Kurt Drawert: Zu Bertolt Brechts Gedicht „Schlechte Zeit für Lyrik“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Schlechte Zeit für Lyrik“ aus Bertolt Brecht: Die Gedichte Bertolt Brechts in einem Band. –

 

 

 

 

BERTOLT BRECHT

Schlechte Zeit für Lyrik

Ich weiß doch: nur der Glückliche
Ist beliebt. Seine Stimme
Hört man gern. Sein Gesicht ist schön.

Der verkrüppelte Baum im Hof
Zeigt auf den schlechten Boden, aber
Die Vorübergehenden schimpfen ihn einen Krüppel
Doch mit Recht.

Die grünen Boote und die lustigen Segel des Sundes
Sehe ich nicht. Von allem
Sehe ich nur der Fischer rissiges Garnnetz.
Warum rede ich nur davon
Daß die vierzigjährige Häuslerin gekrümmt geht?
Die Brüste der Mädchen
Sind warm wie ehedem.

In meinem Lied ein Reim
Käme mir fast vor wie Übermut.

In mir streiten sich
Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum
Und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers
Aber nur das zweite
Drängt mich zum Schreibtisch.

 

Gute Zeit für Lyrik

Wer schlechte Nachrichten bringt, hat Zuspruch nicht zu erwarten. Warum aber überbringt er sie dann? Könnte er nicht auch die Botschaften tauschen und verkünden, was gerade gewünscht wird? Zumal er, wie im Falle des Brechtschen Gedichtes, selber entscheidet, welche Nachricht seinen Schreibtisch verläßt? Es muß also ein Motiv geben, das stärker ist als das Begehren, geliebt und geehrt zu werden. Wir erfahren es mit dem letzten Satz: es ist die Empörung.
Zunächst aber beginnt das Gedicht, geschrieben 1939 im dänischen Exil, mit einem Zeichen von Resignation. Ich bin unglücklich, sagt das lyrische Ich, und meine Stimme wird man nicht hören wollen. Es rechnet damit, kein Souverän auf einem Podium zu sein mit einem gesicherten Anspruch auf Wirkung. Eher steht es auf verlorenem Posten gleich dem Verfasser, der aus der Ferne mit seinem Land spricht. Aber Sprache realisiert sich nur im Dialog, und ein Text findet seinen Sinn erst in dem, den er anspricht.
So erklärt sich das Ich, das zu uns redet, einverstanden mit dem Bedürfnis des Lesers nach Harmonie. Allerdings nur für den Augenblick, den es braucht, ihn zu gewinnen, um sofort, schon in der zweiten Strophe, den Glanz des Harmonischen, Schönen radikal in Frage zu stellen: auch wenn die Vorübergehenden den verkrüppelten Baum einen Krüppel schimpfen, so gibt er doch einen Hinweis auf die Beschaffenheit des Bodens, auf dem er steht. Dieses grandiose Bild versperrt jeden Fluchtweg. Selbst das nachgestellte „Doch mit Recht“, das noch einmal den fremden Blick imitiert, hat nicht mehr die Kraft, die Dialektik des Bildes außer Kraft zu setzen. Er, dessen Glück gebrochen und dessen Gesicht häßlich geworden ist, er spricht zugleich über die Verhältnisse, wenn er über sich spricht, und seine Einzelheit wird exemplarisch. So darf auch das Gedicht, wo es wahr werden möchte, nicht schön sein wollen. Allein deshalb jeder Verzicht auf Elemente der hohen, lyrischen Rede, auf Glamour und poetische Raffinesse, denn „In meinem Lied ein Reim / Käme mir fast vor wie Übermut“.
Das ist auch ein Bekenntnis und ein literarischer Standort. Der Dichter ist kein Lieferant von Bestätigungsschriften, und er kann nicht frei über die Stoffe verfügen, die ihn zum gültigen Text bringen können. Eher gleicht er einem Spiegel, der reflektiert, was ohne ihn unsichtbar wäre, und er spricht aus, was andernfalls stumm und damit abwesend bliebe. Was nicht in der Sprache erscheint, darüber kann nicht gesprochen, und es kann nicht verändert werden. Diese Tatsache ist ebenso simpel, wie sie gerade Diktaturen ihr Fundament gibt. Deren Bedingung ist es, Sprache und damit Bewußtsein zu zerstören, um sich selbst am Leben zu erhalten, und so begründet sie ihre Macht im erzwungenen Schweigen. Aber das Schweigen ist keine Leere, sondern Sprache, die ihre Verlautbarung sucht. Je größer und damit bedrückender es wird, um so stärker wird auch das Wort, das daraus erwächst. Kann die Zeit für Lyrik, wie der Titel des Gedichtes sagt, also tatsächlich schlecht sein?
Das Zentrum des Gedichtes bildet die dritte Strophe, die mit sieben Versen die längste darstellt und auch optisch den Mittelpunkt einnimmt. Hinter dem lyrischen Subjekt können wir nun klar den Autor erkennen, und mit ihm sehen wir aus dem Fenster seines Hauses am Svendborg Sund in die Landschaft. In einem Fragesatz, von dem aus das Gedicht sich organisiert, werden wir nun Zeugen eines quälenden Zweifels: warum nur mischt man sich ein in die Geschicke der Welt und überläßt sie nicht ihrer blinden Bestimmung.
Er, der hier mit sich selbst spricht, sieht „Die grünen Boote und die lustigen Segel des Sundes“ sehr wohl, auch weiß er, daß „die Brüste der Mädchen warm sind wie ehedem“. Warum also redet er „nur davon / Daß die vierzigjährige Häuslerin gekrümmt geht?“ Für die Zeit eines Strophensprunges sind wir allein. Natürlich ist er weiter als wir und hat seine Zweifel nur konstruiert, um sie für uns zu verwerfen. „Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum“ drängt nicht, Sprache zu werden. Aber „das Entsetzen über die Reden des Anstreichers“ Hitler, die Empörung also, die mehr wiegt, als die betäubende Lust am schönen Text, sie ist die Energie, die dem Autor Stimme verleiht.
Das Gedicht kommt und geht leise. Klar und kühl spricht es aus, was es weiß. Kein dunkler, metaphysischer Grund, keine ästhetische Verrenkung mit versteckt gehaltenem Sinn, keine Sprache, die sich einem zu starken Interesse an Poesie unterwirft. Fast scheint es, als verweigerte es seine lyrische Gestalt, wäre nicht der Wille des Verfassers zu einem Gedicht dadurch erkennbar, daß er Strophen und Verse gesetzt hat. Gerade diese Absichtslosigkeit aber ist es, die das Gedicht eindringlich macht. Es will fast nichts, deshalb erreicht es fast alles.

Kurt Drawertaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Einundzwanzigster Band, Insel Verlag, 1998

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