Kurt Oesterle: Zu Georg Heyms Gedicht „Robespierre“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Georg Heyms Gedicht „Robespierre“ aus Georg Heym: Dichtungen. –

 

 

 

 

GEORG HEYM

Robespierre

Er meckert vor sich hin. Die Augen starren
Ins Wagenstroh. Der Mund kaut weißen Schleim.
Er zieht ihn schluckend durch die Backen ein.
Sein Fuß hängt nackt heraus durch zwei der Sparren.

Bei jedem Wagenstoß fliegt er nach oben.
Der Arme Ketten rasseln dann wie Schellen.
Man hört der Kinder frohes Lachen gellen,
Die ihre Mütter aus der Menge hoben.

Man kitzelt ihn am Bein, er merkt es nicht.
Da hält der Wagen. Er sieht auf und schaut
Am Straßenende schwarz das Hochgericht.

Die aschengraue Stirn wird schweißbetaut.
Der Mund verzerrt sich furchtbar im Gesicht.
Man harrt des Schreis. Doch hört man keinen Laut.

 

Im Bauch der Geschichte

Das Gedicht hat einen überprüfbaren historischen Gehalt. Es ist eines Datums eingedenk: des 28. Juli 1794. An diesem Tag wurde in Paris Robespierre hingerichtet, der Revolutionär, der zum Diktator geworden war. Die Details sind stimmig, selbst das sonderbare Bild des durch die Backen eingezogenen Schleims. Robespierre hatte versucht, dem Schafott zu entgehen, und sich eine Kugel in den Mund geschossen, die aber nur seine Kinnlade zertrümmerte. Notdürftig verarztet, wurde er zum Richtplatz gekarrt. Schreibt hier einer vom Geschichtsbuch ab? Pickt er sich einen bedeutsamen Augenblick der Weltgeschichte heraus, um ihn mit lyrischer Gruselstimmung aufzuladen?
Heyms Gedicht entstand im Juni 1910 und gehört zu einem Zyklus mit Gedichten auf die Französische Revolution. Wie die übrigen Sonette daraus – etwa auf Louis Capet, vormals König Ludwig XVI., oder auf Danton – hält es letzte Lebensaugenblicke fest. Seine Sprache ist schmucklos, das krasse Gegenstück zu den bekannteren Gesängen des Expressionisten Heym. Kein allegorisches Ungeheuer betritt stampfend die Szene, kein Monster oder mythischer Riese, der aus versteckten Gewölben aufgestanden ist und den Mond in seiner schwarzen Hand zerdrückt.
Auch ist es ein Gedicht ohne Ich. Heym verachtete den Subjektivismus der Tradition. Fast wie in einer Reportage teilt er in schneller Abfolge äußere Eindrücke mit, atemlos und wie halblaut in ein Mikrophon gesprochen oder als flüchtiges Protokoll mitgekritzelt. Durchweg dominieren Einzelheiten kruder Leiblichkeit. Echte Subjekte, mit Vernunft, Sprache und Bewußtsein, sind nicht vorhanden. Das Geschehen rollt ab wie nach geheimer Dramaturgie. Erst später wird der Zweck der Veranstaltung erkennbar. Doch niemand reagiert eindeutig darauf, etwa mit Abscheu vor dem blutigen Treiben oder mit Freude über das Ende des Tyrannen. Der Tod selbst scheint der Held dieses Stücks.
Wie nie zuvor wurde der Tod während der Französischen Revolution zum öffentlichen Ereignis. Davon fasziniert und beängstigt, stößt Heym mit der Sonde seiner Poesie ins Dunkel dieses öffentlichen Rituals vor. Er entdeckt dort einen subjekt- und ichlosen Bereich der Geschichte, beherrscht von unkontrollierbaren Leidenschaften, von einer amoralischen Lebensfreude und Daseinslust. Spürbar mißtraut er solchem Volkswillen aus dem Bauch.
Was der Einzelgänger Heym auf seinen Abwegen findet, ist seinen Zeitgenossen fremd. Seine Epoche huldigt einem fröhlich-naiven Historismus, der nur große Männer, weitsichtige Führer und gewonnene Schlachten kennt. Sie weiß nichts und will nichts wissen von solchen Unterwelten, sie akzeptiert keine derart brüchigen und unberechenbaren Verhältnisse. Die wilhelminische Gesellschaft glaubt an den Fortschritt und an ihr Recht, sich einen weltpolitischen „Platz an der Sonne“ zu erobern. Notfalls durch Krieg, den sie rational bedienen zu können meint. Ängste, Visionen und Alpträume hat sie verbannt. Sie kehren ihr in Heyms Gedichten wieder.
Heym beweist feines Gespür für Mißverhältnisse. Robespierres Fahrt ist in Volksfeststimmung getaucht. Seine Ketten klingen nach Narrenschellen; dazu ertönt Kinderlachen; der gestürzte Herrscher, bis vor kurzem unnahbar, wird zum Zombie oder zum Tanzbären, den man necken darf. Heyms modernes Massenspektakel erscheint als Grauen, das mit den Stimmungselementen von Zirkus, Sportpalast und Jahrmarktgaudi inszeniert ist. Unter dem Firnis ahnt er den drohenden Zivilisationsbruch.
Am Ende dann unvermutet doch noch ein Funke Hoffnung: Robespierre, degradiert zum Todesclown, verweigert der Menge den Schrei. Ist dies als Widerstand eines Ausgelieferten zu verstehen, der das Spiel durchschaut? Stört er die gemeinsame Erwartung, indem er seine fast schon erloschene Individualität noch einmal, im Schweigen, aufflackern läßt? In Heyms dichterischer Welt ist das so unwahrscheinlich, daß man es sich allenfalls zu fragen traut.

Kurt Oesterleaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiundzwanzigster Band, Insel Verlag, 1999

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