preis, den mir die Akademie der Künste der Ex-DDR 1991 verlieh. Unsere Lesungen hatten einen viel größeren Zulauf und auch eine größere Relevanz. Sie wurden auch benutzt als Freiraum für politische Meinungsäußerungen. Die Leute fingen an, sich zu solidarisieren, auch gemeinsam zu arbeiten. Aber damals war überhaupt keine Zeit, sich ästhetisch oder stilistisch auseinanderzusetzen. Die Leute, die heute als Prenzlauer Berg bezeichnet werden, und die Leute, die heute zu den engagierten Bürgerrechtlern gezählt werden, sind auch literarisch sehr unterschiedlich. Rathenow und andere stehen traditionell im Rahmen dessen, was man Hochkultur nennt. Wir stehen in einer Tradition der häretischen Kultur. Es hätte normalerweise zwischen uns eine ästhetische Auseinandersetzung geben müssen. Die gab’s nicht, weil wir uns quasi synthetisch solidarisiert haben.

Scheub / Mika: Es geht also um eine verschleppte Literaturdebatte?

Papenfuß: Ja, das ist ein Aspekt, aber ein ziemlich entscheidender. Viel davon wird über die Stasidebatte ausgetragen. Aber man muß dem „verlogenen“ Prenzlauer Berg zugute halten, daß Stefan Döring, Sascha und ich 1984 die Zersammlung initiiert haben, die ein Podium sein sollte, um über ästhetische und politische Fragen zu diskutieren. Es ging damals darum: Gründen wir einen unabhängigen oder Anti-Schriftstellerverband oder nicht. Und führen wir diese Diskussionen oder nicht. Wenn ich heute daran denke, kommen mir die Hochkulturellen vor wie wohletablierte Leute die mal wissen wollten, was denn so im richtigen Untergrund passiert.

Scheub / Mika: Also ein Kampf zwischen bourgeoiser Kultur und Untergrund?

Papenfuß: Ich denke schon, daß das ’ne Rolle spielt. Die Leute um Rathenow waren auch irgendwie situiert in der DDR. Die kamen zurecht, hatten Geld und gute Beziehungen zu Westverlagen usw. Während die andere Seite Subkultur personifizierte und das zum Teil bis heute noch tut.

Scheub / Mika: Stimmt es, daß ohne Andersons und Schedlinskis Verbindungen nichts vom Prenzlberg veröffentlicht worden wäre?

Papenfuß: Sascha war dafür ein Sammelpunkt und Lutz Rathenow der andere. Beide haben sich dafür angeboten. Man mußte ein bißchen materiell abgesichert sein, eine feste Wohnung und Telefon haben.

Scheub / Mika: Schirrmacher von der Faz schreibt: Mit eurer unpolitischen Haltung auf dem Prenzlberg wart ihr eine größere Gefahr für den Staat als die politisch eindeutigen Antagonisten.

Papenfuß: Die Leute waren sehr unterschiedlich. Es gab einige, die irgendwann mal an diesen Staat geglaubt haben. Das war bei mir nicht so. Mein Vater war General, und es war für mich sehr einfach, eine radikale Auseinandersetzung mit ihm und dadurch auch mit diesem Staat zu führen. Als ich mit 18 den Waffendienst verweigert habe, gab’s den Bruch mit ihm. Ich war schon mit 15 soweit politisiert, daß ich Probleme hatte. Mit 16 bin ich als Pazifist von der Schule geflogen. Schon aus diesen Gründen war mein kulturpolitischer Ansatz zur Auseinandersetzung mit der DDR total politisch.

Scheub / Mika: Würden Sie immer noch behaupten, die Literatur vom Prenzlberg war subversiv?

Papenfuß: Ja, soweit es mich betrifft. Stefan Döring würde diesen Begriff nie verwenden. Er sieht sich als Dichter und Nachdichter. Jan Faktor würde lange Diskussionen anfangen, was subversiv ist und was nicht. Sascha würde wahrscheinlich sagen, daß er nie subversive Literatur gemacht hat, sondern reine Dichtung. Und Lutz Rathenow, daß er subversiv war, weil er mit der politischen Opposition zusammengearbeitet hat.

Scheub / Mika: Jan Faktor meint auch, daß man die Prenzlberg-Literatur jetzt neu interpretieren muß.

Scheub / Mika: Das braucht man nicht zu fordern, das passiert ohnehin. Alles ist unter Kontrolle. Früher waren wir kriminalisiert, heute sind wir kontrolliert, aber immer noch relativ unkontrollierbar.

die tageszeitung, 29.1.1992

ICH GEHE AUF FUEHLUNG AN DEN FUSSOHLEN…

– eine kritische reaktion auf gedichte von flanzendoerfer, wilke, zieger & jansen. –

UDO WILKE

– das alles ist verflucht
ich geh und find
aaaaakein ende ruft zurück
dein kleid in unsere helle
schwärt schwarz schwarz
ist alles ringsumher

 

JOHANNES JANSEN

Rückwärts und schwarz ist der Anfang
I.
In kalten Zügen
Durchs Land
Rückwärts und schwarz
Gegen Abend
Nachts
Unterm Pflaster
Das Meer
Hören
Das Gras
Hören
Die geschlossene Hand

 

ULRICH ZIEGER


der gestank der anfang ist bekannt
die uralte geschichte eingehüllt in den verlausten mantel
in den filz der nacht
am schwarzen fluß erwach ich

stunden nicht mehr warm geworden

… stunden nicht mehr warm geworden; & obwohl jansens schwarz durchaus als das gegenstueck zum schwarz der anderen zu verstehen ist, markieren diese bruchstuecke dreier gedichte eine gemeinsamkeit; nach der gemeinsamkeit im wirklichkeitsempfinden habe ich gesucht. mit der poetischen reflektion ihrer wirklichkeit gehen die autoren jedoch verschieden weit & sie gehen verschiedene wege ( so weit so gut stimmt aber auch nicht, denn abgesehen von einem annaehernd gleichen grad handwerklicher fertigkeit gehen sie mit einem unterschiedlichem mass aufrichtigkeit um). johannes jansen, ulrich zieger, udo wilke & frank lanzendoerfer sind autoren zwischen neunzehn & dreiundzwanzig. wilke lebt in halle, die anderen in berlin.
vielleicht waere es angebracht in diesem zusammenhang aufzulisten, wie oft in den von mir gelesenen gedichten der einzelnen autoren gekotzt wird. da wird viel gekotzt, aber auch viel gesoffen; gefickt wird mehr gut als schlecht, weitaus seltener gut sind die traeume, geilheit offerieren alle vier, von gift ist die rede & immer wieder von farben, von witwern & weisen (was mir hier im allgemeinen das selbe zu sein scheint), von konzentrationslagern, von gott als dimension oder black boks jedoch kaum als instanz & als eine christliche schon garnicht. bei wilke & zieger sehe ich keinen vorrat, aber auch keinerlei ballast an illusionen, sich in das komplekse etwas, wofuer hierzulande flaechendeckend der terminus gesellschaft okkupiert wird, ohne identitaetsverlust wesentlich einbringen zu koennen; flanzendoerfer mag mit dieser problematik zunaechst nur kokettieren, waehrend jansen es vorzieht sie zu ignorieren; wahrscheinlich sieht er sich einer solchen begegnung auch nicht gewachsen. das enorme defizit an moeglichkeiten, das defizit an anteilnahme ueberhaupt, verstehe ich hier als eine der massgeblichen ursachen fuer poetische betaetigung (fuer zieger ist das gedicht zuweilen nichts weiter als der notwendige abstellraum fuer jedes zuviel; auch ein zu wenig kann zuviel werden), keinesfalls aber als den anlass fuer irgendein gedicht. die gesamtheit der mir vorliegenden tekste vermag eine solche hypothese nicht zu widerlegen. in wilkes & ziegers gedichten, aber auch in denen von jansen, artikuliert sich permanent ein beduerfnis nach intensitaet (letztendlich artikuliert es sich in den arbeiten aller dieser vier autoren; jedem von ihnen ist liebe wichtig, auch wenn flanzendoerfer den ihr seinerseits beigemessenen stellenwert mit aufgesetzter rotzigkeit kaschiert & jansen offenbar primaer um das geliebtsein bemueht ist), aber bereits im poetischen verfahren kommen die autoren diesem beduerfnis mit einem jeweils verschieden hohen anteil an ernsthaftigkeit nach.

JOHANNES JANSEN tummelt sich auf bunt ausgeschilderten allgemeinplaetzen; hier schlendert er, schleicht & stolpert. hierher projeziert er die problematik seiner, weitestgehend gemaessigten, abenteuer. auch wenn jansen mittels maessigung pragmatisch orientierten normen seiner umwelt naeher steht, oder auch nur gerechter wird als die anderen drei autoren, liefert der alltag noch nicht in ausreichendem masse den (volker braun) stoff zum leben. den erschreibt jansen (wilke arbeitet aehnlich, flanzendoerfer erwaehne ich in diesem zusammenhang mit einiger skepsis); hierbei ist seine technik weder subtil noch brisant, die langatmig bewegte problematik jedoch durchaus diffizil. selten werden die strukturen konturiert, zeichnen sich aber konturen ab, dann funktioniert ein mechanismus, der aus dem aufgeschuetteten tekstapparat heraus reagiert, & der laesst vergessen. immer wieder aufschuettungen von wort & bildmaterial, wobei jansen weniger kritisch seine entdeckungen & erfindungen in jeweils anderen konstellationen bis zur erschoepfung offeriert; dabei verregnen die metafern, zerschwimmen die sentenzen & die strukturen weichen bis zur unkenntlichkeit auf. mit bedauern lese ich oft einen tarkowski ohne feste bestandteile. ich kann mich des eindrucks nicht erwehren, dass hier die argumentation einer haltung augenfaellig ist. jansens auseinandersetzungen stehen keine grossen geschuetze, was auch nicht jedermanns sache ist. aber diese pathetisch drapierte quichotterie & und dann noch der umgang mit einem florett von gummi …; das tut niemandem weh & verhilft doch genauso wenig zu einem schmunzeln. jansen konstatiert zuweilen praegnant: … Das Meer hörst/Und das Maul hältst…, oder: … Man sollte nur auf die Zukunft warten/Und er wartet auf die Zukunft/Und ist nicht böse… das resultat genauer beobachtungen, auch solcher an sich selbst, veranlasst den autor eine bueropausenweisheit zu notieren: Ganz ohne ein Zutun geht es nunmal nicht..ich bin peinlich beruehrt. schreibt jansen: Von Scherbe zu Scherbe/Komme ich weiter/Ohne einen Zusammenhang Zu erkennen …, so empfinde ich in diesem zusammenhang das adverb weiter als anmassung. heisst es in den zeilen davor: Die scharfen verstaubten Kanten/Der zerschlagenen Glasscheibe… so ist dies ein ganz selten krasses moment eines vierzig seiten umfassenden manuskriptes. & obwohl jansen das meer hoert, bleibt er dabei ebenen & horizonte zu dekorieren; aufschuettung fuer aufschuettung. mir misfaellt der versuch unzureichende zustaende, nicht erscheinungen, mit requisiten auszustatten, die diese ertraeglich erscheinen lassen. wenn einer von zusammenhaengen weiss, sich aber in keinen wirklichen klaerungsprozess bemueht, diese zu begreifen, wird er sich dem vorwurf des opportunismus schwer entziehen koennen. waehrend die wesentlich kreativen momente bei jansen aus dem erschreiben resultieren, beschreibt ULRICH ZIEGER weitaus mehr.
als erstes von ziegers gedichten habe ich figur eines rückfalls gelesen: … zwei gehirne im schädel/zwei herzen wie vögel… der ungeschliffene zusammenklang pegelte meine erwarungshaltung ein. aber diese rabiate konsonanz setzt sich in einem singsang ab; keine dissonanzen mehr, wenn man den stoff gefressen hat. zieger kanalisiert seine schreibwut in einen strapazioesen singsang. & diesem banalen formzwang wird er durchgehend & ohne bedenken gerecht. das wesentliche befreit sich ebenso wenig vom aufwand wie bei jansen, vor allem nicht von dem an attributen. jedoch ist die ursache hierfuer bei beiden nicht ueberall die selbe; schreibwut registriere ich bei jansen nicht, eher den hang zur unaufhoerlichkeit, auch nicht diese potentielle energie eines staus, diese motivierte aggressivitaet, diese plebejische wut & diese geilheit die sich platz macht; alles was weitestgehend als begehren verstanden werden kann geht mit dem papier ab. ich bemerke dass bei zieger so vieles hinter den spalten eines lattenzauns geht & eigentlich gehoert er auf die andere seite (sollte es die fuer uns geben); ziegers wir kommt nicht von ungefaehr. & wird hier ein gettosyndrom transparent, so kann das fuer den autor ein problem sein, selbstverstaendlich ist es nicht, dann wuerde das problem als status quo kultiviert. ziegers herumschlagen mit ueberkommenen werten & kategorien veranlasst ihn aber nicht das mit der althergebrachten wertung belegte vokabular (… wenn einer seinen brei in deinen wodka kotzt …, … die schmarotzer nah der wunde wo …, … und manchen winter seht uns den kantinenfraß erbrechen …, … da teiben kadaver im schaumigen fallrohr …, die im speichel wuchsen armseeliger dörfer …, und so weiter), welches ihm bisher vorgeschrieben worden ist, ad absurdum zu fuehren oder anders zu nutzen; zieger bleibt dabei es sich gefallen zu lassen, obwohl es ihm garnicht gefallen darf (ich glaube dem autor keine masochistischen ambitionen). & nicht allein das; auch dem beherrschten singsang wird tribut erbracht, in form der fuer den ausverkauf verbilligten woerter (auf, ost, heut, gebirg, hintüber, auglicht, … und das ich nie verstehen werd). so weit so laestig. ziegers handhabe wenig origineller klischees ermoeglicht betroffenen gemuetern eine bequeme, oberflaechliche, kurzlebige identifizierung mit autor & tekst; in der poesie halte ich identifizierungsmoeglichkeiten ohnehin fuer bauernfaengerei, so simple aber fuer schweinereien. zieger besorgt die empoerung stellvertretend (kundendienst) & seine betonierte werteskala simplifiziert die anzeige auf gut & schlecht, obwohl sich daneben alles ueberschlaegt:


und herabstürzt entwürdigt
/in den freien selbstgesprächen
mit dem wind von süden unterbrochen
/vor dem küchenfenster
liegt die drossel in meiner stimme
/kreischend schwankend fast
erschlagen kam sie aus dem regen meine stirn ist
angeschwollen meerbreit
meine rückkehr zu den meeren
und der tag schießt sich ein

elke erb sprach vom meer als indikator fuer das ausmass der sehnsucht unserer (der juengeren autoren) generation; ulrich zieger veranlasst das zumindest den status quo der sprache zu verlassen (meerbreit ist eine ganz eigene bedingung). zieger, der oft haarscharf am schwulst vorbeimanoevriert, was den teksten brisanz gibt, kriegt, auf grund seines kotaus vor den totalen forderungen eines abgestandenen formgefuehls, manchmal nicht mehr rechtzeitig die kurve (… in faulige tropfen des morgens gewebt …). weiss gott was ihn veranlasst diese zwangslaeufigkeit zu respektieren, wobei sicherlich noch eine gehoerige portion unaufmerksamkeit & die bereits bei jansen diagnostizierte wenig kritische arbeit am tekst sich dazu gesellen. ziegers inflation des aufwands erinnert mich zuweilen ungut an die leidlich beklatschte manie tuebkescher musealbombastik. ich glaube einem autor, die kraftekserzizien wie sie zieger nachzuweisen sind, nicht den ballast der ohnmacht, welchen zieger mit sich (wofuer nur) herumschleppt. lyrik ist praedestiniert dafuer negativprobleme abzuarbeiten; ich nehme aber vor allem diesem autor eine solche praksis in der totalen nicht ab; das ist mir zu einfach. die suggestivwirkung seiner tekste, die produktive, kommt eher zufaellig als bewusst zum tragen. zieger weiss zu viel (ohne dem enormen erfahrungspoetential waere ihm die art beschreiben nicht moeglich), sich mit wirklich gutem gewissem immer wieder ohnmaechtig wiederzufinden. wenn die anderen autoren erschreiben, resultiert das im wesentlichen aus dem erfahrungsdefizit, welches unter anderem auch dem beduerfnis nach intensitaet tagaus tagein keine bruecke baut. zieger waere, mit dem rueckhalt wirklichkeit den er hat, praedestiniert wesentliches zu erschreiben. ziegers empfindsamkeit gegenueber moeglichkeiten reibt sich am erwaehnten bretterzaun & die bunte bitterkeit ist das resultat der eksistenz der anderen seite. aber der tekst, ist er zentral abstellraum, bleibt hinter seinen moeglichkeiten zurueck. zurueck zur sprache, oder besser, zum kompleksen tekst (ziegers pfennigsweisheit kotzt mich an & ich wuenschte dass der groschen faellt):

ZUR SITUATION

nur soviel noch
die letzten wochen hatte ich ein nervenfieber
mein gehirn war eine aufgeblühte rote wunde
wo ich fortging ließ ich ungezählte leere flaschen liegen
meine nächte waren kurz
und so blieb kaum ein bild auf meinem herzen in der schwebe
eh es zu den anderen zerbrochenen hinunterfiel

so weit bin ich
und weiter bin ich nicht gekommen

… abgesehen von einer punktuell durchaus angebrachten kritischen argumentation gegen bestandteile des tekstes, ist er dennoch einer der fuer mich klaren & kommentiert ziegers handicap an sich konkret. mir liegt es fern haltungsnoten zu verteilen; ziegers & wilkes gangart zu ermitteln, taugt aber eine profane gegenueberstellung von aussagen.


die angst duckt sich
zum sprung und dann
fang ich wieder von
vorne an

den gedichten von UDO WILKE auszuege zu entnehmen, an hand derer analytische arbeit betrieben werden koennte, bereitet mir schwierigkeiten. wilkes tekste sind in sich geschlossen & funktionieren im wesentlichen kompleks. wilkes denk & tekstimmanente strukturen sind durchschaubar. formale unzulaenglichkeiten sind darum auch sehr augenfaellig. die dominanz der traditionellen inhaltlichen aussage steht wilkes tekststruktur oft im wege. bewaeltigt der autor die auftretenden komplikationen nicht, buesst der komplekse tekst enorm an qualitaet ein. so erliegt der autor zuweilen der unglaublichen faszination etablierter arroganz & dummheit (… keine schwulen sauen/und kein intellektueller eierkopp/hier spricht deutschland …), die er als klischees mit einer anderen motivation als zieger benutzt & hierfuer leistet weniger traurigkeit als wut den vorschub (ich bemerke auch weniger wunden als verletzungen); eine wut die wilke auch zu ungewollten plattetueden (… sei ein mann in dieser/feministischen/welt/bella marie …, … Jaah … jaah ach Scheiße …) & staksigen lyrismen (… martinidiffuse leutseeligkeit …, … in dem vakuumbereichen der verfuehrten fratzen …) veranlasst. wilke laesst sich im spektrum noch vom banalsten animieren, wirklichkeit erfahren zu wollen. seinem intensitaetsbeduerfnis ist der moment dienlich, dem er vielleicht schon morgen ueber ist. ich nehme an, dass sich hier die oede der provinz, im kontrast zur relativen turbulenz einer stadt wie berlin, kreativ bemerkbar macht; wilke erschreibt, obwohl die gedichte erst sekundaer gewerberaeume, primaer aber noch abstellraeume sind. wilke suggeriert die hoffnung, je lauter um so nachhaltiger, mit vulgarismen atktivistisch provozieren zu koennen, was aber mehr zur nachsicht denn zur aufmerksamkeit bewegt. in ihrem plebejischen selbstverstaendnis kommen sich wilke & zieger nahe, wilkes strukturen sind aber zunaechst logisch, wobei die atmosfaere der gedichte eher durch wortwert als wortbeziehung erfassbar wird (wilkes worterfahrung ist die eines aufmerksamen anfaengers). den neueren arbeiten des autors ist eine verunsicherung im selbstverstaendnis des verfahrens anzumerken, die mich erstaunt. die diskrepanz zwischen assoziativen & logischen reaktionen wird diskreter, einredefluss setzt sich auf kosten inhaltlicher problematik durch, die diskrepanz als solche aber bleibt erkennbar; der art zustand jedoch ist unhaltbar. perspektivisch kann wilke nur mittels eines professionellen, nicht betriebsblinden, ballanceaktes innerhalb dieses spannungsfeldes, im verfahren kreativ sein. was mir fuer die arbeiten von wilke bemerkenswert scheint ist, sie als prozess an sich & nicht als zustand zu begreifen & zu rezepieren. einer, dessen arbeiten ebenfalls assoziativ orientiert sind, ist FRANK LANZENDOERFER. der stellenwert der assoziativen komponente ist hoeher als bei wilke, wobei das klangassoziative moment dominiert.
flanzendoerfers erste gedichte waren das ausschliessliche resultat von klangassoziationen; hell & leicht. die leichtigkeit mit der er seine gebilde erstellte war ungewoehnlich. & das verfahren am ehesten als schoepfungsakt aus dem vagen heraus zu charakterisieren. flanzendoerfer liess seine fantasie allein verfahren. als sich der autor aber mit ihm bis dahin unbekannten arbeiten im unueblichen sprachbenutz verwandter autoren konfrontiert fand, wurde ein, im kontekst letztendlich sozial relevanter, anspruch an den tekst bemerkbar. diesem anspruch ist er, als ursache hierfuer konstatiere ich zunaechst die mangelnde konsequenz dialektischer problembewegung, nicht mehr gerecht geworden. von der leichtigkeit konvertierte flanzendoerfer zur leichtfertigkeit, von einer tendenziellen dynamik zur statik, von der anspruchslosigkeit zur koketterie. nachdem flanzendoerfer daraufhin versuchte das klangassoziative verfahren zur beschreibung zu nutzen (… einfalt bewaldet idylle vorm verwunschenen haus denkt den schenkel hinauf & belauert den faun hinterm zaun im dunkeln …), skandiert er mittlerweile die willkuerlich zurechtgedroschenen reizmittel (… meschugge masturbiert/& stark gemacht/bis es schwarz wird …, … dia- & vaginal kreuzweise/tat twam asi/von mir aus …). hinzu kommt, dass dem autor en masse plagiate nachzuweisen sind, wo bei ihm ein epigonales verhalten nicht eigen ist, da er keiner haltung, ausser der eigenen, hiermit entsprechen kann. flanzendoerfer erledigt jede tekstimmanente problematik laks & glatt. Eine so selbstgefaellige & leichtfertige handhabe der portion begabung, die ich dem autor unterstelle, empfinde ich als infantile wichtigtuerei, die mir wiederum eine intensivere auseinandersetzung mit seinen arbeiten verwehrt. wo ich bin ist nichts & ueberall kann ich nicht sein; in den siebziger jahren wurde so von schobert & black ein ihrerseits als beruehmt apostrofierter kollege zitiert. die bestandsaufnahme der kreativitaet flanzendoerfscher arbeiten der letzten zeit veranlasst mich, dieses zitat kommentierend anzubringen.
nehmen wir uns die freiheit der publikation, kommen wir zumindest innerhalb dieses rahmens nicht umhin, uns mit jeder, & sei es noch so subjektiven, reaktion konfrontiert zu erleben.
der den arbeiten beizumessende anspruch der autoren kunst zu produzieren, dem sie alle mehr oder minder gerecht werden, war fuer mich der anlass zur auseinandersetzung mit diesen arbeiten (hier geht es um keine denkuebungen, gedaechtnisprotokolle oder ueberlegtheiten in quasi lyrischer aufmachung, wie sie einem immer wieder zur begutachtung anempfohlen werden). schon allein dieser umstand genuegt von allen vier autoren einmal mehr beachtenwertes erwarten zu duerfen. wenn aus anlass der suche nach einem gemeinsamen wirklichkeitsempfinden der autoreneingangs drei reflektionen zur anfangsproblematik zitiert werden, sollte man dieses bei der rezeption aller arbeiten nicht unberuecksichtigt lassen. keiner der vier autoren wird sich als anfaenger verstehen (mit einem solchen selbstverstaendnis kaeme wohl kaum die inanspruchnahme von oeffentlichkeit zur geltung), die infragestellung & gegebenen falls auch die verunsicherung von standpunkten oder gangarten scheint mir fuer jeden autor, sei sie nun permanent oder zyklisch, unbedingt wichtig; vor allem wenn es um anfaenge eines solchen literarischen potentials geht. im kontekst glaube ich diesen tekst hier doch am ehesten an einem flanzendoerferzitat orientiert zu wissen:

ICH GEHE AUF FUEHLUNG AN DEN FUSSOHLEN

Leonhard Lorek, schaden, Heft 7, August 1985

Vogel oder Käfig sein

– Die selbstverlegte Literatur der achtziger Jahre in Berlin/DDR. –

Wer jetzt an das Brandenburger Tor eilt, um noch schnell einen Blick auf die Restbestände des kalten Krieges zu werfen, kommt zu spät. Die Wachtürme entlang der Grenze sind verwaist, und die Mauer ist gefallen. Von Souvenirjägern hundertfach durchlöchert, hat man schließlich begonnen, sie abzureißen. Und nicht nur die baufällig gewordenen Teile. Was an bemalter und besprühter Betonfläche von der touristischen Wut verschont blieb, dürfte erst in den großen Auktionshäusern wieder auftauchen. Selbst der jetzt abmontierte, unverwüstliche, da nichtrostende Stacheldraht scheint seine Liebhaber gefunden zu haben. Er wurde einfach gestohlen.
Wer jetzt noch auf authentische Belege einer zu Ende gegangenen Epoche aus ist, muß mit dem Vorlieb nehmen, was er an Utensilien im Angebot der Kramläden und fliegenden Händler findet. Es wird verkauft was sich irgend nur verkaufen läßt: Mauersplitter, die stählernen Grenzpfähle, DDR-Fahnen, Uniformteile, die blauen Hemden der FDJ, der einstigen Jugendorganisation, die Fülle der unnütz gewordenen Medaillen – und nicht zuletzt auch die offiziellen Biographien jetzt verhafteter Männer der ehemaligen Partei- und Staatsführung; kurz: das Symbolinventar der letzten vierzig Jahre.

Als am 7. Oktober 1989, zum vierzigsten Jahrestag der DDR, die Panzer durch die Straßen rollten, war dieser schnelle Umbruch nicht vorauszusehen. Alles deutete darauf hin, daß sich die Regierenden, ganz nach dem Vorbild der chinesischen Machthaber, für eine gewaltsame Lösung der angestauten Konflikte entschieden hatten. Daß das Blutbad ausblieb, wirkt heute schon fast wie ein Wunder. Wer aber die Zeichen der Zeit zu lesen verstand, wußte, daß unter dem homogenen Bild offizieller Selbstdarstellung schon lange nichts mehr stimmte. Wer die Augen offen hielt, mußte nur lesen. Seit dem Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre gab es unter den jüngeren Autoren zunehmend Bestrebungen, das hemmende, nur auf ideologische Konfrontation ausgerichtete Denken zu überwinden, das alle Lebensbereiche des Alltags zu durchdringen begann und in seiner unerbittlichen Antinomie nur schwarz oder weiß kannte, Ost oder West, Staatsbürger oder Staatsfeind. Es entstanden die ersten Konturen einer Literatur, deren Sprache mit Phantasie und Kreativität auf die ästhetischen und ideologischen Reglementierungen reagierte und sich dem Diskurs der Macht mit anderen Mitteln zu widersetzen versuchte als die vorhergehende, in den herrschenden Strukturen noch weitgehend integrierte Autorengeneration um Volker Braun, Karl Mickel oder Rainer Kirsch. Es ist dies eine Literatur, die im Laufe der letzten zehn Jahre zumeist nur in privaten Lesungen, Performances und selbstverlegten Zeitschriften an das Licht einer kleinen Öffentlichkeit trat, abseits vom offiziellen Literaturbetrieb und bis vor kurzem noch von allen Verlagen gemieden. Ihr Ort kann am sinnfälligsten mit dem im Krieg weitgehend unzerstörten Stadtbezirk Prenzlauer Berg im östlichen Teil Berlins angegeben werden und verbindet sich mit den dort lebenden Autoren Stefan Döring, Jan Faktor, Andreas Koziol, Bert Papenfuß-Gorek, Rainer Schedlinski u.a. oder den inzwischen nach West-Berlin übergesiedelten Autoren Sascha Anderson, Leonhard Lorek, Thomas Rösler und Ulrich Zieger.

Man könnte bei den zwischen 1951 und 1964 geborenen Autoren, wenn nicht von einer Gruppe, so von einer neuen literarischen Generation sprechen, gibt es doch eine Reihe soziologischer Kennzeichen; sei es das Geburtsjahr, der Wohnort Berlin, der DDR-untypische Lebensstil, die konsequente Verweigerung aller ästhetischen und ideologischen Vorgaben der Verlage, der darauf folgende Ausschluß aus dem offiziellen Literatur- und Kunstbetrieb, die Schaffung einer kleinen, aber gut funktionierenden Gegenkultur oder die symbiotische Zusammenarbeit mit Fotografen, Malern, Grafikern und Musikern. Von besonderer Bedeutung sind dabei eine Reihe, kleiner, im Selbstverlag herausgegebener literarisch-grafischer Zeitschriften, die seit dem Anfang der achtziger Jahre für einen wachsenden Kreis von Produzenten und Lesern Ersatzformen für die fehlende literarische Kommunikation zu schaffen versuchten. Zum Teil reichhaltig mit Grafiken, Fotos und anderen Beilagen versehen, erschienen sie in kleinen, zwischen 30 und 250 zählenden Auflagen, die Texte manuell mit Schreibmaschine, später auch mit Computer, vervielfältigt und von Hand zu Hand weitergereicht
Entstanden waren sie unter den bis vor kurzem herrschenden restriktiven und für die Herausgabe von Kunst und Literatur äußerst komplizierten Bedingungen, nach denen es in der DDR Privatpersonen grundsätzlich nicht gestattet war, Literatur zu verbreiten, geschweige denn zu drucken. Sie entsprangen einem Dilemma, das typisch war für ein kulturelles Klima, in dem geeignete und allen zugängliche Publikationsmöglichkeiten fehlten und Gegenwartsliteratur meist mehrfache Korrekturen erdulden mußte und mitunter über zehn Jahre brauchte, um zu erscheinen. Waren die Verlage und die ohnehin wenigen Literaturzeitschriften (Sinn und Form, Temperamente und Neue deutsche Literatur) Mitte der siebziger Jahre noch integrationsfähig, begannen sie sich seit dem Anfang der achtziger Jahre nicht nur der wachsenden Zahl kritischer Stimmen, sondern auch jeglicher ästhetischer Innovation zu verweigern. Spätestens nach der spektakulären Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann, dem darauf einsetzenden Ausschluß Dutzender kritischer Autoren aus dem DDR-Schriftstellerverband Ende der siebziger und dem nachfolgenden Exodus der um 1935 geborenen Autorengeneration um Sarah Kirsch, Reiner Kunze, Jurek Becker, Günter Kunert u.a. Anfang der achtziger Jahre, gab es nur zwei Alternativen: entweder in die Bundesrepublik oder nach West-Berlin überzusiedeln oder sich eigene Publikationsmöglichkeiten zu schaffen.

Zunächst entstanden Siebdruckbücher, in denen Maler und Grafiker Texte befreundeter Autoren illustrierten. Der Text mußte dabei, so wollte es das bis vor kurzem noch geltende Vervielfältigungsgesetz, integraler Bestandteil der Grafik oder des Bildes sein. Daraus entstanden, zuerst in Dresden, dann auch in Berlin und in anderen Städten der DDR, Zeitschriften, in denen sich der Text nach und nach aus der rein grafischen Struktur befreite. Ab 1982 entwickelten sich so die ersten eigenständigen Literaturzeitschriften: und, undsoweiter, entwerter-oder und poe-sie-all-bum, deren gegenkulturelle Intentionen bereits am Namen ablesbar waren. Am bekanntesten sind wohl die in Berlin 1984–1987 von einem Autorenkreis um Egmont Hesse und Sascha Anderson herausgegebene Zeitschrift schaden, die von Rainer Schedlinski seit 1986 produzierte essayistische Zeitschrift ariadnefabrik und die von Uwe Kolbe, Lothar Trolle und Bernd Wagner 1983–1987 verlegte Zeitschrift mikado geworden. (Vergl. Egmont Hesse (Hrsg.): Sprache & Antwort, Frankfurt/Main 1988; Mikado oder Der Kaiser ist nackt. Selbstverlegte Literatur in der DDR, Darmstadt 1988.) Mittlerweile hat sich das Spektrum selbstverlegter Zeitschriften um ein halbes Dutzend regelmäßig erscheinender Publikationen erweitert, von denen das unabhängige kulturpolitische Journal KONTEXT und die Autorenzeitschriften LIANE und verwendung bis zu den Oktober- und Novemberumbrüchen wohl am auflagenstärksten gewesen sein dürften.

Die Gründe für den Ausschluß einer ganzen Autorengeneration sind vielfältig und so wenig nachvollziehbar, wie manch anderes in der politischen Entwicklung der DDR. Seit Anfang der achtziger Jahre bestanden spezielle Namenslisten, in denen die Verlage von der „Abteilung für Kultur“ zuständigen Stelle bei Zentralkomitee der SED angewiesen wurden, bestimmte Autoren nicht zu drucken. Von diesem Publikationsverbot waren von den jüngeren Autoren u.a. Sascha Anderson, Leonhard Lorek, Detlef Opitz, Bert Papenfuß-Gorek, Ulrich Zieger aber auch Kritiker und Literatur- und Kunsthistoriker betroffen, die sich mit dieser Literatur befaßten. Die Liste ließe sich beliebig erweitern. „Es gab ein Rundschreiben von oben an alle Verlage, daß meine Arbeit nicht gedruckt werden darf“, erinnert sich Bert Papenfuß-Gorek. Vielfach wurden auch die Zeitschriften selbst von solchen Restriktionen betroffen, so wurde 1984 das Erscheinen der Dresdener Kleinzeitschrift und (Auflage 20 Exemplare) verboten und 1986 die in Halle/Saale von Kunststudenten herausgegebene literarisch-grafische Heftedition galeere. Der mittlerweile nach West-Berlin übergesiedelte Lyriker, Essayist und Herausgeber Sascha Anderson urteilte 1986 über die Situation:

Vielleicht besteht meine Generation (…) noch aus Aussteigern. Nach uns kommt eine Generation, und die halte ich für viel wichtiger, die ist gar nicht erst eingestiegen. Das ist der wichtige Unterschied zur Situation der siebziger Jahre. Wir wissen noch Bescheid. Wir kennen noch die Sprache der Macht. (…) Wir mußten uns erst befreien.

Das Bedürfnis, sich von der Sprache der Macht zu befreien, hat ganz verschiedene poetische Konzepte entstehen lassen, die allerdings eines gemeinsam haben: die Kritik der vorherrschenden Sprache und ihrer verkrusteten Sprachgebungen. Die Auseinandersetzungen mit den Konturen der Sprache wird damit zu einem der zentralen Themen der poetischen und theoretischen Texte. Und man geht nicht fehl, im Aufbrechen der verhärteten sprachlichen Konventionen eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Kritik sozialer Strukturen zu erkennen. Die Intentionen der Sprachkritik waren so verschieden wie ihre Bezugsebenen: Gegen die Eindimensionalität des ideologischen Diskurses setze sie die Emanzipation der Sinne; gegen die leere Rhetorik der standardisierten Parolen stellte sie die Abweichung; gegen den falschen Schein sprachlicher Kontinuität brachte sie die Poetik des Fehlers und die beständige Brechung der Sprache ein, und der Alltagssprache der Macht hielt sie das Zersplittern ihres Symbolinventars und den Verschleiß ihrer gängigen Begriffe entgegen. Sprachkritik wird damit zu einem Grundzug von Literatur, die davon überzeugt ist, daß die Hermetik des vorherrschenden Denkens, wie es Rainer Schedlinski einmal programmatisch formulierte, nur durch „humor gelüftet (…) durch individualität verwässert, durch aggressivität aufgebrochen oder durch poesie verlassen werden kann.“ Aus dieser kritischen Auseinandersetzung entstanden drei poetische Formen von Texten, die, wenn man es einmal auf den Punkt bringen möchte, als semantische Sprachkritik, als metaphorische Kritik und als textuale Sprachkritik bzw. als Text-Recycling-Verfahren bezeichnet werden können.

Die zum großen Teil sematisch angelegten Texte Stefan Dörings, Leonhard Loreks und Bert Papenfuß-Goreks gehen von den kleinsten Bausteinen der Sprache, den Semen und Phonemen, aus. Der besondere Reiz dieser Texte entsteht, weil die Autoren mit den Sinnfragmenten und Sprachsplittern umgehen, als wären es intakte metaphorische oder rhetorische Einheiten. Der Text ist nicht mehr ein geschlossenes ästhetisches Produkt, sein Sinn ist vielmehr erst aus den Bedeutungsschichten der Sprachbewegung zu erschließen. Er ist, was die französische Sprachtheoretikerin Julia Kristeva einmal als generelles Kennzeichen moderner Poesie hervorhob, in seiner Grundbestimmung Praxis: Bewegung in der Sprache und Arbeit des Textes an sich selbst. Die Struktur solch eines poetischen Textes „… veraendert sich selbst“, wie Bert Papenfuß in einem Gedicht schrieb, „staendig darein begriffen / unterstuetze ich diese / Fertiefung der Wahrnehmung / gleichzeitig das wissen / um eine schiere fuelle von / erscheinungen“.

Ein anderer Ansatz findet sich im kritischen Umgang mit den metaphorischen Einheiten der Sprache. Bei Andreas Koziol oder Rainer Schedlinski sind es die metaphorischen Einheiten, Redewendungen, Syllogismen oder das sprachliche Inventar der Moderne, die in den Gedichten einem Legitimationstest unterzogen werden. Kern dieser poetischen Verfahrensweise ist der untergründige Zweifel an der Verläßlichkeit der Metaphern. Dieser Zweifel am metaphorischen Gebrauch von Sprache ist nicht zuletzt auch ein Zeichen für die krisenhafte Situation des Sprechenden, der sich auf seine Sprache und auf die Akzeptanz seiner Umwelt nicht mehr verlassen kann.
Am deutlichsten demonstriert Jan Faktor in einem an dadaistische Montagetechniken erinnernden sprachlichen Recycling-Verfahren den signifikanten Leerlauf der aus den unterschiedlichsten Fundstätten (Zeitung, Lexika, Sprachführer) geborgenen Sprechhülsen. Die poetischen Väter sind offensichtlich, sie sind in der Konkreten Poesie zu suchen und bei Autoren wie Schwitters oder Hans Arp.

Es ist verständlich, wenn sich diese zu neuem Leben erweckten literarischen Traditionslinien nicht recht in das kulturelle Selbstverständnis der DDR integrieren ließen, das, von seiner Geschichte her, weitaus mehr von der leeren, aber heroischen Klassizität des „sozialistischen Realismus“ als von avantgardistischen Kunstströmungen geprägt war. Die Mehrzahl der Autoren wollte es auch nicht. Papenfuß-Gorek, Schedlinski und Faktor erschienen 1988 und 1989 schließlich mit einem Auswahlband Außer der Reihe, wie eine von Gerhard Wolf im Aufbau-Verlag (Berlin und Weimar) neu eingerichtete Edition jüngerer Literatur heißt. Waren es bis zu den Oktober- und Novemberumbrüchen des letzten Jahres vor allem ideologische Gründe, die das Erscheinen einer ganzen literarischen Generation verhinderten, so sind es jetzt marktwirtschaftliche Erwägungen, die die Verlage von der Verbreitung neuerer Gegenwartsliteratur Abstand nehmen lassen. Fast alle großen Verlage der DDR waren, wie sich erst jetzt herausstellt, Parteieigentum und konnten, so sie ihrem kulturpolitischen Auftrag gerecht wurden, mit umfangreichen finanziellen Stützungen rechnen. Nach der Auflösung der ehemals herrschenden SED und nach Öffnung der Grenzen, stehen die Verlage nun vor der Schwierigkeit, sich mit einem drastisch reduzierten Etat in einer übermächtigen (west-)deutschen Medienlandschaft zurechtzufinden. Man hat es zuerst kaum wahrhaben wollen, aber die Aussichten für die bisher ausgegrenzte Literatur stehen nach wie vor schlecht. Aus diesem Grunde haben sich eine Reihe von Ost-Berliner Autoren und die Herausgeber von vier Autorenzeitschriften zu einer Verlagsgemeinschaft zusammengeschlossen, mit der weitergeführt werden soll, wozu man schon immer, wenngleich auch aus anderen Gründen, gezwungen war: die Produktion und den Vertrieb der Literatur selbst in die Hand zu nehmen. Vielleicht ist dies ein Sonderfall, wie es ihn bisher nur am Anfang des Jahrhunderts für den relativ kurzen Zeitraum des Expressionismus gegeben hat. Die gegenwärtige Situation läßt aber nichts anderes zu, was unter Umständen sogar eine einmalige Chance sein kann. Und vielleicht ist das auch gut so.

Michael Thulin, Zündschrift, Heft 3, Mai 1990

 

Text zur Lyrik der nichtoffiziellen Literaturszene in der DDR (1976–1989).

Peter Böthig: Stasi als Thema in der Literatur – Killersatelliten im Schrebergarten. Dichter, Informanten und Schmetterlinge im Prenzlauer Berg. Vortrag am 19.6.2002 in der Eberhard Karls Universität Tübingen.

Andreas Koziol: Vortrag. Staatsgeheimnis und Sprachgeheimnis. Zur Untergrunddichtung der späten DDR.

 

Fakten und Vermutungen zu Thomas Wohlfahrt + Kalliope
Porträgalerie: deutsche FOTOTHEK

 

Fakten und Vermutungen zu Klaus Michael

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Das Em.thulin“.

 

 

Bert Papenfuß, einer der damals dabei war und immer noch ein Teil der „Prenzlauer Berg-Connection“ ist, spricht 2009 über die literarische Subkultur der ’80er Jahre in Ostberlin.

 

Poesie des Untergrunds – Prenzlauer Berg kontrovers – Trailer zum Dokumentarfilm.

 

Poesie des Untergrunds -In der Kunstszene der DDR entstand in den Jahren vor der politischen Wende ein eigener Mikrokosmos. Besonders in Berlin-Prenzlauer Berg hatte sich eine Gemeinschaft entwickelt, die den Untergang des Systems in ihrem unangepassten Leben vorwegnahm. Eine neue Ausstellung im Stadtmuseum zeigt jetzt die Werke von 38 der wichtigsten Künstler jener Zeit.

 

Poesie des Untergrunds − Die Literaten- und Künstlerszene Ostberlins 1979 bis 1989. Eine Ausstellung in der Kunstsammlung Jena vom 13. März bis 23. Mai 2010.

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