Kurt Aebli: Ich bin eine Nummer zu klein für mich

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Kurt Aebli: Ich bin eine Nummer zu klein für mich

Aebli-Ich bin eine Nummer zu klein für mich

Mein Vorfahre das Ich prächtiger
Apparat von überwältigender
Größe und Erhabenheit

hat Städte
gebaut Kriege
gewonnen Götter ge
züchtet
Planeten verkauft

 

 

 

Von fremdvertrauten Dingen

handeln diese Gedichte: von Spaziergängen durch Vororte oder vom Gehen auf dem Hochseil, von Vornamen von Frauen, von Zugfahrten mit Bartleby, von bizarren Verwandlungen und von Gefühlen, die sich noch keine Sprache haben schaffen können. In Kurt Aeblis Texten spricht eine ganze Stadt mit sich selbst. Seine Gedichte haben es sich zur Aufgabe gemacht, mit Worten das Schweigen zu beschatten. Und so hat hier mancher Gegenstand die Farbe von etwas, das nicht gesagt wird, während doch stets am Ursprung von allem, was gesagt wird, eine von sich selbst berauschte Quelle steht. „Der Lebensmut“, schreibt Bruno Steiger in der Neuen Luzerner Zeitung, „der in Kurt Aeblis an Cioran und Beckett geschulten Exerzitien des Abwinkens freigesetzt wird, könnte, müsste auch der unsrige sein.“

Urs Engeler Editor, Ankündigung, 2007

 

Kurt Aebli: Ich bin eine Nummer zu klein für mich

Der 1955 in Rüti geborene Autor Kurt Aebli gehört seit seinem Debut im Jahr 1983 zu den interessantesten Aussenseitern der Schweizer Literatur. Neun schmale Bände mit Lyrik und Prosa hat er insgesamt veröffentlicht. Meist handelt es sich um autobiographische gefärbte Reflexionen, die mit Lichtenbergs Sudelbüchern, Canettis Aufzeichnungen und Martin Walsers „Messmer“- Notaten entfernt verwandt sind. Aebli ist ein genauer Beobachter und Sprachspieler, ein Spaziergänger, der scheinbar banale Dinge auf ungewohnte Weise sieht. Sein neues Buch enthält teils Gedichte, teils Bruchstücke von (oder Bausteine zu) Gedichten: ein bis zwei Zeilen umfassende Notate, in denen eine überraschende Wahrnehmung auf den Punkt gebracht, eine Denkgewohnheit auf den Kopf gestellt oder Gegensätzliches in eins gesehen wird. „Hier geht’s lang zum Nebel“, lesen wir etwa, „Ein Vorhängekuß“, „Die Tapete ist abgereist und ich bin noch da“, „Der Tag gleitet unter die Möbel“, „Eine Pralinenschachtel voller Spaziergänge und Höflichkeiten“. Diese Art von Texten verlangt freilich geduldige Leser, und nicht immer springt der Funke über. Manches wirkt sentenziös, anderes beliebig oder nur skurril. Aebli liefert und hier gleichsam Brosamen statt Brot – aber sie schmecken.

Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung, 23.9.2007

Nur nicht als Stechpalme enden

– Gedichte von Kurt Aebli. –

Wer mit Kurt Aebli auf die Pirsch geht, der muss geduldig sein. Oft sind es nicht mehr als eine Handvoll Zeilen, die er ins Visier nimmt, manchmal nur einzelne Sätze oder „fallengelassene Wörter in den Gräben zwischen mir und mir“. Nicht von ungefähr heisst eines seiner letzten Bücher schlicht „Ameisenjagd“. Doch irgendwann wird man von Aeblis Sätzen gepackt und sieht ihm staunend dabei zu, wie er die Silben durchschüttelt und das Schweigen beschattet. In seinen Gedichten und Prosaskizzen gibt es ein stets spürbares Suchen und Drehen, ein Spiel mit den Bedeutungsfächern der Wörter und ihrem Nachhall in jener flattrigen Sphäre, die sich „Ich“ nennt. Alle Begriffe und Denkmuster, mit deren Hilfe die Welt manchmal so leicht verhandelbar scheint, sind bei Kurt Aebli in Frage gestellt. Die Zeichen am Himmel, schreibt er einmal, treiben getrennt. Erst im Sprechen entsteht überhaupt so etwas wie „Welt“. Und damit die Sprache nicht gleich wieder fest wird und neue Zuschreibungen bildet, versucht der Schreibende niemals stehenzubleiben, wünscht sich fortwährende Verwandlung. Für die Texte bedeutet das eine Aufgabe:

das Recht auf ein Quantum Abgrund
mein Gesicht abschütteln
scheinbar sinnlose Worte zum Sieden bringen

Trotzdem gibt es den Versuch, diesen kleinen Rest an Sprache und „Gesicht“ ein wenig aufzuhellen, und die „Anstrengung, wenigstens meine Ränder verstehbar zu machen“. Das Schöne an Aeblis Texten ist, dass er das Spiel mit den Wörtern nicht als blosse Etüde betreibt, vielmehr schimmert hinter all den Spracherkundungen ein existenzieller Kern. Da entdeckt das flimmernde Ich unversehens Teile von sich in fremden Menschen auf der Strasse oder vermutet, die eigene Zunge könnte nur geliehen sein. Bisweilen ist es schon ein heroischer Akt, sich der vegetabilischen Welt zu entziehen:

heute habe ich alles
getan um nicht als
Stechpalme zu
enden

Im Grunde ähnelt der Sprechende einer paradoxen Figur, die allzu schnell in Luft aufgehen kann, „einem Knoten der sich in nichts auflöst sobald man an beiden Enden der Schnur gleichzeitig zieht“.
Aeblis Texte funktionieren wie jene in der Nacht über den Gehsteig gespannten Drähte, die er im ersten Gedicht beschreibt. Man stolpert darüber, auch wenn sich herausstellt, dass es nur die Schatten von Stromleitungen sind, die das Licht der Strassenlampen aufs Pflaster wirft. Als Leser ertappt man sich ein ums andere Mal dabei, wie man gierig nach Sinn sucht. Dabei besteht der Reiz der Gedichte gerade darin, Sätze zu lesen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Aebli schafft es, eine feine Spannung zwischen den Sätzen aufzubauen. Manchmal genügen schon kleine Paradoxien oder eine Umkehr der vertrauten Abläufe, und flugs geraten die Dinge in Bewegung.
All das trägt Kurt Aebli nicht in schweren Begriffen vor, sondern mit einer eigentümlichen Komik. „Möbelstücke sitzen vor dem Fernsehgerät und warten auf das vereinbarte Signal“ ist ein typischer Aebli-Satz. Oder: „Die mit der Desinfektion des Raumes beauftragte Krawatte nicht zu Wort kommen lassen.“ So wird die Vorstellung einer allgemeingültigen Logik oder eines sicheren Nacheinanders ganz ungezwungen unterlaufen, und man beginnt sich beinahe einzurichten in Aeblis Sätzen. Es ist wie in einem dieser Wahrnehmungsversuche, bei denen man eine Prismenbrille aufsetzen muss. Irgendwann scheint das Bild der Welt vertraut, die um hundertachtzig Grad gedreht ist. Doch wenn man die Brille wieder abnimmt und mit unbewaffnetem Auge schaut, steht plötzlich die vermeintlich echte, ungefilterte Welt auf dem Kopf.

Nico Bleutge, Neue Zürcher Zeitung, 27.12.2007

Dienstweg zum Nichts

– Neue Gedichte von Kurt Aebli. –

Kurt Aebli schreibt eine Literatur der letzten Worte. Es ist, als würde dieser Autor in jedem seiner aphoristisch vertrackten Sätze noch ein letztes Mal Atem holen vor dem finalen Schlusspunkt und dem endgültigen Verstummen. Die Welt, die das stoische Ich seiner Prosaminiaturen und Gedichte zur Kenntnis nimmt, hält keine Überraschungen mehr bereit. Da ist kein Raum mehr für Utopien oder Glücksversprechen, da gibt es allenfalls noch die Wiederkehr des trostlos Immergleichen zu registrieren. Für den geübten Desillusionierungs-künstler Aebli gibt es dabei nichts Schlimmeres als eine ungehemmte literarische Redseligkeit. Er orientiert sich lieber an den Virtuosen des radikalen Erkenntniszweifels und der poetischen Verknappung, an Autoren wie Samuel Beckett und Günter Eich. Seine skeptizistischen Exerzitien erinnern an die späten Gedichte Eichs in ihrer Kunst der Weltverneinung und der sarkastischen Heiterkeit. „Die Tapete ist abgereist ich bin noch da“, lautet ein typisches Aebli-Notat. An anderer Stelle propagiert er die Sinngebung im Sinnlosen: „das Recht auf ein Quantum Abgrund / mein Gesicht abschütteln / scheinbar sinnlose Worte zum Sieden bringen“. So positioniert sich das zur Selbstverneinung neigende Ich konsequent im Zentrum einer unermesslichen Leere, in die zwar noch ein paar Außenreize eindringen, die aber von dem desillusionierten Subjekt achselzuckend zur Kenntnis genommen werden.
Aeblis Gedichte kartografieren ungerührt den „Dienstweg zum Nichts“, ohne irgendeine Abweichung ins Lebbare, eine sinnliche oder metaphysische Gewissheit in Aussicht zu stellen. In mittlerweile zehn Prosabüchern und Gedichtbänden hat der bei Zürich lebende Autor seine fatalistische Seins-Diagnostik immer weiter radikalisiert. Bereits das Ich der 1994 erschienenen Prosaminiaturen „Mein Arkadien“ träumte von jenen Orten, „wo es“ – so wörtlich „mir gelungen wäre, ungestört unglücklich zu sein“. Im Band Der ins Herz getroffene Punkt von 2005 war Aeblis Erzähler dann „am äußersten Rand der Trostlosigkeit“ angekommen.
Nun hat Aebli weitere fatalistische Momentaufnahmen aus den – wie es heißt – „augenblicklichen Phasen einer Abschiedsrede“ geliefert. Die Gedichte seines jüngsten Bandes mit dem überaus charmanten Titel „Ich bin eine Nummer zu klein für mich“ arbeiten mit gewohnt feinem Sarkasmus an der Dekonstruktion einer ehrgeizigen Subjektivität. Für die einstmals stolzen Selbstbeschreibungen des Subjekts der Philosophie hat Aebli nur Spott übrig:

Mein Vorfahre das Ich prächtiger
Apparat von überwältigender
Grösse und Erhabenheit

hat Städte
gebaut Kriege
gewonnen Götter ge-
züchtet
Planeten verkauft

Die ganze selbstzerstörerische Menschheitsgeschichte hat Aebli hier in knappen acht Zeilen resümiert. Dem Nachfahren dieser „Ich“-Spezies bleibt nur noch die Verweigerung der alten Subjektivitäts-Anmaßung. Diese Gedichte suchen nicht die metaphysische Tristesse in einen poetischen Wohlklang zu überführen, sondern ziehen die kunstvoll hergestellte Tonlosigkeit vor.
Es sind unverbunden nebeneinander gestellte Sätze und Satzfragmente, die alle gleich nah zu einem schwarzen Mittelpunkt der Heillosigkeit stehen. Sie bewegen sich oft in Paradoxien und sehr finsterem Humor vorwärts und sprechen unverrückbar schroff vom Aussichtslosen der Existenz. Zugleich sind diese Gedichte für den Autor die letztmögliche Form der Selbstbehauptung. Gäbe es sie nicht, wäre das endgültige Verschwinden.

Michael Braun, Basler Zeitung, 9.11.2007, und Saarländischer Rundfunk, Bücherlese

Die Tapete ist abgereist

Mit dem einladend gestalteten neuen Gedichtband von Kurt Aebli hätte ich gern eine Reise nach Klagenfurt gemacht. Das anthrazitfarbene Buch hätte gut in meine Hand gepaßt, und ich hätte es so gehalten, daß der Satz auf der Rückseite sichtbar gewesen wäre: „Die Tapete ist abgereist ich bin noch da.“ Den Titel des Buches „Ich bin eine Nummer zu klein für mich“ hätte ich mir als gestohlene Einsicht auf meine Stirn tätowiert, und ich hätte mich daran erinnert, wie wir vor 16 Jahren am Wettlesen teilgenommen hatten, dem ersten Wettlesen nach R.R. und dem Jahr, in welchem sich Slowenien vom damaligen Jugoslawien loslöste; Bomber waren zu hören. Ich hätte die Kaffeehäuser aufgesucht und mich erinnert, wie das Wettlesen eine Nummer zu aufgeregt war: „Wörter flogen ohne genaues Ziel durch die Gegend.“ Ich hätte mir mit dem Buch unter dem Arm einen Baum ausgesucht, um dort sitzend zu staunen wie Kurt Aebli Blicke auf die Dinge zaubert, damit diese uns immer wieder neu erstaunen: „Ein bewohntes Zimmer wollte noch etwas sagen doch dann stellte sich heraus dass alle Worte eine Farbe hatten die sich zu einer gedachten Linie verhielt wie zum echten Leben.“ Aeblis Sätze gehen mittels literarischer Nanotechnologie unter die Haut, in den Körper und wirken langsam, fast retardierend. Wenn das Buch geschlossen wird, beginnt sich die Einsicht in das Gelesene auszubreiten wie ein wärmendes Getränk. Deshalb: langsam lesen, das Buch dann schließen und warten! – „Einmal mehr haben uns die Worte von außen gesehen…“. Gerne wäre ich mit diesem Buch nach Klagenfurt, doch „die Tapete ist abgereist und ich bin noch da“.

Francesco Micieli, Schweizer Monatshefte, Nr. 11, 2007

Nichts, niemand und alles

Nach Der ins Herz getroffene Punkt (2005), dem viel gelobten Band mit Kurz- und Kürzestprosa, lässt Kurt Aebli nun wieder einen Gedichtband folgen. Genau genommen versammelt Ich bin eine Nummer zu klein für mich nicht nur Gedichte, sondern auch Sentenzen, die den zweiten Teil des Buches ausmachen.
Der 52-jährige Zürcher gehört fraglos zu den konsequentesten Reduktionisten unter den zeitgenössischen Lyrikern; er verzichtet auf jegliche Interpunktion, und ein Grossteil der Texte kommt ohne Titel aus. Schnellleser sind von vorneweg ausgeschlossen. Mitunter „Denkbilder“ im Benjamin’schen Sinn, scheinbare Fragmente und kleinste Verschiebungen – „der Monsch“ – fordern Aufmerksamkeit, zwingen den Leser zum Verweilen. Aebli versteht es wie nur wenige, mit dem Minimum an Wörtern das zu Sagende in lakonisch-melancholischer Weise auf den Punkt zu bringen. Die geschriebenen Wörter sind dann aber nur geringste Teil; was mitschwingt an Assoziationen und Emotionen, was also zwischen und hinter den Wörtern steht – darauf kommt es Aebli an.
Nicht selten geht es dem Lyriker um „alles“, Zeile um Zeile den Bogen vom fragil-fragwürdigen Sein zur stets drohenden Auflösung spannend: „Nichts getan um niemand zu / sein heute habe ich alles / getan um nicht als / Stechpalme zu / enden“, lautet eine Strophe aus dem ersten Teil; oder noch knapper als Aphorismus: „Jeder Zweifel ist das ideale Fundament der Situation.“ Und wenn alles nichts hilft, so empfiehlt der Dichter, die Wünsche wie Socken abzustreifen, um barfuß „ins Unermeßliche zu wandern“.

Der Bund, 31.12.2007

Scharf gestellte Wahrnehmungen

– In seinem neuen Gedichtband Ich bin eine Nummer zu klein für mich schreibt der Zürcher Kurt Aebli sein Werk der Verdichtung fort. –

„Weil ich es mir wert bin“, repetiert die Werbung. Kurt Aeblis Titel erinnert an diese Botschaft, in Form einer tückischen Verneinung. Wer ist sich hier zu klein beziehungsweise zu gross, anders herum betrachtet? Das Gedicht, dem der Titel entnommen ist, erweitert den Kontext: „Die Stadt spricht mit sich selbst.“ Lärm und Getriebe erzeugen jenes Gefühl der Kleinheit, über dem „lächelnde Gleichgültigkeit der Wolken“ schwebt. Kurt Aeblis Gedichte sträuben sich gegen ein vorschnelles Verstehen. Allein schon die ausgelassenen Satzzeichen wissen dies zu verhindern. Vergleichbar der lateinischen Scripta continua, die keine Leerzeichen zwischen den Worten kannte, müssen auch diese Gedichte mehrfach gelesen werden: laut und leise, drängend und zögerlich. Dann erst offenbaren sie „Sinn“. Doch womöglich ist dies Wort hier gar nicht angebracht.
Um die Lektürearbeit zu erleichtern, lockt Aebli mit eingängigen Zeilen: „Die Tapete ist abgereist ich bin noch da.“ Damit ködert er Interesse, zieht daran wie an einem Faden, um die Leser in sein Labyrinth hineinzuziehen. Doch im Zentrum werden sie nicht selten wieder vor den Kopf gestossen: „Das vom Erdboden Verschluckte ist der Erdboden.“
Aeblis Gedichte implodieren in unterschiedlichsten Formen. Die erste Abteilung neigt zur lyrischen Strophenform, deren Motive ein feines Netz von Verweisen bilden. Das wahrnehmende Ich zersplittert im zweiten Teil. Der Dichter reiht pointierte Aussagezeilen aneinander. Aeblis Implosionen handeln von bekannten Dingen und Örtlichkeiten, die durch isolierte, scharf gestellte Wahrnehmungen in befremdliche Distanz gerückt werden.

Schweizerischer Feuilletondienst. St. Galler Tagblatt, 28.1.2008

Kurt Aebli: Ich bin eine Nummer zu klein für mich

Schon der Titel des Gedichtbandes gibt Anlass zu einer Vielzahl von Gedankengängen: Ich bin eine Nummer zu klein für mich. Wirkt auf den ersten Blick selbstkritisch, bescheiden. Ich passe mir nicht, bin mir nicht genug, habe mehr von mir erwartet, bin kleiner als ich denke. Oder umgekehrt: Ich bin mir zu eng, finde nicht genügend Platz in diesem Ich, zwänge mich hinein in dieses Ich. Sein Maß ist der allgemeine Durchschnitt, es hat Konfektionsgröße, ist eine Nummer zu klein. Entscheidender als solche Assoziationen ist vielleicht die sprichwörtliche Redensart: etwas sei eine Nummer zu groß für jemanden, eine Aufgabe oder eine Situation, jemand sei überfordert.
„Die Geschichte war wohl eine Nummer zu groß für Dich“ – ein abschätziger, frustrierender Gedanke. „Ich bin eine Nummer zu klein für mich“ verschiebt die Redensart auf das Binnenverhältnis von Ich und mich und dreht zugleich das Verhältnis um, das Abschätzige wird humorvoll gewendet. Es steckt etwas in diesem Satz, mit dem man nicht gerechnet hat. Hält man sich eine Weile nachspürend in dieser Denk- und Sprachfigur auf, gewinnt sie an Komplexität. Es geht um das Verhältnis von Ich und Ich, Ich und Anderen, Vorstellung und Wirklichkeit, von Sprache, Worten und Sätzen und ihrer Welthaltigkeit, ihrem Fassungsvermögen. Lässt man den Satz „Ich bin eine Nummer zu klein für mich“ weiter kreisen und denkt das Sprachspiel zu einem formalen Ende, könnte dieselbe Aussage (abzüglich der Abschätzigkeit sowie des Humors!) umgekehrt lauten: „Ich bin eine Nummer zu groß für mich.“ Ich bin mehr als Ich, bin mehr als man mir zugesteht, mehr als ich dachte sein zu können, mehr als ich in ein Ich zu pressen in der Lage bin. Ich bin immer schon außer Reichweite, jenseits des Fassbaren. Ich liege da, (noch) ungeschrieben, weit draußen. Was ist das für ein Satz, der sein eigenes Gegenteil bedeuten könnte? Auf jeden Fall einer, der neugierig macht und seine LeserInnen in diesen Gedichtband hineinzieht…

(Zitat Seite 9)

Gleich zu Anfang eine vielleicht typische Eigenschaft der Gedichte von Kurt Aebli: dass sie der Welt zugewandt sind, sich nicht von ihr abkehren, sich nicht versteigen, sondern alltäglichen Situationen abgelauscht sind, eingeschrieben. Ich finde mich als Leserin in leicht nachvollziehbaren Situationen wieder. Beim Lesen überdurchschnittlich oft das Gefühl, der Autor beschreibe meinen Blick auf die Dinge, gebe meinen Erfahrungen Ausdruck und stelle sprachliche Bilder her, die ohne gedanklichen Umweg sich in meinem Kopf als Selbsterlebtes spiegeln. Vielleicht, weil die Texte von Kurt Aebli das Leben in der Stadt spiegeln: Situationen in den Straßen und Einkaufszonen, in Parkhäusern oder im morgendlichen Gedränge der Vorortszüge. Auch eine plausible Erfahrung ist: dass der Blick auf den eigenen Körper, auf eine „mir unbekannte Hand, (die) dies hier schreibt“, sich kaum unterscheidet von jener Fremde der Körper der Anderen, die ich scheinbar nur von Außen betrachte. Mich selbst schaue ich kaum weniger von außen an, auch mich begreife ich wie eine Fremde. Was unterscheidet meinen Blick auf mich selbst mithin vom Blick auf die Anderen? Ich stecke „auch in dieser Haut“, aber wessen Haut ist es? Wer schreibt, wenn ich schreibe? Schreibt nicht die Sprache vielmehr mich? Vielleicht ist das ein Tick zu viel Heidegger für Aebli. Auch wenn es so klingen mag, als sei das Ganze kompliziert: Aeblis Gedichte bestechen durch ihr schlichtes Auftreten.

Kurt Aebli ist zeitgenössischer Autor, er lebt in der Schweiz und hat bereits mehrere Gedichtbände veröffentlicht, zunächst bei Suhrkamp, inzwischen beim Urs Engeler Verlag. Überfliegt man einige bisher erschienene Kritiken zu seinen Texten, ist allseits nur Lob zu finden. Einigkeit herrscht darüber, dass Aebli mit den Worten nicht leichtfertig um sich werfe, seine Verknappung der Form wird gelobt, die Sparsamkeit im Umgang mit dem Sprachmaterial, dass er kein Wort zu viel aber auch keines zu wenig hinschreibe, dass weniger Formulierungslust als ein existenzieller Kern in den Sätzen stecke, die zugleich von einer eigentümlichen Komik getragen seien und Denkmuster in Frage stellen und dadurch die Wahrnehmung schärfen. Das sind alles Dinge, die man von guter Lyrik erwarten darf. Der Lieblingssatz aller Rezensenten scheint jener meistzitierte zu sein:

(Zitat Seite 10)

„heute habe ich alles getan um nicht als Stechpalme zu enden“ – Der absurde Vergleich ist hinreißend komisch und lehrt uns doch auf schlichte, bescheidene Art, dass die allermeisten Vergleiche ebenso absurd oder an den Haaren herbei gezogen sind, wir es nur nicht bemerken, weil sie dem Kanon der übertriebenen Selbstansprüche angehören, den wir zu selten in Frage stellen. Der Humor, hergestellt durch Verwechslung und Verschiebung, findet sich an vielen Stellen in diesem Gedichtband. So zum Beispiel, wenn ein Passant sich beobachtet fühlt und vermutet, er würde angesehen wie ein Hund von der Größe eines Kalbes, oder wenn sich eines der Gedichte der automatischen Klospülung annimmt, wie man sie in Hotels oder an Autobahnraststätten findet:

(Zitat Seite 14)

Dass tatsächlich alle diese Texte, auch wenn sie vor Skurilität leuchten, ziemlich ernsthafte Fragen umkreisen, ist klar: nicht in der Bedeutungslosigkeit (als Stechpalme) versinken (enden) zu wollen, oder an anderer Stelle, wenn das Motiv der Brennessel wiederaufgenommen wird:

(Zitat Seite 15)

Wie überhaupt das ganze Schreiben und Sagen des auktorialen Ichs in diesen Texten einem Unbehagen zu entspringen scheint…

(Zitat Seite 32)

Nicht alle Gedichte in diesem Band erscheinen in Versform und die wenigsten scheinen prosodisch, also lautmalerisch-rhythmisch durchgearbeitet. Es handelt sich für meinen Geschmack weniger um eine Poesie der Worte als um eine Poesie der Gedanken. Oft sind es einfache Sätze, die einander folgen und auf den ersten Blick wenig miteinander vereint. Auch auf den zweiten Blick könnten die meisten Sätze für sich stehen. Wer Bezüge sucht, findet welche. Und doch: diese Sätze brauchen einander nicht, um zu bestehen. Auf mich wirkt es, als sei da jemand, dem es eine Freude bereitet, Unvermutetes in den Raum zu stellen und seinen Lesern zu überantworten. Eine der wenigen längeren zusammenhängenden Textpassagen ist folgendes Gedicht:

AN BEIDEN ENDEN (METAMORPHOSEN)

Dieser Morgen wenn Morgen das rechte Wort ist ein Grinsen wie ein
Brief ohne Marke oder Wege eines Duftes den ich im Schlaf fotogra-
fiert habe mit den Worten Alle Zeichen am Himmel treiben getrennt

Es  ist die Straße die mir das Wort erteilt im Stammesgebiet von
Fortschritt und Wissenschaft die Straße die mir das Wort erteilt
der Dienstweg zum Nichts

Ich habe wenig Boden ich habe die Zeit die ich warte ich habe die
Meilen die ich nicht zähle wenn ich gehe mit dem Ziel niemals
stehenzubleiben irgendwo um nicht zur Rede gestellt zu werden was
ich hier tue welkes Blatt weggefegt von einer einzigen Frage

Die Fußgängerzone gepflastert mit Wochenendmenschen Vor-
stadtmenschen Menschenmassen Menschenrassen Rohfassungen
von Pronomen fallengelassene Wörter in den Gräben zwischen mir
und mir

Auch die Stadt in der du täglich erwachst ist einfach so dahin phan-
tasiert (An dem Tag an dem sich Gott in eine Fliege verwandelt
erwachst du nicht)

Als ich das Haus verließ hatten sich alle Menschen auf der Straße
in Käfer verwandelt

An jeder Ecke ist die Stadt eine ganze Stadt etwas Grenzenloses und
kann sich doch jeden Augenblick in ein Gefängnis verwandeln

Eines Nachmittags unterwegs in der Leopoldstraße Verwandlung
in einen dieser Knoten die sich in nichts auflösen sobald man an
beiden Enden der Schnur gleichzeitig zieht

Die Auflösung dieses Textes ist erstaunlich, aber sie funktioniert. Schreiben ist so, wie aufzustehen und durch eine Stadt zu gehen, in der stets alles in Bewegung zu sein scheint, im Wandel begriffen, eine Überforderung der Sinne, Wechselspiel eines sich aufbauenden und wieder auflösenden Sinns. Sprachreflexion spielt eine Rolle, auch das selbstredend bei guter Lyrik, aber auch sie scheint fest verankert in einer Art Alltagssprache: immer wieder tauchen Formulierungen auf, die sehr poetisch wirken und dennoch manchmal wie Fehlleistungen im Alltagsjargon anmuten:

(Zitat Seite 18)

Hinter diesem Gedicht steckt eine wahre Begebenheit, eine ungute Begegnung, Zusammentreffen von Gegensätzlichem und vielleicht nicht Vereinbarem. Splitter, Reflexionen dessen, was geschehen ist, während etwas nicht geschah, nicht zustande kam, vielleicht nicht zustande kommen kann. Aber es bleibt die Hoffnung, der Versuch: „Die Anstrengung wenigstens meine Ränder verstehbar zu machen“ Ausgangspunkt der Gedichte von Kurt Aebli scheint häufig ein Mangel zu sein, etwas das fehlt:

(Zitat Seite 20)

Ein anderes Gedicht widmet sich dem Unausgeführten und Unausgesprochenen als Motive des Schreibens:

Was ich nie tun werde als ein
Hochseil betrachten auf dem ich
gehe

Was ich nie
gesagt habe jeden Tag
wässern bis die
Sprößlinge
zum Vorschein kommen

(Alles andere wäre Verschwendung)

Das Nichts ist nicht nur ein Dreh- und Angelpunkt des Blicks, den diese Texte auf die Welt werfen, es entpuppt sich gleichsam als eine ungeahnte Fülle.

(Zitat Seite 37)

Ich habe lange keine treffendere Beschreibung des sogenannten Zwischenmenschlichen gelesen als in diesem Gedicht. Die Rolle der Sprache, dessen was zwischen Leuten ausgesprochen wurde und wie es stumm lauert, auf das was folgen mag. Wie das Gesagte in sein nachhallendes Schweigen hinein reicht, wie es die Stille beäugt, erwartungsvoll. Die Macht der Worte: Worte hervorzurufen. Die Macht des Sinns: Sinn zu evozieren. Als sei es ein Drang der Sprache, sich selbst immer weiter zu spinnen, sich immer weiter anzuhäufen. Widerständig ist hier nur das Gefühl, welches sich noch keine Sprache hat schaffen können. Es ist Urheber eines Schweigens, noch, das wohltuend und produktiv ist. Dieses Schweigen ist ein seltener, wertvoller, oft viel kurzer Denk- und Zwischenraum für Erkenntnisse. Nun habe ich schon viel hineingelesen in einige der Gedichte, die der Band „Ich bin eine Nummer zu klein für mich“ von Kurt Aebli versammelt, und will aber nicht vergessen, das titelgebende Gedicht zu erwähnen.

Die Stadt spricht mit sich selbst
manchmal möchte ich nur noch auf einer Baustelle
Zementsäcke schleppen umgeben von
Dreck Schutt und betäubendem
Lärm schaufeln hämmern bohren undsofort
die Fragen stellt die Gitarre
ich bin eine Nummer zu klein
für mich
lächelnde Gleichgültigkeit
der Wolken

Im Textzusammenhang wird deutlich, dass jenseits aller Sprachspiele eine fundamentale Verzweiflung am Werk ist, die der Frage nach der Bedeutsamkeit eines einzelnen Lebens, nach dessen Kräften, auf die Realität einzuwirken oder auch nur Teil der (öffentlichen) Realität zu sein, ebenso unausweichlich stellt, wie es sie durch Gleichgültigkeit relativiert sieht. Das zielt unmittelbar auf die Frage nach einem politischen Handlungsspielraum des Einzelnen. Das anschließende Gedicht „Die Tapete ist abgereist“ versucht, wenn auch keine Antwort, so doch eine Annäherung an die Frage: die Verhältnisse müssen in Bewegung gebracht werden, auch wenn es aussichtslos scheint.

Die Tapete ist abgereist ich bin noch da (…)
Empfindliche Wortfolge nur vom Schweigen gestützt (…)
Blaues Vergessen: durch die Mündung eines Revolvers
im Auge behaltener Himmel (…)
Das vom Erdboden Verschluckte ist der Erdboden
Nur noch das Meer ist bereit zu handeln (…)
Der Ozean mit seiner angeborenen

Großzügigkeit im Ohrfeigenausteilen (…)
Ein letzter Blick in den Spiegel überzeugt mich
daß mein Gesicht über die Ufer getreten ist (…)
In meinem Zimer gibt es Unmengen von Augenwimpern

Dies waren nur Auszüge aus dem Gedicht, welches ich für eines der Vehementesten des ganzen Bandes halte. Viele der Texte setzen sich, wie gesagt, aus einzelnen Sätzen zusammen, die sich im Kopf der Lesenden zu den unterschiedlichsten Zusammenhängen verknüpfen mögen. Es gibt keine Regel, kein Gesetz, wie die Sätze richtig zu lesen seien. Manchmal steckt in einem einzigen Satz ein ganzes Gedicht. Die Sprache bleibt in Bewegung, keine verbalen Kapriolen und keine wortverliebten Eitelkeiten, auch keine selbstvergnüglichen, gedanklichen Verrenkungen, und keine Verschlußsätze, keine Soundnichtanders-Sätze. Nur ganz selten sind einzelne Sätze überfrachtet, wie zum Beispiel:

„Mein Name ist an mir gescheitert“

Mir persönlich ist dieser Satz unsympathisch, vielleicht deshalb, weil Namenstheorien in Sprachund Literaturwissenschaft, in Philosophie und Geschichtsschreibung… kurz in jeder Form sinnversuchter Exegese ein so gewichtiges Unternehmen zu sein scheinen, dass es mit einem einzigen Satz so nicht (ab)getan ist. In der Regel aber sind die Sätze von leichthändiger Widerständigkeit, die das Denken beflügelt. Und von einer Originalität, die einfach Spaß macht.

„So wie die Dinge stechen sagte er“
„Auf dem Bahnsteig knipsen uns die unglaublichsten Dinge“
„Eine Pralinenschachtel voller Spaziergänge und Höflichkeiten
Das verstandesbedingte Isoliermaterial
Die Einteilung der Welt in zwei Spiegel
Und er sagte ich habe mir das Zuhause abgewischt
Ein Pfefferminzbonbon eine Redensart eine Hoffnung mit leicht
hochgezogenen Augenbrauen“

Wie gesagt, mein Eindruck ist es, die Gedichte von Kurt Aebli folgen eher einer Poesie des Sinns als einer Poesie der Worte. An schriftstellerischer Kunstfertigkeit liegt dem Autor nicht besonders. Meist zum Wohl der Texte. Aber bei aller Freude über die originellen Denke der Texte, fühlte ich mich doch manchmal wie Roxane aus Edmond Rostands „Cyrano de Bergerac“, die voller Erwartung und zu größtem Entzücken bereit, dem wortverlegenen Christian zuruft: Verzieren Sie das! Seine Antwort:

„Madame es ist kein Zucker mehr da“
Und dann, nach einem längeren Schweigen, fährt er fort:

(Zitat Seite 50)

Woraufhin sie, angesichts solch wunderbar poetischer Respektlosigkeit, in noch größeres Entzücken ausbricht. Was mir besonders gefällt an Kurt Aeblis Gedichten, ist das messerscharfe Durchschauen konventioneller gesellschaftlicher (Sprech- und Denk-) Praktiken, das sie wiederholt erkennen lassen:

(Zitat Seite 61 + 62)

Mit anderen Worten, die poetischen Texte von Kurt Aebli haben Witz, sie sind klug, liebenswert und zu Lesen wärmstens empfohlen.

A. Delissen, Lorettas Leselampe, 10.2.2008

In Gedichten festigt sich das Flüchtige

– Kurt Aebli (52) ist ein Lyriker von hoher Sprachsensibilität. Diese demonstriert er auch im Gedichtband Ich bin eine Nummer zu klein für mich. –

„Eines Nachmittags unterwegs in der Leopoldstrasse Verwandlung in einen dieser Knoten die sich in nichts auflösen sobald man an beiden Enden der Schnur gleichzeitig zieht“: Sätze wie dieser finden sich in dem Gedichtband Ich bin eine Nummer zu klein für mich des 1955 im zürcherischen Rüti geborenen Kurt Aebli, der am 31. August beim Basler Lyrikfestival den erstmals vergebenen, mit 3000 Franken dotierten Basler Lyrikpreis erhalten wird. Sparsam sind die Worte gesetzt, doch mit hoher Präzision. Fugenlos fügen sie sich aneinander. Die Bedeutungsräume, die sie öffnen, entstehen nicht aus Leerstellen und Aussparungen, sondern sie umschliessen die rhythmisch genauen Zeilen wie Hüllen und Aureolen. Nicht das Ungesagte ist es, was bedeutend wird, sondern das Gesagte entfaltet, was in ihm eingeschrieben ist. Gleichgültigkeit der Wolken Kurt Aebli gibt Konzentrate, die nicht verschweigen, sondern verdichten. „Die Tapete ist abgereist ich bin noch da“, heisst es in einem der Gedichte, und: „Empfindliche Wortfolge nur vom Schweigen gestützt“. In solchen kurzgefassten Zustandsanzeigen und Wahrnehmungen spricht sich ein melancholisches Ich aus, das sich „eine Nummer zu klein für mich“ weiss und die „lächelnde Gleichgültigkeit der Wolken“ über sich erkennt. Ohne Spielerei. Nur beim ersten Hinsehen kippen die Bilder ins Surreale. Der genauere Blick, das aufmerksamere Hinhören lassen vielmehr das Flüchtige sich verfestigen, sie machen es dingfest und geben dem Ich jenen genau bemessenen Weltausschnitt vor, gegen den es sich unterscheiden, in dem es sich seiner selbst vergewissern kann. Das sind Gedichte voller Intensität, die mit Wörtern nicht Spielerei betreiben: Genau gewählt und erwogen, vergewissert sich der hier spricht seiner eigenen Existenz und Gegenwart.

Urs Bugmann, Neue Luzerner Zeitung, 5.8.2008

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLG
shi 詩 yan 言 kou 口

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00