– Zu Georg Heyms Gedicht „Winterwärts“ aus Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Band I. –
GEORG HEYM
Winterwärts
Eben noch goldiger Maienglanz
Heute schon fallender Blätter Tanz.
Müde senkt sich der welke Mohn
Leise taumeln die Flocken schon.
Und ein großes Schweigen
Hüllt die Welten ein.
Tod mit seiner Geigen
Schreitet auf dem Rain.
Sechzehn Jahre alt war Georg Heym, als er dieses Gedicht schrieb. Gymnasiastenpoesie also? Der Begriff versagt in Fällen wie diesem. Die siebzehnjährige Sibylla Schwarz, aufgewachsen im Dreißigjährigen Krieg, hat Gedichte von makellos geschmeidiger Form hinterlassen; Verse des achtzehnjährigen Hugo von Hofmannsthal zählen zu den schönsten des Dichters.
Aber oft fällt auf frühe Texte eines Autors etwas vom Glanz späterer Werke zurück, weil sie uns als Stufen zur Vollendung wichtig werden. Umgekehrt will an poetische Etüden nicht gleich der höchste Maßstab gelegt werden. Anakreontische Gedichte des jungen Goethe sind nicht unbedingt schon ein Ausweis des Genies. Kindesgenialität bei Dichtern gibt es schon gar nicht. Mozart, der im Knabenalter das Publikum europäischer Konzertsäle zur Bewunderung hinriß, hat in der Literatur keine Entsprechung. Das Jahr 1912 ist Stichdatum eines großen kulturgeschichtlichen Umbruchs. In Wassily Kandinskys und Franz Marcs Almanach Der blaue Reiter bekennt ein neuer Kunststil Farbe: der Expressionismus. Zu den Autoren, die den literarischen Expressionismus in den Sattel heben, gehört Georg Heym. In den mythisierenden und dämonisierenden Bildern seiner zwischen 1910 und 1912 entstandenen Gedichte werfen Technik, großstädtische Steinwüsten und Krieg mächtige, bedrohliche Schatten ins menschliche Leben.
In seiner sonst so verdienstvollen Ausgabe rückt Karl Ludwig Schneider die Gedichte dieser Jahre ins Zentrum und verbannt die vorher entstandenen Texte in einen „Anhang“. Ich habe mich bei einer Neulektüre an diese Wertung nicht gehalten. Man liest dieselben Texte in anderer Lebenssituation anders. Eigene (innere) Erfahrungen sind Seismographen der Gedichtlektüre. Und so habe ich das Gedicht „Winterwärts“ erst jetzt „entdeckt“.
Mich hat, abgesehen vom Thema, der Text durch seinen Lapidarstil bestochen, der im Gegensatz steht zu den ausladenden Bildreihen, manchmal auch rhetorischen Parforceritten späterer Gedichte Heyms. Alles ist hier auf Konzentration gestellt. In äußerster Zeitraffung wird ein ganzes Jahr zusammengezogen. Analogien zum menschlichen Lebensganzen brauchen nicht einmal angedeutet zu werden.
In der ersten Strophe hält sich Heym ganz an Naturbilder. Der Jahresverlauf zum Winter hin erscheint als Abwärtsbewegung. Aber es ist ein Fall in Abstufungen: zunächst als Tanz, dann als müdes Sinken, schließlich als Taumeln. Der Übergang vom Taumeln zum Schweigen bildet die Brücke zur zweiten Strophe. Und nun setzt Heym das allegorische Bild ein, das in Kunst und Dichtung so vielfach überliefert und doch nicht zum Klischee geworden ist. Daß hier der Tod nicht mit der Sichel, sondern der Geige auftritt, antwortet noch einmal auf das Motiv des Tanzes im zweiten Vers. Aber der tänzerische Rhythmus der ersten Strophe hat in der zweiten einem härteren Schritt weichen müssen.
Das poetische Netzwerk dieses Gedichts ist von großer Dichte. Acht knappe Verse genügen, das Bewußtsein von Vergänglichkeit, die Erfahrung der galoppierenden Zeit auszudrücken. Daß dies ein „alterskluges“ Gedicht sein könnte, vergißt man angesichts der Biographie des Autors. Als Vierundzwanzigjähriger, im Winter 1911/12, brach Heym beim Schlittschuhlaufen ins Eis der Havel ein. Waldarbeiter, die ihm nicht helfen konnten, wollen eine halbe Stunde lang seine Hilfeschreie gehört haben. In diesen dreißig Minuten wurde die galoppierende zur reißenden Zeit.
Walter Hinck, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebenundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2004
Schreibe einen Kommentar