Lucebert: Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Lucebert: Gedichte

Lucebert/Lucebert-Gedichte

DER BEGINN

Das bißchen Wirklichkeit
Wird weniger und weniger
Alle blaue Ferne verzehrt das Echo
Alles klare Gelbe frißt die Weite an
Stimmen gibt es die sich krümmen wie brennende
aaaaaBlätter

Fußtapfen flüchtig wie Flügelschläge
Komm Blinde komm Taube komm Stumme
Es ist ein Staat errichtet aus Stille
Aus Dunkelheit und Stillsein

Man darf wieder schweigsam sein und weise sein
Die nassen giftigen Spuren der Innenbilder sind ausgewischt
Man darf wieder stillstehen und staunen
Und mit allen Dingen gehn

Und wandeln in mondglatten Gärten
Vorbei an leeren Schneckenhäusern und Kieseln
Vorbei an hartem Harz Kristallen trocknen Zweigen
Und glimmend sprechen in das Leere

 

 

 

Sieben Anläufe zur Unterscheidung von Malerei und Literatur

im Hinblick auf den Maler und Gedichtschreiber Lucebert

1. Anlauf
Wer ein Bild macht zeigt etwas.
Wer Literatur macht redet über etwas.
Wer etwas zeigt macht etwas anschaubar. Er veranschaulicht.
Veranschaulicht ist etwas: als Bild anschaubar. Etwas das es gibt wird gezeigt: Bild. Ein Bild machen heißt veranschaulichendes Zeigen als Hauptsache nehmen. Veranschaulichendes Zeigen als Hauptsache nehmen heißt die Mittel des Zeigens auf dies veranschaulichende Zeigen ausrichten. Die Mittel auf dies veranschaulichende Zeigen ausrichten heißt im äußersten Fall daß die Mittel als Bild gezeigt werden können. Wer Literatur machend über etwas redet sagt mithilfe von Sätzen an welcher Stelle innerhalb dieser Sätze etwas steht. Ober etwas das es gibt in Literatur reden heißt nicht etwas zeigen sondern etwas einordnen. Ich rede über etwas literarisch redend im Zusammenhang. Auch die unzusammenhängende Rede redet literarisch im Zusammenhang. Im Zusammenhang der Sprache. Sprache ist ein Zusammenhang ohne den ich literarisch nicht reden kann.
Etwas als Bild zeigen hebt etwas aus dem Ununterscheidbaren in dem es sich bildlos befindet heraus und hebt es hervor. Das Hervorgehobene scheint auf das Ununterscheidbare zurück und macht Unterscheidungen.
Über etwas als Literatur reden zeigt etwas im Zusammenhang von Sprache. Identifiziert etwas namentlich und syntaktisch als etwas das mit anderem namentlich und syntaktisch Identifizierbarem zusammenhängt. Im Zusammenhang gezeigt hebt dies Zeigen auch etwas hervor.
Wer ein Bild macht zeigt etwas das gezeigt auf Zusammenhang zurückscheint.
Wer Literatur macht bringt etwas darüber redend in den Zusammenhang von Sprache in dem es dann hervortritt.

2. Anlauf
Was ist etwas das als Bild gezeigt oder worüber in Literatur geredet werden kann?
Etwas ist die Sache um die es geht. Etwas ist die Sache um die es geht wenn man etwas zeigend ein Bild macht. Etwas ist die Sache um die es geht wenn man darüber redend Literatur macht. Die Sache um die es geht kann als das bezeichnet werden was der Fall ist. Die Welt ist alles was der Fall ist. Die Sache um die es geht kann als der Zusammenhang bezeichnet werden in dem sich der befindet der etwas zeigend ein Bild macht oder über etwas redend Literatur macht. Die Sache um die es geht kann als das bezeichnet werden was für den der etwas zeigend ein Bild macht oder über etwas redend Literatur macht das Ausschlaggebende ist: Vereinzelndes Verbindendes Gemeinsames Subjektivität Gesellschaft Überbau Religion Kultur usw. Etwas als die Sache um die es geht gezeigt als Bild kann dann auch etwas sein über das in Literatur geredet wird. Etwas als die Sache um die es geht kann gezeigt als Bild und darüber geredet als Literatur in Erscheinung treten. Ist etwas das als Bild gezeigt in Erscheinung tritt dasselbe etwas das als Literatur in Erscheinung tritt?

3. Anlauf
Historisch gesehen gibt es für die Tradition aus der wir auch heute noch nicht herausgetreten sind ein bestimmtes Ausgangsverhältnis von Literatur und Bild.
Über Jahrhunderte hinweg zeigten Bilder allein etwas über das sprachlich bereits geredet worden war. Bilder zeigten worüber die religiöse Literatur und von dieser ausgehend auch die nichtreligiöse Literatur bereits geredet hatte. Etwas: als die Sache um die es ging wurde literarisch im Zusammenhang gezeigt. Die Bilder zeigten etwas das diesen Zusammenhang bestätigte. Der Rückverweis stellte einen Zirkel her in dem lange Zeit alles worum es ging untergebracht war.
Dennoch war offenbar in der Herstellung dieses Zirkels der Anfang einer Bewegung enthalten die sich dann historisch entwickelte. Die Mittel der Abbildung mit deren Hilfe im Bild gezeigt wurde was literarisch vorgeredet war hatten die Tendenz sich selbständig zu machen. Umgekehrt hatte das literarische und philosophische Reden die Tendenz Zusammenhänge aufzusuchen und zu begründen die den ursprünglichen Zirkel überschritten usw. Etwas: im Bild gezeigt wurde zu etwas das als gezeigtes Bild auf eigene Faust sozusagen Entdeckungen machte. Etwas als Literatur darüber geredet wurde zu etwas das literarisch und philosophisch auf eigene Faust sozusagen Entdeckungen machte.
Bilder und Literatur traten aus dem Verhältnis in dem sie der ursprüngliche Zirkel gehalten hatte heraus. Sie zeigten etwas und redeten über etwas das nun geradezu die Tendenz hatte den Zirkel der theologischen Weltinterpretation zu zerstören, Etwas das sich als Bild zeigte und etwas über das als Literatur geredet wurde war geradezu etwas das diesen Zirkel zersetzte auflöste zerstörte.
Aus dieser Zersetzung Auflösung Zerstörung trat wie man sagt das Bild des Menschen hervor. Trat das Bild des Menschen hervor? Die Frage bleibt ob nicht etwas das als das Bild des Menschen bezeichnet wurde nur das Bild darstellte unter dem sich der Zirkel der theologischen Weltinterpretation in einen allgemeineren Zusammenhang (in die Form seiner Säkularisierung) hinüberzubewegen versuchte. Es bewahrte den ursprünglichen Zirkel unter den Kategorien des Schönen des Wahren des Zeitlosen.
Erst als etwas als Bild gezeigt wurde das diesen Kategorien widerstand aus ihnen heraustrat ihnen gegenüber verständnislos war wurde etwas das als Bild gezeigt wurde etwas das fragwürdig war. Erst als über etwas in Literatur geredet wurde das diesen Kategorien widerstand aus ihnen heraustrat ihnen gegenüber verständnislos war wurde etwas über das in Literatur geredet wurde etwas das fragwürdig war. Erst als der Abglanz des Schönen Wahren Zeitlosen nur noch in seiner vergangenen historischen Relation begriffen werden konnte war und ist etwas das als Bild gezeigt wird etwas das allein im Bild in Erscheinung tritt. War und ist etwas worüber in Literatur geredet wird etwas das allein in dieser darüber redenden Literatur in Erscheinung tritt. Ist etwas etwas das nicht als es selbst und nicht in einem vorgegebenen Zusammenhang in Erscheinung tritt sondern als etwas das als Bild gezeigt und worüber in Literatur geredet wird. Bild und Literatur haben nicht den gemeinsamen Bezug zu etwas das außerhalb von ihnen artikulierbar ist (als göttliche Offenbarung als Idee als unumstößliche Erkenntnis usw.). Bild und Literatur gehen parallel nach Maßgabe der Mittel mit denen sie verfahren. Im äußersten Fall sind Bild und Literatur diese Mittel selbst. Der Unterschied von etwas das als Bild gezeigt wird zu etwas worüber in Literatur geredet wird ist der Unterschied der Mittel mit denen er verfährt der ein Bild macht (von der leeren Leinwand bis zur Fotografie) zu den Mitteln mit denen der verfährt der Literatur macht (Sprache).

4. Anlauf
Etwas das nun als Bild gezeigt wird und worüber nun in Literatur geredet wird ist nun das wie man sagt Nichtschöne. Nicht das Häßliche das als Rückseite des Schönen zweideutig bleibt und nicht das Nichts. Sondern etwas das nicht als schön unterzubringen ist. Das bloß Materielle das Unästhetische der Abfall usw.
Das Nichtschöne das als Bild gezeigt wird und über das in Literatur geredet wird kann nun noch immer so etwas sein wie ein Spiegelbild oder etwas worin es sich sozusagen selbst reproduziert oder auch etwas worin das was einmal Bild und Literatur konstituiert hat (Rahmen ornamentale Bildeinheit Proportionsverhältnisse usw. syntaktische Gesetze Vokabuläres Bedeutungsambivalenzen usw.). Indem Bild und Literatur nun erst sozusagen auf sich selbst gestellt werden stehen sie erst für sich ein. Daß sie nun erst sozusagen für sich einstehn bedeutet jedoch nicht daß sie sich von dem was außerhalb von ihnen besteht von allem was vorhanden oder der Fall oder wie immer ist abgelöst haben. Es handelt sich nicht um l’art pour l’art, Im Gegenteil. Die Autonomität von Bild und Literatur hilft das was vorhanden ist aus den vorgegebenen Zusammenhängen herauslösen. Die Autonomität von Bild und Literatur scheint auf das was vorhanden ist zurück indeterminiert offen von Fall zu Fall. Die Autonomität des Bildes scheint zurück als etwas optisch Anschaubares als etwas in dem Vorhandenes sich optisch anschaubar finden kann. Die Autonomität der Literatur scheint zurück als etwas Sprachliches als etwas Artikulierbares.

5. Anlauf
Ein Maler der schreibt. Ein Schriftsteller der malt. Was tut er? Nicht das was früher manche taten. Nicht eine Nebensache neben der Hauptsache. Sondern sozusagen Erkundungen auf eigene Faust in verschiedenen Mitteln.
Gerichtet auf die Mittel Methoden Elemente des verschiedenen und unterscheidbaren Machens. Verbindung zwischen den Mitteln Methoden Elementen des verschiedenen und unterscheidbaren Machens ergibt sich nicht im Bezug auf etwas das als das eigentlich zu Zeigende außerhalb davon unterzubringen wäre. Verbindung ergibt sich allenfalls im versuchten Wechsel und Austausch der verschiedenen und unterscheidbaren Mittel Methoden Elemente. Versuchte Übernahme von Mitteln Methoden Elementen des Bildermachens in die Mittel Methoden Elemente des Gedichtmachens und umgekehrt. Zum Beispiel syntaktisch verstehbare Bilder bildhaft gezeigte Gedichte usw. Versuche dem: das die Mittel Methoden Elemente des Bildmachens von den Mitteln Methoden Elementen des Gedichtmachens trennt dies starr Trennende wegzunehmen und an die Stelle der grundsätzlichen Unterscheidbarkeit eine Mehrzahl variabler Typen zu setzen. Wobei in jedem Typus etwas Variables realisierbar erschiene.

6. Anlauf
Der Maler und Gedichtschreiber Lucebert (geboren 1924 in Amsterdam 1949 mit Appel Constant Corneille Jorn Mitglied der Gruppe Cobra einer Abkürzung aus Copenhagen Brüssel Amsterdam) zeigt etwas als Bild und redet über etwas im Gedicht. Wenn er auch zuerst Gedichte gemacht hat und dann Bilder (oder umgekehrt) gehört das nicht in die Kategorien von Hauptsache und Nebensache oder in eine Einstufung nach der biographischen Entwicklung. Sondern er hat in verschiedenen Mitteln Methoden Elementen sozusagen auf eigene Faust Entdeckungen gleichzeitig gemacht.
Der Gedichtschreiber und Maler Lucebert gehörte in der Gruppe Cobra zu denen die den Begriff des Nichtschönen ausdrücklich zu ihrem Programm gemacht hatten. Als einen Ausgangspunkt oder einen Anhaltspunkt kann man etwa l’art brute von Jean Dubuffet sehen. Auch Dubuffet hat versucht Mittel Methoden Elemente des Bildermachens und des Gedichtmachens gegeneinander auszutauschen und zu übertragen.
Der Maler und Zeichner Lucebert ist wie man sagt ein Figurenmaler. Er zeigt Figuren. Nicht spiegelbildliche oder reproduzierte Figuren sondern Figuren die allein für sich einstehen. Wenn man sie als Figuren des Nichtschönen bezeichnen wollte so bedeutete das nicht häßliche destruierte zerstückte Figuren sondern Figuren der Vieldeutigkeit aus Vieldeutigem zusammengesetzt Figuren etwa zwischen Schriftzeichen und Abbildern. Figuren auch der Zweideutigkeit zum Grund in dem sie stehen. Figuren der Mittel der Bildherstellung (aus Handschrift aus tropfender Farbe aus Gerinnungen usw. entstehende Figuren). Figurenwelt. Vergleichbar der Mosaikfigurenwelt des späten Dubuffet in der Grund und Figur dasselbe geworden sind.
Als Gedichtschreiber hat Lucebert Anklänge an die Tradition des Expressionismus wie an die des Surrealismus. Aber mit diesen Traditionen erfaßt man sein Gedicht nicht. Man erfaßt es auch nicht wenn man auf seine kritische anklagende ja apokalyptische Tendenz hinweist. Luceberts Gedicht versucht auf seine Weise über etwas zu reden das nur in dieser Rede noch vorhanden ist. Es versucht so zu reden nicht weil er positiv In Sprache etwas für sich begründen will sondern als ob: sozusagen etwas das es nicht mehr oder noch nicht gibt aufbewahrt oder erst hergestellt werden soll indem darüber im Gedicht geredet wird. Der Zusammenhang des Gedichts besteht in diesem versuchten Reden über etwas das es nicht mehr oder noch nicht gibt. Der Zusammenhang des Gedichts wird dadurch hergestellt daß die Sätze aus denen das Gedicht besteht sich isolieren. Sätze isoliert zeigen sich sozusagen selber vor. Über etwas reden im Gedicht heißt in diesem Fall auch immer schon den Versuch machen Sätze sozusagen sich selber vorzeigen zu lassen.
Wenn Lucebert malt und schreibt zugleich so tut er das nicht aus wie man sagt einer Wurzel heraus er tut es nicht aus einem Vorsatz heraus die doppelte Tätigkeit ist nicht im wie man sagt Existenziellen zu suchen. Sondern in den Gedichten wie in den Bildern Luceberts wird die Tendenz erkennbar Mittel Methoden Elemente des einen Machens auf die des anderen Machens zu übertragen sie auszutauschen sie zu neuen Typen zu variieren. Erst so wird verständlich was im Bild gezeigt und über was im Gedicht geredet wird.

7. Anlauf
Dies zu tun aber bedeutet sozusagen auf eigene Faust den Zirkel wieder zu schließen einen neuen Zirkel zu schließen den Zirkelschluß überhaupt erst zu erfinden der aufgebrochen war.
Dies zu tun bedeutet zu finden was es nicht mehr oder zu erfinden was es noch nicht gibt. Darin liegt das Risiko. Dieses Risiko schließt Fehlgehen Bitterkeit und Unartikulierbarkeit in sich ein. Dieses Risiko ist etwas das in das was das Bild zeigt oder in das worüber das Gedicht redet mit hineingenommen ist. Ja selbst zu etwas wird was das Bild zeigt oder worüber das Gedicht redet. Der Versuch den Lucebert unternommen hat und unternimmt geht jedenfalls gegen den Strom dessen was sich immer wieder leicht einläuft. Er widersteht dem sich leicht Einlaufenden. Auch dieser Widerstand ist etwas das in das was im Bild gezeigt wird oder in das worüber im Gedicht geredet wird eingegangen ist.

Helmut Heißenbüttel, Vorwort

 

Nachwort

In seiner Bildersprache, die nicht ans Wort gebunden ist, seinen Gemälden, Guaschen, Zeichnungen und Graphiken, hat Lucebert im letzten Jahrzehnt in allen wichtigen Kunstzentren von New York bis Paris starke Beachtung gefunden. Auch in namhaften deutschen Museen und Galerien konnte man seit 1963 einer Reihe repräsentativer Einzelausstellungen seiner Kunst begegnen. Seine Gemälde und Zeichnungen sind auch den Betrachtern in den anderen Ländern mühelos zugänglich. Doch sein dichterisches Schaffen, in der niederländischen Sprache geschrieben, läßt sich dem fremden Leser nur in Übersetzungen vermitteln.
Nach den dunklen Tagen des letzten Krieges kämpften einige junge holländische Maler und Dichter um einen neuen Beginn. In einem Manifest, das der Maler Constant im Jahre 1948 für die Experimentelle Gruppe verfaßt hat, hieß es:

Die Künstler sehen sich nach diesem Krieg einer Welt von Dekor und Scheinfassade gegenüber. An diese Welt können sie nicht mehr glauben und haben nichts mit ihr zu tun. Die einzige Lösung besteht darin, sich dieser Kulturrudimente zu entledigen… Ein Bild ist nicht ein Gefüge aus Farbe und Linien, sondern ein Tier, eine Nacht, ein Schrei, ein Mensch oder all dieses zusammen.

Noch im gleichen Jahre 1948 vereinigte sich die holländische Experimentelle Gruppe mit ähnlich gerichteten Kräften anderer Länder zur internationalen Bewegung „COBRA“ (Copenhagen, Brüssel, Amsterdam). Es waren Maler wie Karel Appel, Corneille, Constant, Alechinsky, Asger Jorn, deren künstlerisches Wirken heute international recht bekannt ist. Auch Lucebert wirkte an der großen „COBRA“-Ausstellung 1950 im Amsterdamer Stedelijk Museum mit. Die jungen Künstler begegneten anfänglich starker Ablehnung. Die „Unfugstifter“ von gestern – wie man sie im Beginn so gern nannte – haben inzwischen recht angesehene Namen gewonnen.
Schließlich bildeten Lucebert und seine Dichterfreunde (Remco Campert, Jan G. Elburg, Gerrit Kouwenaar und Bert Schierbeek) im Jahre 1950 die Gruppe: Die Fünfziger, die auf das holländische literarische Leben einen größeren Einfluß ausgeübt hat. Die Hybris der Technik, das Unbefriedigtsein in der Nachkriegswelt führten Lucebert und seine Freunde zum „Unbehagen in der Kultur“ und zum Versuch eines Neubeginns. Sie suchten der Ursprungsnähe des schöpferischen Wirkens nahezukommen: von der ersten Stunde an galt ihre besondere Neigung der Kunst der primitiven Völker wie der Kinderkunst. Wobei man erwähnen darf, daß sich die jungen Dichter dieser Gruppierungen recht eng mit ihren Malkollegen verbunden fühlten und daß recht verschiedene schriftstellernde Maler – wie auch umgekehrt – in Erscheinung traten.
Heute, in einer gewandelten Zeit, darf man konstatieren, daß sich die Auffassungen der wirklichen Talente unter den jungen Schaffenden dieser einstigen Gruppen kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Jeder von ihnen verfügt über seine eigene Weltsicht, hat seine eigene Form gefunden. Gemeinsam war ihnen nur dies: der Wille zum Versuch, die Frische des Sehens und Denkens zurückzugewinnen, dem verbrauchten dichterischen Wort wieder eine ursprünglichere Funktion zu verleihen, ganz wie Lucebert es zum Ausdruck gebracht hat:

Ich bin die Stimme die keine Stimme gibt
An alles was schon eine Stimme hat.

Dieser stürmische Wille zur Erneuerung hatte besondere Ursachen. Holland wurde erst im Jahre 1940, beim Ausbruch des Krieges, aus dem behäbigen Rhythmus der guten alten Friedenszeit gerissen. Sogar im benachbarten Belgien, das bereits die Schrecken des Ersten Weltkrieges erlebt hatte, lag es etwas anders. Paul van Ostaijen, der bedeutende flämische Avantgardist, der in niederländischer Sprache schrieb, lebte dazu seiner Zeit weit voraus und wurde in seinen Berliner Jahren um 1920 auch stark vom deutschen Expressionismus und mehr noch vom Dadaismus angeregt. In Holland gab es in jener Zeit auf avantgardistischem Gebiet nur wenige Bestrebungen, wie sie etwa in einzelnen Versbildungen von I.K. Bonset (Theo van Doesburg) und Antony Kok (veröffentlicht in der Zeitschrift De Stijl) zum Ausdruck kamen. Piet Mondriaan, der bahnbrechende Vorkämpfer, veröffentlichte seine Prinzipien der „reinen Wirklichkeit“ im Jahre 1925 bekanntlich in seiner Schrift Neue Gestaltung in der Serie der Bauhausbücher in Weimar.
Luceberts Gedichtbände begegneten anfänglich im eigenen Lande starker Ablehnung. Doch bald setzte die Zeit ein, in der seine Gedichtbände im kleinen Holland als Taschenbücher die Auflagen von je zehntausend Exemplaren erreichten. Was er mit den Augen des Malers entdeckt, dringt nicht nur in seine Bilder, doch auch in sein Wort, gibt seinen Versen die dunkle, langsame, schwere Bewegung. Luceberts Poesie gibt ein Sinnbild seines ganz eigenen legendarischen Raumbildes, seiner Weltlandschaft von „Finsternis und Licht“. Das strahlende, alles übertönende Licht dringt immer wieder – in vielen Bildern – aus seiner Dichtung hervor. So hat der 1924 geborene niederländische Dichtermaler, der unter dem Namen L.J. Swaanswijk in Amsterdam zur Welt kam, ein kennzeichnendes Pseudonym gewählt: Lucebert. Eine Wortprägung, die aus verschiedenen nord- und südeuropäischen Wörtern und Namen wie etwa lux – luce und Bert – Brecht – bright gebildet ist, eine Bildung aus verschiedenen Formen von Licht und Glanz – Lichterschein. Doch das Paradoxon seiner Weltsicht schält sich aus einem seiner frühen bekennenden Gedichte heraus:

In dieser Zeit hat was immer man nannte
Schönheit Schönheit ihr Gesicht verbrannt
Sie tröstet nicht mehr die Menschen
Sie tröstet die Larven die Reptile die Ratten
Aber den Menschen erschreckt sie
Und leiht ihm die Ahnung
Brotkrume nur zu sein auf dem Kleide des Universums.

Einflüsse des Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus machen sich bemerkbar. So kann man zuweilen auch etwa die Kennzeichen der „écriture automatique“, der assoziativen Aufnotierungsweise der Surrealisten, entdecken. Ein besonderes Kennzeichen seiner Verskunst ist sein diszipliniertes Spiel mit Wortprägungen, die einen doppelten oder zuweilen auch mehrfachen Sinn haben, ineinandergreifenden Laut-, Wort- und Satzbildungen. So vermag er seinen Antithesen, Paradoxien, Assoziationen ein einheitliches Gefüge zu geben. Als kennzeichnendes Beispiel darf man eine Zeile aus dem Gedicht „Kleines Lehrbuch des Positivismus“ nennen:

Und die wir wissen… was das ist
In Bolland wohnen.

Eine lustig anmutende Wortzusammenziehung, die auf Bolland, den holländischen Philosophen (1854 bis 1922) wie zugleich auf das Land der Bollen (Tulpenzwiebeln) hinweist.
Seine bildnerischen Darstellungen sind oft von grimmiger Schärfe, durchdrungen von Groteske und Ironie, unheimlich und bizarr. Manchmal reichen sie bis zur schonungslosen Bloßstellung der Fratzen des abstoßenden Zeitgewürms. Vieles ist in seinem konzentrierten Linienspiel mit sparsamen Mitteln einzig angedeutet und bedarf der Deutung des Betrachters. Lucebert weiß die Themen seiner expressiven Zeichensprache bis an jenen Punkt zu führen, wo Innen und Außen identisch werden.

Ludwig Kunz, Nachwort

 

GELEGENHEITSGEDICHT NR. 7
Indices für Lucebert April 1970

unzählige Bauarbeiter schreien von unzähligen Baugerüsten herab in unzähligen Baugruben hinunter und zu unzähligen Baukrähnen hinauf es ist ernst zwischen zwei aneinander vorbei fahrenden D-Zügen zwischen zwei Flugzeugen die unmittelbar nach dem Start an Höhe verlieren zwischen zwei Brückenbögen zwei Handbreit über Wasser szenische Rudimente zahllose alte Männer schreiben an zahllosen Orten mit zahllosen Zeigefingern zu spät in zahllosen Sand ich habe die Sprache in all ihrer Schönheit aufgesucht und daß sie nicht länger menschlich ist als das ohrenbetäubende Licht des Tages nichts zu sagen zu haben und das zu sagen und das Poesie zu nennen ich bin ein Schild aus Papier mein Leichnam liegt hinter dem Schild in dessen Schatten niemand

den Schatten mehr sehen kann niemand kann den Leichnam sehen Atem an Atem schlagen sie zusammen in diesen definitiven Zusammenhängen auf die definitiven Möglichkeiten definitiv aufmerksam zu machen und von diesen definitiven Möglichkeiten definitiv definitiven Gebrauch zu machen stattzufinden während einige alte Männer an einigen Orten mit einigen Zeigefingern zu spät in einigen Sand schreiben von Haarlem nach Zandvoort Sand in Zandvoort an Zee Flammen auf Fernsehschirmen in Farbe während ein einziges Kind einen einzigen Luftballon in einer einzigen Farbe in einen einzigen Himmel steigen läßt während das ganze mögliche Leben in einem einzigen möglichen Leben und das Problem der Abzehrung meines Ich sich nicht mehr ausschließlich unter seinem schmerzlichen Aspekt darstellt nichts zu sagen zu haben und das zu sagen und das Poesie zu nennen während unzählige Bauarbeiter von unzähligen Baugerüsten herab in unzählige Baugruben hinunter und zu unzähligen Baukrähnen hinauf schreien es ist ernst und ein einziges Kind einen einzigen Luftballon in einer einzigen Farbe in einen einzigen Himmel steigen läßt kein Schatten den ich nicht gezählt hätte sofern ich nur wahrnahm daß er sich um etwas drehte und oft bin ich durch das Zusammenzählen der Schatten bis zu schrecklichen Schlüssen gelangt it takes a worried man to sing a worried song man muß beunruhigt sein um beruhigende Gedanken zu haben in diesen verschiedenen Zusammenhängen auf die verschiedenen

Möglichkeiten verschieden aufmerksam zu machen und von diesen verschiedenen Möglichkeiten verschieden verschiedenen Gebrauch zu machen oder in diesen alternativen Zusammenhängen auf die alternativen Möglichkeiten alternativ aufmerksam zu machen und von diesen alternativen Möglichkeiten alternativ alternativen Gebrauch zu machen ich trachte poetischerweise will sagen einfachen leuchtenden Wassers den Raum des ganzen möglichen Lebens in einem einzigen Leben zum Ausdruck zu bringen während dreizehn Kinder dreizehn verschiedene Luftballons in dreizehn verschiedenen Farben an dreizehn verschiedenen Orten in ein und denselben Himmel steigen lassen und lauter einander ähnliche Mädchen mit lauter ähnlichem rotem Haar in lauter einander ähnlichen

Mänteln aus lauter ähnlichem blauem Stoff mit lauter einander ähnlichen goldenen Knöpfen auf lauter einander ähnlichen Straßen vor lauter einander ähnlichen Häusern unter lauter einander ähnlichen Bäumen in lauter ähnlichem Frühlingswetter umhergehen und ein einziger Tag an einem einzigen Tag ein einziger Abend an einem einzigen Himmel ein einziger Himmel an einem einzigen Horizont von Haarlem nach Zandvoort Sand in Zandvoort an Zee und unendliche Baumreihen gemischt mit unendlichen Radfahrern auf unendlichen Horizonten alle sind ganz rührend besorgt und das tut ganz gut um nicht ganz verdrießlich zu werden während Unmengen von Kindern Unmengen von Luftballons in ein und denselben Himmel steigen lassen

Helmut Heißenbüttel, Merkur, Heft 295, November 1972

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + IMDbPIA +
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Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachruf auf Lucebert: Tumba

 

Lucebert liest fünf seiner Gedichte.

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